Paul Lehmann
Szenenbildner
* 21. September 1923 in Berlin; † 31. Oktober 2022 in Potsdam
Biografie
Paul Lehmann arbeitet von 1956 bis 2002 als Szenenbildner, Ausstatter, Requisiteur und Autor im DEFA-Spielfilmstudio bzw. nach seiner Entlassung 1990 als freier Szenenbildner. Damit ist er mit 46 Arbeitsjahren der am längsten Tätige im künstlerischen Bereich des Szenenbildes, der Bauausführung bzw. der Ausstattung. Nach gründlichem Studium der literarischen Vorlagen antizipiert und visualisiert Paul Lehmann optische Konzepte bzw. Spielräume unter Berücksichtigung der Kamera und Regie für fast 60 Kino- und Fernsehfilme, davon einige Mehrteiler, im Atelier oder an Originalschauplätzen. Dabei „bedient“ Paul Lehmann alle Genres – ob Märchen-, Abenteuer- oder utopischer Film, Historien- oder Gegenwartsfilme. Nach seinen, ihn sein ganzes Arbeitsleben prägenden Theatererfahrungen in der Gefangenschaft, als Assistent bei Heinrich Kilger und ersten eigenen Bühnenbildern an verschiedenen Bühnen fiel ihm der Anfang beim Film nicht leicht: „Ich gebe zu, es dauerte seine Zeit, bis ich mich zurechtfand. So schnell verlässt man die Bühne nicht. Der Film blieb mir lange fremd, bis mir bewusst wurde, dass die Spielstätten keine gewöhnlichen Nachbildungen bewohnbarer Abmessungen zufälliger Räume sind...“ /1
Am 21. September 1923 in Berlin-Niederschönhausen als Sohn eines philosophisch belesenen Lohnbuchhalters und Kartoffelhändlers geboren, absolviert Paul Lehmann nach der Volkshochschule von 1938 bis 1941 eine Maschinenschlosserlehre. Parallel versucht er sich als Künstler, arbeitet mit Eisen oder Ton und ist erfolgloser Erfinder eines Ein-Mann-U-Bootes. In diese Zeit fällt auch seine wachsende Begeisterung für die Musik. So oft es ging, verfolgt er auf einem der billigen Stehplätze in der Staatsoper bekannte Opern wie „La Bohème“ oder „Carmen“. Bis zur Einberufung im Herbst 1941 arbeitet Paul Lehmann im Konstruktionsbüro seines Onkels Gerhard, während Onkel Kurt für ihn eine Zukunft im Theater vorsieht, für die Paul Lehmann Schauspielunterricht nimmt. Nach einer U-Bootausbildung dient Paul Lehmann bis Mai 1945 bei der Kriegsmarine und überlebt nur knapp. Das Kriegsende erlebt er in Kristiansand (Norwegen) und kommt in englischer Gefangenschaft nach Schottland, wo er sich einer Theatergruppe anschließt. Die Bühne, die Werkstätten und die Theaterarbeit dort werden für Paul Lehmann wegweisende Quelle für alle folgenden künstlerischen Arbeiten. Zunächst als jugendlicher Liebhaber besetzt, ist er später als Dekorationsbauer und Bühnengestalter tätig. Für „Familie Piefke macht Karriere“ baut er ein Bühnenbild, das gespickt mit Raffinessen (kippbares Küchenschrankoberteil, eine Küchenlampe, an der man schaukeln kann), den Slapstick-Charakter des Stücks unterstreicht.
Nach seiner Rückkehr studiert Paul Lehmann von 1947 bis 1949 an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Berlin-Weißensee Bühnenbild. Lehrer waren u.a. Arno Mohr und Horst Strempel (Malerei) sowie Gustav Seitz (Bildhauerei). Schon in dieser Zeit assistiert er bei seinem hochverehrten Lehrer Prof. Heinrich Kilger (Bühnenbild), so bei dem Sartre-Stück „Die Fliegen“ am Hebbel Theater, „Faust“ und „Mutter Courage“ am Deutschen Theater – alles legendäre Theaterereignisse der Nachkriegszeit. Vor allem die Proben mit Bertolt Brecht, Helene Weigel und Erich Engel machen einen nachhaltigen Eindruck auf Lehmann.
1949 will Paul Lehmann auf eigenen Füssen stehen und geht als Bühnenbildner nach Stralsund. Dort gestaltet er unter anderem die Bühnenbilder für „Clavagio“ und „Die ersten Schritte“. Bis 1956 folgen Stationen am Deutschen Theater und an den Stadttheatern in Weimar, Eisenach und Potsdam.
Im Sommer 1956 trifft Paul Lehmann auf Alfred Hirschmeier, der ihn für die DEFA anwirbt, wo Hirschmeier selbst seit 1953 im Stab Willy Schiller für große Produktionen wie ERNST THÄLMANN (1954) und ALARM IM ZIRKUS (1954) assistiert. Am 24. September 1956 wird Lehmann als Architekt und Kunstmaler eingestellt. Zunächst für ZWEI MÜTTER (1957), der in Johannisthal, wo die DEFA noch vier kleinere Ateliers hat, realisiert wird, dann bei VERGESST MIR MEINE TRAUDEL NICHT (1957). Nachdem er für Willy Schiller ein Modell für einen Berliner Hinterhof für den Film SIE NANNTEN IHN AMIGO (1958) entworfen hat, holt ihn Hirschmeier zur Vorbereitung der Produktion DIE SCHÖNSTE (1957-59) wieder an seine Seite. Dies wird der erste Film, für den Paul Lehmann gemeinsam mit Willi Schäfer die Bau-Ausführung nach den Entwürfen von Hirschmeier übernimmt. „Das Ding war von hinten bis vorne nobel.“ /2 Es entsteht eine mit allen Schikanen ausgestattete West-Berliner Millionärswohnung, zentral eine bildfüllende geschwungene Treppe, ein salonartiges Foyer und große, luxuriös ausgestattete Zimmer. Hier können die Gewerke (Tischler, Stuckateure, Filmplastiker, Putzer und Kunstmaler) ihr ganzes Können in die Waagschale werfen, denn alle erlesenen Materialien vom Fußboden bis an die Decke werden durch Kunststoffe ersetzt, alle Möbel in den Werkstätten gebaut. Der Film wird trotz Kürzungen, Schnitten und Neuaufnahmen durch Walter Beck bis in den Herbst 1958 dann im August 1961 final verboten. Unakzeptabel sind den Zensoren die fehlende klassenbewusste Gegenüberstellung des verlogen schillernden Lebens der Industriellen und der zu wenig proletarischen Arbeiterfamilie. Kein schöner Anfang für Paul Lehmann. Erst 2003 konnten beide Fassungen des Films, die ursprünglich gedrehte und die Schnittfassung, nach einer Rekonstruktion durch die DEFA-Stiftung der Öffentlichkeit gezeigt werden.
Ende der 1950er-Jahre trifft Paul Lehmann auf dem Studiogelände auf ihn überwältigende Dekorationen auf dem Freigelände: 100 Meter lang und vier Stockwerke hoch ist die französische Strasse, in der in Co-Produktion mit den Franzosen DIE HEXEN VON SALEM (1957) und DIE ELENDEN (1957-58) entstehen. Und er lernt die gestandenen Szenografen Otto Erdmann, Willy Schiller, Erich Zander, Rochus Gliese, Emil Hasler und Oskar Pietsch sowie den legendären Kunstmaler Willi Eplinius kennen. Gerhard Helwig und Alfred Hirschmeier hatten sich als Vertreter der nächsten Generation gerade durchgesetzt. Die enge Zusammenarbeit zwischen Regisseur, Kameramann, Szenenbildner und Kostümbildnerin war bei den „Jungen“ gesetzt. In ihrer Arbeit bezogen sie sich selbstbewusst auf das Stilgefühl aus den 1920er-Jahren und das viel beschworene Bauhütten-Prinzip./3
Am 9. Juni 1961 beginnt im Studio mit einer Veranstaltung im Künstlerklub „Die Möwe“ in Berlin ein jahrelanges Tauziehen um die berufliche wie finanzielle Wertschätzung der Szenenbildner und ihre Bedeutung für die Bildaussage, an der sich Lehmann aktiv beteiligt. Die neue Generation – dazu stoßen Dieter Adam, Heinz Röske, Jochen Keller, Jochen Hamann, Harry Leupold, Georg Kranz, Hans Poppe, Peter Wilde, Georg Wratsch – fordert eine adäquate künstlerische Anerkennung. Dazu ziehen sich jahrelange Querelen um die Einrichtung eines Szenografie-Studiengangs an der Filmhochschule in Babelsberg – ein Ausbildungsplan für Filmbildner lag schon 1961 vor –, der allerdings erst im Herbstsemester 1991 eingerichtet wird./4 Vordem unterrichten verschiedene Szenenbildner, vor allem Alfred Hirschmeier als Professor, aber auch Paul Lehmann als Honorardozent.
Ab dem 1. Januar 1958 ist Paul Lehmann als Szenenbildner bei der DEFA angestellt.
1959 wird in Co-Produktion mit Polen der erste utopische DEFA-Film DER SCHWEIGENDE STERN realisiert, der die Gefahr einer atomaren Bedrohung behandelt. Alfred Hirschmeier und Anatol Radzinowicz sind für das Szenenbild verantwortlich, die Bauausführung liegt in den Händen deutscher und polnischer Mitarbeiter. Fast viereinhalb Millionen DDR-Besucher sind von den ungewohnt stylischen wie raffinierten Raumschiff-Bauten und deren Innenausstattungen begeistert. Da im Motivarchiv der DEFA kaum Material zu finden ist, recherchiert Paul Lehmann in US-amerikanischen und französischen Quellen technisches Bildmaterial als Vorlage für den Kosmokrator, den Flugkörper. Um dem Bildformat „Totalvision“ gerecht zu werden, werden nach Modellvorlagen von Gisela Schultze um die Zentralrakete herum drei weitere ausladende, also in die Breite gehende Mittelkörper angebracht, die die Stabilität erhöhen. Für den Film übernimmt Paul Lehmann auch die Entwürfe für die technischen Details der Raumanzüge. In einer Pause, bedingt durch Drehbuchüberarbeitungen, unterstützt Paul Lehmann als zweiter Architekt Erich Zander bei der Realisierung des Szenenbildes von WARE FÜR KATALONIEN (1958/59). Für EIN SOMMERTAG MACHT KEINE LIEBE (1960), eine Geschichte junger Liebender zwischen Hiddensee und Stralsund-Werft, kann Lehmann mit dem Altmeister Oskar Pietsch zusammenarbeiten. Turbulenzen ergeben sich, als der Regisseur Herbert Ballmann aus einer Drehpause nicht zurückkehrt, da er die DDR verlassen hat; Gerhard Klein übernimmt. Immer noch zweifelt Lehmann an seiner Begabung für den Film, zumal seine Erfahrungen vom Theater wenig brauchbar sind. Die Suche nach einer eigenen Handschrift bleibt.
Parallel zum Kinderfilm DIE IGELFREUNDSCHAFT (1961), beginnen die Vorbereitungen für den, auch in der DDR populären sowjetischen Regisseur Gerassimow. Sein neuer Spielfilm LJUDI I SWERI (MENSCHEN UND TIERE, 1961/62) um einen sowjetischen Offizier, der nach deutscher Gefangenschaft wieder in die Heimat zurückkehren will, spielt in Hamburg. Für eine Szene, die einen Hinterhof einer Reeperbahn-Bar ersetzt, sucht und findet Paul Lehmann Innen- und Außenmotive in Leipzig. Spielort für den versuchten Suizid des Offiziers wird die Rückseite einer Restaurantküche mit flaschenzugähnlichem Galgen für die Müllabfuhr. Eine von Gerassimow geschenkte Kopeke behält Lehmann sein Leben lang.
Der Mauerbau 1961 bedeutet für Paul Lehmann und alle Kollegen nicht nur Verunsicherung und Trennungen von Verwandten, Freunden und Arbeitskollegen, sondern auch riesige Umwege und die Verpflichtung zur Mitgliedschaft in den Kampfgruppen. Aber das Studio bleibt Heimat und bietet Sicherheit.
Der Kalte Krieg nach dem Mauerbau prägt die Totalvision-Produktion von ALASKAFÜCHSE (1964), der die Ausspionage von sowjetischen U-Boot-Standpunkten in Alaska durch die US-Air-Force schildert. Extrem herausfordernd sind die zu realisierenden Bauten: In der Hohen Tatra bauen die Handwerker im Dezember und Januar bei Minusgraden das US-amerikanische Camp, auf einem Flugplatz bei Leipzig eine Eislandschaft aus Stuck, Paraffin und Salz mit einer US-amerikanischen Flugzeugattrappe.
Zwischen 1965 und 1967 verantwortet Paul Lehmann für die ersten drei der insgesamt zwölf – historisch authentisch angelegte und beim Publikum beliebten – Indianerfilme der DDR die Bauten. Gleich der erste, DIE SÖHNE DER GROSSEN BÄRIN (1965) nach einer Erzählung von Liselotte Welskopf-Henrich, führt Paul Lehmann auf Motivsuche nach Jugoslawien. Partner der DEFA wird die Bosna-Film aus Sarajewo, gedreht zwischen Mostar und der Hochebene von Trebinje. In Belgrad stößt der künftige „Chefindianer der DEFA“ Gojko Mitić zum Team. Für CHINGACHGOOK – DIE GROSSE SCHLANGE (1967) findet Paul Lehmann die Außen-Schauplätze in der Hohen Tatra. Produktionsleiter Hans Mahlich ermöglicht eine Recherche im Völkerkundemuseum Dahlem, um das dort ausgestellte Birkenrinden-Kanu zu studieren. Ein Kanu wird aus Polyester in den Werkstätten des Studios gebaut. Für Paul Lehmann ist es die erste Reise nach West-Berlin nach dem Mauerbau. Wichtigste Dekoration wird die Wasserburg mit der schwimmenden Arche, die auf einem der Bergseen verankert wird und Spielort zentraler Szenen ist. Sie wird auch im Ateliernachbau genutzt, wobei Prospekte den Ausblick auf die Berge visualisieren. Wie bei allen Indianerfilmen werden Westerndörfer, Forts, Saloons, Tipis, Hütten aus Stroh und Weiden, auch Wald-Dekorationen in Außendekorationen bzw. im Atelier gebaut. Die Anmutung der Innendekorationen folgt den Außenschauplätzen. Ein Großteil der Szenen spielt in den Bergen, Tälern und Flüssen – atemberaubende Landschaften, aufgenommen in Totalvision in Jugoslawien, Bulgarien oder Georgien – die zur Anziehungskraft der Indianerfilme bei den Zuschauern enorm beitragen. Heinz Röske ist für Paul Lehmann wichtigster Partner auch bei dem dritten Film SPUR DES FALKEN (1968) und für die Bauausführung verantwortlich. Beide verbindet eine gemeinsame Kunstanschauung und sie bleiben lebenslang sich schätzende Kollegen und Freunde. Bei den folgenden Indianerfilmen verantwortet Röske das Szenenbild.
Spätestens nach diesen Filmarbeiten ist Paul Lehmann angekommen. Er gilt als anerkannter Szenenbildner mit besten Kontakten zu den Kollegen und den Werkstätten.
1970 übernimmt Paul Lehmann nach dem Tod seines Lehrers Heinrich Kilger, dem langjährigen Assistenten von Walter Felsenstein, die Umsetzung des Bühnenraums für die Opernverfilmungen HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN (1970) und RITTER BLAUBART (1972): Offenbachs turbulenter Oper nach einer Inszenierung von Felsenstein an der Komischen Oper entsteht im Auftrag des DDR-Fernsehens in den Ateliers des DEFA-Spielfilm Studios. Paul Lehmann entwirft unter Verwendung von Elementen der Bühnenausstattung von Wilfried Werz das Bühnenbild. Alle Szenen müssen für die Filmversion neugestaltet werden, so auch die Szenenbilder neben den Kostümen, den Masken und die Choreografie. Inspiriert von Reproduktionen der Pariser Weltausstellung 1889, Skizzen und Interieurs zeitgenössischer Maler sowie einer Reproduktion eines Weltausstellungs-Karussells entwirft Paul Lehmann den Blaubart-Hintergrund. Sein künstlerisch handwerkliches Geschick, seine Neigung zum Modellieren fließt in die Produktion von etlichen Reliefs aus Ton und Gips, die er für die engsten Mitarbeiter als Erinnerung an die gemeinsame Arbeit selbst gestaltet.
Mit der Verfilmung von HAPPY END (1977), einem Songspiel in drei Akten von Elisabeth Hauptmann, Kurt Weil und Bertolt Brecht von 1929 – angesiedelt in der Unterwelt Chicagos – kann Paul Lehmann nach fast 30 Jahren an seine Theatervergangenheit mit Brecht und Kilger anknüpfen und wieder in die brechtsche Gedankenwelt eintauchen. Ausgerüstet mit einem DDR-Bildband über New York überzeugt er den Brecht-Schüler und Regisseur Manfred Wekwerth, die Auftragsproduktion des DDR-Fernsehens im Atelier zu drehen. So entstehen im größten Filmatelier, der Mittelhalle, nach seinen Entwürfen riesige Dekorationen mit Straßen, Häuserzeilen und Prospekten.
Zwischen 1980 und 1987 realisiert Paul Lehmann die optischen Konzepte für vier Märchenfilme mit vorwiegend irrealen Räumen. Da sie neben den Indianerfilmen zu den erfolgreichsten Genres gehören, werden sie immer wieder vom Progress-Filmverleih angefragt. DER SPIEGEL DES GROSSEN MAGUS (1980) erzählt die Geschichte um einen grausamen Herrscher, der unbeugsame Menschen in Tiere verwandelt und einsperrt, bis er im Verlaufe der Handlung von Elias, dem Schäfer, besiegt wird. Paul Lehmann entwirft dafür mit Feder und Aquarell die Räumlichkeiten einer mittelalterlichen Burg, die der Regisseur Dieter Scharfenberg in der Slowakei gefunden hat und so für Lehmann Vorgabe für seine Entwurfsarbeit wird. Es sind düstere und unwirtliche Räume ohne Orientierung mit Fensterhöhlen, Pfeilern, Säulen, Rundbögen und Treppen, ausgestattet mit klobigen Möbeln und schweren Truhen sowie eisenbeschlagenen Holztüren – alles spärlich erhellt durch rußende Kerzen und einige farbliche Plastikverzierungen. Nur wenige Farbreste an den Wänden verweisen auf bessere Zeiten. Einzig der Spiegel des großen Magus, mit dem dieser an alle gewünschten Orte blicken kann, ist ein Glitzerwerk aus tausenden Glassteinen. Besondere Aufmerksamkeit widmet Lehmann dem Innenhof, für den er verschiedenartige Gitterkäfige entwirft, in denen die Tiere eingesperrt kauern. Dabei verbinden sich fantasievoll abgestorbene Bäume, Steinmauern und Säulen mit käfigartigen Aufsätzen. Die Dekorationen in all ihrer Düsternis erzeugen aber auch Ängste bei den kleinen Zuschauern, ein Umstand den Paul Lehmann selbstkritisch einschätzt, es fehlt „die befreiende Wirkung des Lachens.“ /6 Für DIE VERTAUSCHTE KÖNIGIN (1983) entstehen nach seinen teils farbigen Entwürfen im Studio große Dekorationen wie aus Tausendundeiner Nacht. Das Schloss wird durch ein Vorsatzmodell in die dahinterliegende Szene eingepasst. Für den erfolgreichen Kinder- und Märchenfilmregisseur Walter Beck entwirft Paul Lehmann für DER BÄRENHÄUTER (1985), der nach einem verheerenden Krieg spielt, Heerlager, versehrte Landschaften, eine mittelalterliche Stadt. Die Stadt-Dekoration wird gestaffelt im Atelier mit einem Prospekt zum Abschluss gebaut. Für den Film entstehen zumeist abstrakte Dekorationen wie Theaterkulissen mit gemalten Prospekten als Horizontabschluss, die sich mit ihrer Künstlichkeit vom bevorzugten Realismus absetzen. Einige farbige Entwürfe von Bauern in Innenräumen lassen den Einfluss durch den flämischen Maler Pieter Bruegel der Ältere erkennen. Für seinen letzten Märchenfilm DER EISENHANS (1987), abermals nach den Gebrüdern Grimm, beteiligt sich Paul Lehmann neben Karl Heinz Lotz und Michael Göthe auch am Drehbuch, das sich aktualisierend auf die Wiedererlangung der Eintracht zwischen Mensch und Natur und sozialer Ungerechtigkeit fokussiert. Zwischen zwei Burgen bzw. verfeindeten Königreichen befindet sich das Reich des Eisenhans, einem mächtigen Naturgeist, der den Wald und die Bewohner beschützt. Dafür konzipiert Lehmann Entwürfe in Collagetechnik, das heißt Figuren und bauliche Erweiterungen werden auf Schwarz-Weiß-Motivfotos eingezeichnet. Große Bildkraft entfalten die Bleistift-Entwürfe für die optischen Verwandlungen des Eisenhans und für den urwüchsigen Wald. Den Goldbrunnen, aus dem der Geist seine Kraft zieht, realisiert Lehmann in aufwendiger Collagetechnik.
Die Arbeit für DEIN UNBEKANNTER BRUDER (1981) von Ulrich Weiß wird für Paul Lehmann die wohl künstlerisch herausforderndste und gleichzeitig beglückendste. Der Film behandelt den Verrat innerhalb einer kommunistischen Gruppe in der Zeit des Faschismus und das Thema der Verführbarkeit. Für über 30 sehr unterschiedliche Spielorte entwirft Lehmann mit Bleistift, Feder und Tusche grafische wie malerische Studien und Schauplätze, die die alptraumartige und bedrohliche Stimmung des Films optisch umsetzen. Herausforderung ist, Ulrich Weiß‘ künstlerischen Ansatz der „Dominanz des Sehens“, die „Entdeckung, was … mit der klugen Kamera sinnlich herzustellen ist“ /7 bildhaft vorzudenken und in enger Zusammenarbeit mit dem Kameramann Claus Neumann umzusetzen. Weiß will sich damit ganz bewusst vom Erzählkino absetzen, auch durch den Einsatz von Metaphern. Mit Paul Lehmann hat der Regisseur einen inzwischen erfahrenen wie professionellen Szenenbildner, der dieses Konzept teilt, an der Seite. Beispielhaft stehen für das visuelle Konzept – nach dem Drehbuchauszug erste Stimmungs- und Phasenskizzen, teilweise in Kombination von Fotografie und Malerei, bis zum optischen Drehbuch – die Entwürfe des mit Tisch, Stuhl und Chaiselonge nur karg ausgestatteten Zimmers als letzten Zufluchtsort, in dem der Kommunist Arnold seinen wachsenden Ängsten und Zweifeln ausgesetzt ist. Grün getünchte Wände und geschlossene Vorhänge erinnern durch die Lichtsetzung an Gitterstäbe, die den schon einmal Verhafteten bedrängen. Für das erste Drehbuchbild findet Paul Lehmann im kleinen Dresdner Hafengelände zwei nebeneinanderliegende Brücken, die die Kamerafahrten der Flucht und Verhaftung in ihrer ganzen Bedrohlichkeit abbilden. Auch hier bedient sich Lehmann der Collagentechnik, indem er auf einem Motivfoto die Figuren einzeichnet und so die Stimmung der Szene vorgibt. Entwürfe für das Verhör und das Gefängnis – gedreht im Atelier Ton Nord – liegen als Federzeichnungen vor, die eindrücklich die Verlassenheit und das Ausgeliefertsein des Protagonisten unterstützen. Schließlich die Schlussszene, in der der Verräter von seinen Genossen zur Rede gestellt wird. Eine Hütte voller Fischernetze ist Bild für die Verstrickungen jedes Einzelnen und die Vorahnung auf Kommendes. Für Ausstellungen und Hochschullehre stellt Paul Lehmann immer wieder auch großformatige Tafeln zusammen.
Gleich im Anschluss entwirft Paul Lehmann die Schauplätze für den Fernsehfilm DER MANN VON DER CAP ARCONA (1981), der am Ende des Zweiten Weltkrieges spielt und die Leidensgeschichte von 4.000 Häftlingen schildert, die nach ihrer Evakuierung aus dem KZ Neuengamme auf das Schiff Cap Arcona verbracht werden, das am 3. Mai 1945 von britischen Flugzeugen zerstört wird. Lehmann findet verstörende Bilder, die farblich sehr sparsam aber umso eindringlicher das Schicksal der Gefangenen und Sterbenden festhalten und damit die Bildaussage des Films vorwegnehmen.
Paul Lehmann realisiert im Laufe seines Arbeitslebens noch etliche große Fernsehmehrteiler wie KRAUSE UND KRUPP bzw. KRUPP UND KRAUSE (1968/69), Anfang der 1970er-Jahre die humoristisch-satirische „t.b. (Tobis Bremser)“-Kurzspielfilm-Serie, eine Art „Stacheltier“-Nachfolge oder den Fernseh-Vierteiler EVA UND ADAM, der sich vier starken Frauengeschichten widmet. Vier Jahre (1976-1979) verantwortet er die Bauten für eine Vielzahl von Schauplätzen für den „Straßenfeger“ DAS UNSICHTBARE VISIER.
Ab Mitte der 1980er-Jahre sind es mehr Gegenwartsstoffe [ETE UND ALI (1984), DIE ALLEINSEGLERIN (1987), GRÜNE HOCHZEIT (1988)], für die Paul Lehmann das Szenenbild konzipiert, für die zwar Motivfotos aber keine Entwürfe vorliegen. Einzig für DER TRAUM VOM ELCH (1986) ist ein Entwurf der Berghütte im Isergebirge überliefert.
Heiter sind die Entwürfe für den Zeichentrickfilm VOM HÄHNCHEN UND DEN ROTEN KIRSCHEN (1976, ein Fernsehbilderbuch aus den Abendgrüßen), eine von zahlreichen Zuarbeiten für seinen langjährigen Freund und Babelsberger Nachbarn, den profilierten Trickfilmer Peter Blümel. Der Film wird mit dem Goldenen Lorbeer des DDR-Fernsehens ausgezeichnet.
Zum 1. Oktober 1990 wird Paul Lehmann wie viele seiner Kollegen im Zuge der Privatisierung des Studios entlassen. Eine seiner ersten Arbeiten nach der Entlassung ist ein Konzept für Besuchergruppen, die durch die Filmstadt geführt werden sollen. Hier schlägt er, inspiriert durch seine Filmarbeiten, fantasievolle Ergänzungen, wie den Bau eines Gebirgsgeländes mit eingespiegelten Wildtieren, die Inszenierung eines Wild-West-Überfalls, Trickdarstellungen und einen gläsernen Ausstellungspavillon vor.
Zwischen 1992 und 2002 arbeitet Paul Lehmann als freier Szenenbildner und Ausstatter für Andreas Kleinert (VERLORENE LANDSCHAFT, 1992), Frank Beyer (DAS LETZTE U-BOOT, 1992), Michael Gwisdek (ABSCHIED VON AGNES, 1993), Andreas Höntsch (DIE VERGEBUNG, 1994) und Thomas Frick (PLANET B: DETECTIVE LOVELORN, 2000). Kleinert, Höntsch und Frick sind noch junge Absolventen der Filmhochschule, denen er mit großer Unvoreingenommenheit, Neugierde und Offenheit entgegentritt. Für alle Filme sind im Nachlass keine Entwürfe überliefert. Vermutlich konzentriert sich die Arbeit eher auf die Motivsuche und die Ausstattung der Außendekorationen wie bei DIE VERGEBEUNG, der zum Großteil auf einer Waldwiese nahe Lubmin gedreht wird. Auch für ABSCHIED VON AGNES, der zweiten Regiearbeit von Michael Gwisdek, sind keine Entwürfe überliefert. Für den zentralen Wohnungskomplex werden riesige Dekorationen in den Althoff-Studios gebaut, Außenaufnahmen finden in Berlin und Potsdam statt. Paul Lehmann hat, wie andere Teammitarbeiter, einen kleinen Auftritt.
Paul Lehmann ist viele Berufsjahre in der Gewerkschaftsgruppe der Filmszenenbildner aktiv. Seine langjährigen Erfahrungen sind außerdem hilfreich bei der Suche nach jungen Talenten und deren Ausbildung sowie fachlicher Begleitung. So betätigt er sich immer wieder als Gutachter für Diplomarbeiten von Absolventen des Fachbereiches Szenografie der Filmhochschule. Seit 1977 ist Paul Lehmann Mitglied im Verband der Bildenden Künstler der DDR und wird zweimal mit dem Ehrentitel „Aktivist der sozialistischen Arbeit“ sowie mit der Erich-Weinert-Medaille und dem Kunstpreis der FDJ für ETE UND ALI ausgezeichnet.
Paul Lehmann ist zweimal verheiratet und hat zwei Kinder. Er stirbt am 31. Oktober 2022 im Alter von 99 Jahren in Potsdam.
Verfasst von Dorett Molitor. (Mai 2023)
Der Text entstand unter Verwendung der Sammlung Paul Lehmann, die sich im Filmmuseum Potsdam befindet sowie der Autobiografie von Paul Lehmann, aus der auch Abbildungen für diesen Text entnommen wurden.
Fußnoten
- Vortrag Paul Lehmann zur Projektwoche Szenografie, Symposium KÜNSTLERISCHE HANDSCHRIFTEN, o. D. Sammlung Filmmuseum Potsdam, Bestand Paul Lehmann, N029
- Paul Lehmann in der Dokumentation: Die Schönste - Rückblick und Restaurierung der DVD-Edition DIE SCHÖNSTE, 2003
- Werkstattverbände, die sich während des katholischen Kathedralenbaus in Europa bilden und unterschiedlichste Handwerke umfassen.
- Vgl.: Dorett Molitor: Der schwierige Weg: Ein Ausbildungsplan für Filmbildner von 1961. In: Alles nur Kulisse?! Filmräume aus der Traumfabrik Babelsberg, Hg. Annette Dorgerloh, Marcus Becker, Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, Weimar 2015
- Indianer war ein zur Produktionszeit umgangssprachlicher Sammelbegriff für indigene Bevölkerungsgruppen Nordamerikas wie den Dakota oder Delawaren.
- Filmspiegel 3/1989 Ein Haus ist nicht ein Haus, Paul Lehmann, Szenenbildner im DEFA-Studio für Spielfilme.
- Ulrich Weiß im Zeitzeugengespräch mit Elke Schieber, Sommer 1992, Sammlung Filmmuseum Potsdam.
DEFA-Filmografie
- Maibowle (1959) - Szenenbild | Regie: Günter Reisch
- Silvesterpunsch (1960) - Szenenbild | Regie: Günter Reisch
- Ein Sommertag macht keine Liebe (1960) - Szenenbild | Regie: Herbert Ballmann, Gerhard Klein
- Die Igelfreundschaft; Uprchlik (1961) - Szenenbild | Regie: Herrmann Zschoche
- Der Traum des Hauptmann Loy (1961) - Szenenbild | Regie: Kurt Maetzig
- Ljudi i sweri / Menschen und Tiere (1962) - Szenenbild | Regie: Sergej Appolinarijewitsch Gerassimow
- Das Film-Magazin Nr. 4, Teil 2 - Lea aus dem Süden (1963) - Szenenbild | Regie: Gottfried Kolditz
- Sonntagsfahrer (1963) - Szenenbild | Regie: Gerhard Klein
- Alaskafüchse (1964) - Szenenbild | Regie: Werner Wolfgang Wallroth
- Eine schreckliche Frau (1965) - Szenenbild | Regie: Jindřich Polák
- Die Söhne der großen Bärin (1965) - Szenenbild | Regie: Josef Mach
- Chingachgook - Die große Schlange (1967) - Szenenbild | Regie: Richard Groschopp
- Heroin (1967) - Szenenbild | Regie: Heinz Thiel, Horst E. Brandt
- Spur des Falken (1968) - Szenenbild | Regie: Gottfried Kolditz
- Meine Stunde Null (1970) - Szenenbild | Regie: Joachim Hasler
- t. b. und die Autos Serie: Abseits; Folge 01. (1971) - Szenenbild | Regie: Joachim Hellwig, Heinz Thiel
- t. b. und die Frauen Serie: Abseits; Folge 03. (1971) - Szenenbild | Regie: Heinz Thiel
- t. b. und seine Tochter Serie: Abseits; Folge 02. (1971) - Szenenbild | Regie: Heinz Thiel
- Liebe 2002 (1972) - Szenenbild | Regie: Joachim Hellwig
- t. b. als Fremdenführer Serie: Abseits; Folge 06. (1972) - Szenenbild | Regie: Heinz Thiel
- t. b. auf Dienstreise Serie: Abseits; Folge 04. (1972) - Szenenbild | Regie: Heinz Thiel
- t. b. und seine Leute Serie: Abseits; Folge 05. (1972) - Szenenbild | Regie: Heinz Thiel
- Zwischen Nacht und Tag (1975) - Szenenbild | Regie: Horst E. Brandt
- Das Glück in den Schuhen - Fussballnotizen aus Ragösen (1978) - Person, primär | Regie: Rainer Ackermann
- Der Spiegel des großen Magus (1980) - Szenenbild | Regie: Dieter Scharfenberg
- Dein unbekannter Bruder (1981) - Szenenbild | Regie: Ulrich Weiß
- Automärchen (1983) - Szenenbild | Regie: Erwin Stranka
- Die vertauschte Königin (1983) - Szenenbild | Regie: Dieter Scharfenberg
- Ete und Ali (1984) - Szenenbild | Regie: Peter Kahane
- Der Bärenhäuter (1985) - Szenenbild | Regie: Walter Beck
- Der Traum vom Elch (1986) - Szenenbild | Regie: Siegfried Kühn
- Die Alleinseglerin (1987) - Szenenbild | Regie: Herrmann Zschoche
- Der Eisenhans (1987) - Drehbuch, Szenenbild | Regie: Karl Heinz Lotz
- Grüne Hochzeit (1988) - Szenenbild | Regie: Herrmann Zschoche
- Lasst mich doch eine Taube sein (1989) - Szenenbild | Regie: Miomir Stamenkovic
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