Vom Wollen, Können, Dürfen und Müssen.
Winfried Junges Langzeitstudie 'Die Chronik der Kinder von Golzow'
von Roland Rust
"In Erdkunde - da lernt man, wo sein Heimatort liegt. Der liegt im Kreis Seelow, im Bezirk Frankfurt (Oder), in der DDR." (Winfried, "Elf Jahre alt", 1966)
Die Rede ist von Golzow, einem kleinen Dorf im Oderbruch, nahe der polnischen Grenze. Ein Ort wie jeder andere, den die außergewöhnliche filmische Langzeitstudie "Die Chronik der Kinder von Golzow" mit mittlerweile drei Jahrzehnten Produktionszeit in das Guinness-Buch der Rekorde brachte. Winfried - inzwischen Mitte Dreißig und wie alle Golzower "geborener und gelernter DDR-Bürger" - wird die politische Topographie seiner Heimat indes neu orten müssen. Nicht anders der Dokumentarist Winfried Junge, der bis in die 80er Jahre die sozialistische Schulbildung seines Namensvetters stolz und siegesgewiß vorzeigte. Wozu es - nach Junges Ansicht - "so mancher westliche Politiker damals noch nicht zu bringen schien", ist heute Historie. Mit einem Schlag wurde die "Geschichte der Kinder von Golzow" zu einer Reportage aus einem real nicht mehr existierenden Land. Bei Dreharbeiten im Ausland ("Diese Briten, diese Deutschen", 1987/88; einer von vielen - vergeblichen - Versuchen, sich auch außerhalb der Golzow-Serie zu profilieren) stieß Junge auf ein ähnlich geartetes Langzeitprojekt des britischen Fernsehens. Junges an die westlichen Kollegen adressierte Vorhaltungen, sie dokumentierten "nicht gesellschaftliches Fortschreiten, sondern Stagnation, die Reproduktion überlebter Verhältnisse", beschreiben - wenngleich spiegelverkehrt - exakt die ideologisch verzerrten Prämissen und die darauf zwangsläufig folgenden verheerenden Konsequenzen seiner eigenen Arbeit.
Nach seiner Überzeugung sind "die" Golzower stets repräsentativ, die personifizierte Geschichte der DDR, die sie "darstellen": "Wir haben es gut getroffen mit den Golzowern. Sie entwickelten ihre LPG zu einer der besten im Bezirk Frankfurt (Oder), und dieser Aufstieg spiegelt sich so oder so auch in Lebensläufen... An jedem Ort unseres Landes hätte sich unsere Ausdauer wohl ebenso gelohnt, denn es ist überall vorwärtsgegangen." Kurze Zeit darauf war es mit LPG, Bezirk und dem ganzen Land zu Ende. Bis zum Schluß sah sich Junge als Chronist einer Gesellschaft, die eine Generation "nach ihrem Bilde" formen wollte. Ein Unterfangen, an dessen Degeneration er auf seine Weise teilhatte. Die Kinder von Golzow sind - in doppeltem Sinne - (auch) sein Werk. Nicht zu Unrecht gilt Winfried Junge als "typischer" DDR-Dokumentarist. 1935 in Berlin geboren, gehört er nach abgebrochenem Pädagogik-Studium zu den ersten Studenten an der neugegründeten Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg. Mit einer Arbeit über "Einige Probleme der Gestaltung des neuen Helden im DEFA-Dokumentarfilm mit industrieller Thematik" macht er 1958 das Diplom als Dramaturg. Zwei Jahre später wechselt er mit dem Dokumentarfilmer Karl Gass, dem er mehrfach assistierte, an das DEFA-Studio für Wochenschau und Dokumentarfilm. Gass ist es schließlich, der den jüngeren Kollegen zu seinem Regie-Debüt anregt: einer Beobachtungsstudie über den Übergang vom Kindergarten ins erste Schuljahr. "Wenn ich erst zur Schule geh..." (1961) gibt - zunächst unbeabsichtigt - den Anstoß zu einer inzwischen über Jahrzehnte reichenden (und noch nicht abgeschlossenen) filmischen Langzeitbeobachtung, der sogenannten "Chronik der Kinder von Golzow" (bisher insgesamt neun selbständige Teile).
Eine "unendliche Geschichte"?
In Abständen von ein bis fünf Jahren entstehen sechs Kurz-Dokumentarfilme (zwischen 15 und 35 Minuten Länge), die den Lebensweg der Golzower etappenweise am Ende des ersten Schuljahres, in Kindheit und Jugendzeit, Prüfung und Klassentreffen verfolgen. Zwei abendfüllende Filme fassen das in zwei Jahrzehnten gesammelte Material chronikartig zusammen. Diese Bemühungen gipfeln in dem knapp 4 l/2stündigen Werk "Lebensläufe" (1980/81), einem Generationsroman, zu dem das Leben das Drehbuch schrieb, eine Dorfchronik, die zur Chronik eines Landes wurde. Eine "unendliche Geschichte" mit unabsehbaren Folgen. Angefangen hatte alles 1961 - und es fehlte nicht viel, und die "Weltgeschichte" hätte den gerade 26jährigen um seinen ersten Film im weltabgeschiedenen Golzow gebracht. Der für Mitte August angesetzte Drehtermin mußte dem Bau der Berliner Mauer weichen, zu dem der Kameramann Hans Dumke, ein Genosse, abberufen wurde. Die Geschichte beginnt, beziehungsreich, im Buddelkasten eines Kindergartens, in dem Junge später gern die "Baustätte DDR" vorgeprägt sieht - die sich im nachhinein als Sandkasten herausstellte. Leuchtende Kinderaugen im flirrenden Sonnenschein. Fröhliche Knirpse, die eine glückliche Zukunft vor sich haben. "Wenn ich erst zur Schule geh..." (1961) zeigt munter drauflosredende Schulanfänger - im Originalton, seinerzeit eine Novität -, der Kommentar allerdings will in ihnen schon die künftigen "Bürger der Deutschen Demokratischen Republik" sehen. Ein Jahr daraufist man wieder vor Ort, diesmal mit dem Kamera-Debütanten Hans-Eberhard Leupold (Jahrgang 1937), der fortan fest zum Team gehören wird. "Nach einem Jahr. Beobachtungen in einer ersten Klasse" (1962) sind aus den ABC-Schützen bereits Jungpioniere geworden, und der Ernst des Lebens nimmt unaufhaltsam seinen Lauf. Die Jüngsten Bürger eines Staates, der noch von sich reden machen wird", machen "Fortschritte", wie es heißt. Daneben geht es frohgemut im Gänsemarsch durch Wald und Flur der schönen sozialistischen Heimat. "Elf Jahre alt" (1966) bringt den endgültigen Durchbruch und sichert nach dem Erfolg auf dem Dokumentarfilm-Festival in Leipzig ("Silberne Taube") die Weiterarbeit am Projekt. Zum ersten (und letzten) Mal nehmen die Kinder - nunmehr Schüler der 5. Klasse - das Mikrophon selbst in die Hand und reden offen über das, was sie bewegt. Alles scheint möglich in einer Welt, die sich (noch) derart grundsätzlich in Frage stellen läßt. Ein Hauch von Frühling kommt ins Land, das Eis bricht, alles ist im Fluß - und gern beherrschte man wie Prometheus die Welt. Die Kamera schwingt in das heitere Firmament, wie Träume, die in den Himmel wachsen. Die Chronik hat damit ihren frühen Höhepunkt erreicht. Von da ab ging es abrupt abwärts.
Bilder "in die Zange genommen"
In "Wenn man vierzehn ist" (1969) werden die Golzower zu hilflosen Statisten in einem propagandistischen Bilderbuch. Ein dirigistischer Text nimmt die Bilder in die Zange, weiß nichts von Brüchen und Widersprüchen, agitiert statt zu argumentieren. Der Film muß sich gefallen lassen, wovon er (indirekt) zeugt: wie sich Staat und Partei überall einmischen. Freilich wird auch klar, in welchem Maße die Filmemacher über die am Ende der Ulbricht-Ära gewiß gebotenen Zugeständnisse hinausgingen und sich darauf einließen, das einmal in Angriff genommene Projekt buchstäblich um jeden Preis und unter allen Umständen fortzuführen. So muß man mit ansehen, wie die "Hausherren von morgen" mit dem Segen der sozialistischen Jugendweihe zum 20. Jahrestag "ihrer" Republik Aufnahme in der "Gemeinschaft des werktätigen Volkes" finden.
Überreste von Aufmüpfigkeit wie Beatmusik und Pilzkopffrisur bügelt ein autoritärer Kommentar linientreu glatt. Brav pilgern die jungen Staatsbürger in Reih und Glied zum Lokaltermin (teil-)nationaler Identität in Konzentrationslager, Klassikerstätten und volkseigene Kombinate. Wer nicht ins lupenreine Ideal-Bild paßte - wie beispielsweise Willi, der Sitzenbleiber -, blieb außen vor. "Die Prüfung" (1971) konzentriert sich ganz auf eine Situation, die Abschlußprüfung der 10. Klasse. Die Golzower, "ins Leben" entlassen, wissen nun, was sie wollen. Oder besser: sie wissen, was man von ihnen will. Dazu gehört, daß allzu individualistische Sehnsüchte hinter kollektiven Notwendigkeiten zurückstehen müssen. Eine enträtselte Welt von Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten, in der alles seinen sozialistischen Gang geht.
"Ich sprach mit einem Mädchen" (1975) löst erstmalig ein Einzelporträt aus dem starren Kollektiv-Verbund. Die Gemeinschaft, wie sie sich in den vorangegangenen Filmen dokumentierte, löst sich allmählich auf. Nur noch an Wochenenden kehrt die 20jährige Marie-Luise in das Heimatdorfzurück, um die inzwischen verheirateten Klassenkameraden und deren Kinder zu besuchen. Die Arbeit als Laborantin füllt sie nicht aus, und irgendwie scheint das Leben an ihr vorbeizurauschen. Ab und an träumt sie davon, als Stewardess ein bißchen von der Welt zu sehen. Ein Verlangen, das Junge rasch auf den real-existierenden Boden zurückholt. Eine neue Dimension erschließt das Projekt "Anmut sparet nicht noch Mühe" (1979), ein Titel, der der bekannten Kinderhymne von Brecht/Eisler entlehnt ist. Im Versuch, 18 Lebensjahre in 105 Minuten zu raffen, finden auch bisher unveröffentlichte Sequenzen Platz. So erfährt der Zuschauer jetzt, daß Marie-Luise die Konfirmation der ungeliebten Jugendweihe vorzog. Stark beeinträchtigt wird der wenig geglückte erste Anlauf zu einer Gesamtschau vom penetrant pointierenden Kommentar durch den Schriftsteller Uwe Kant, der auch den folgenden Arbeiten seinen "literarischen" Stempel aufdrückt.
Das Ende des Verheissenen Paradieses
Zum längsten und gewichtigsten Teil des "DDR-Dallas" - wie die Serie in ihrem Ursprungsland bespöttelt wurde - wurde "Lebensläufe" (1980/81, "Goldene Taube" in Leipzig). In neun ausgewählten Biografien blättert einiges von der Arbeiter-und-Bauern-hausgemachten Schminke ab. Daß freilich der Sozialismus DDR-eigener Prägung womöglich doch nicht das verheißene Paradies sei, war 20 Jahre nach dem Bau der Mauer ein offenes Geheimnis, das auch in den DEFA-Dokumentarfilm seit langem Einzug gehalten hatte (beispielsweise in Volker Koepps weitaus hellsichtigerer Langzeitrecherche "Leben in Wittstock", begonnen 1975). Immerhin, die Einzelporträts zeichnen die Physiognomie der Spezies "DDR-Bürger" differenzierter, der Enthusiasmus früherer Jahre versiegt, Provinzialität und Enge dominieren, Lustlosigkeit und Langeweile, Tristesse und Routine gewinnen die Oberhand. Ruhe und Geborgenheit sucht man in den eigenen vier Wänden. Mit allem anderen hat man gelernt - und mußte es wohl (oder übel) lernen - sich zu arrangieren. Als neunter und letzter Teil entstand zu Zeiten der DDR "Diese Golzower.
Umstandsbestimmung des Ortes" (1984, überarbeitete Kinofassung 1986). "Eine kleine Grammatik des Lebens auf dem Lande", wie es im Untertitel dieses verunglückten Nachzüglers heißt. Ein Loblied auf die Errungenschaften kollektivistischer Landwirtschaft, zu dem unter anderem eine Frauenbrigade in frischgestärkten Kittelschürzen Kohlköpfe am Fließband putzt. Vier Generationen Golzower nehmen vor der Kamera Aufstellung zu einem Zeit-Bild, das suggerieren will: Seht, dahin haben wir's gebracht. Damit hatte sich die Golzow-Serie eigentlich schon vor dem Ende der DDR zeitgeschichtlich ins Abseits geteilt. Im stürmischen Herbst 1989 weilte der gesamte Drehstab in Syrien, bei archäologischen Ausgrabungen aus dem dritten Jahrtausend vor der Zeitenwende. Der politische Auftrag, als den Junge seine Arbeit stets wahrnahm, hatte sich zwar nicht erfüllt, wohl aber erledigt.
"Die Golzower Chronik (hat) wieder grünes Licht, ihr jährliches Geld und einen Plan bis zum 50. Jahrestag der DDR 1999... Nun finanziert die Hauptvertwaltung Film." So triumphierte Junge auf dem V. Kongreß des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden, dessen Sektion Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik er als stellvertretender Vorsitzender vorstand. Das war 1988, ein Jahr vor dem Bankrott der DDR, von dem die Golzow-Chronik nie das geringste ahnen läßt. Inzwischen ist der Filmemacher in seinen Verlautbarungen und Vorhaben bescheidener geworden, an der Chronik von Golzow allerdings will er auch unter veränderten Verhältnissen weiterarbeiten. Zum 30. Jahrestag des Drehbeginns ist ein Werkstattbericht in Vorbereitung. Fördergelder des Bundesinnenministeriums, des Hamburger Filmbüros und des Brandenburgischen Kultusministeriums sicherten darüber hinaus die Weiterarbeit an den Porträts. Im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung Bonn bereits fertiggetellt sind drei jeweils 40minütige Einzelporträts, die bis in die Nach-Wendezeit führen. Mit dem vordergründig didaktische Zwecke bedienenden Ergebnis mochten sich die Filmemacher jüngst bei der Präsentation bei den "Tagen des Unabhängigen Films" in Augsburg selbst nicht anfreunden.
Unklar sind im übrigen die Rechtsverhältnisse an dem bisher gedrehten, auf stattliche 100 Kilometer Filmlänge angewachsenen Material. Die entscheidende Frage allerdings bleibt, unter welcher Konzeption die Sisyphusarbeit sinnvollerweise fortzusetzen wäre - so sie denn fortgesetzt werden soll. Und von wem? Möglicherweise aber hört die "unendliche Geschichte" der erwachsen gewordenen Kinder von Golzow mit dem Ende "ihrer" DDR auf. Eine Denkpause sollte den Golzowern und dem Filmteam eingeräumt werden, um sich umzuorientieren in der veränderten "Umstandsbestimmung des dokumentaren Films", wie Winfried Junge vor Jahren formulierte: "Vom Wollen, Können, Dürfen und Müssen".
Roland Rust (filmdienst 10/1992)