Der Anfang vom Ende.
Erinnerungen eines Kulturministers der DDR
von Ralf Schenk
Am 23. Februar 1961 begann ich meinen Dienst als Minister für Kultur", schreibt Hans Bentzien in seiner soeben erschienenen Autobiografie "Meine Sekretäre und ich". Es ist eine von mehreren aktuellen Publikationen, in denen Autoren, die einst leitende Funktionäre der SED waren, noch einmal DDR-Geschichte aufblättern. In vielen dieser Erinnerunngen spielt, 30 Jahre nach dem berüchtigten 11. Plenum des Zentralkomitees der SED, gerade dieses Ereignis eine wichtige Rolle. Jene Tagung, die vom 15. bis 18. Dezember 1965 in Berlin stattfand, hat sich den Ex-Politikern freilich nicht nur als ein reines Kultur- oder gar Filmplenum eingeprägt. Daß in dessen Folge zwölf Defa-Arbeiten verboten und eine weitere Handvoll Stoffe der Filmgesellschaft der DDR kurz vor Drehbeginn gestoppt wurden (darunter Frank Beyers "Jakob der Lügner", Konrad Wolfs "Goya", Rainer Simons "Die Moral der Banditen" und Heinz Thiels "Die Beteiligten"), gilt inzwischen als allgemein bekannt.
Wichtiger an den Reminiszenzen ist den Autoren die Einordnung des Geschehens in die politische Großwetterlage. Sie helfen damit, die vor allem von Nachgeborenen, aber auch von westdeutschen Beobachtern häufig gestellte Frage zu beantworten, wie es in der strikt reglementierten DDR und in einem Parteibetrieb wie der Defa überhaupt möglich war, daß gesellschaftskritische Filme à la "Spur der Steine" oder "Das Kaninchen bin ich" entstehen konnten.
Der Schatten der Mauer
Bentzien, der am 11. Plenum wegen Krankheit nicht selbst teilnahm und Anfang 1966 als Kulturminister entlasssen wurde, nennt die Zeit zwischen 1961 und 1965 eine "Reformzeit im Schatten der Mauer". Obwohl die politischen Hardliner auch in diesen Jahren hin und wieder die Oberhand bekamen, wehte doch ein insgesamt liberaler Wind. Beeinflußt von Chrustschows "Tauwetter"-Kurs in der Sowjetunion und parallelen Bestrebungen in Polen oder in der CSSR, erhielten zum Beispiel bei der Defa die künstlerischen Arbeitsgruppen umfangreiche Rechte. Um Regisseure vom Rang eines Konrad Wolf oder Slatan Dudow sammelten sich gleichgesinnte Autoren, Dramaturgen oder Produzenten zu einem freien Meinungsaustausch über Themen und Stoffe. "Sachverstand, Geschmack und das Können der schöpferischen Kräfte" sei unter der Leitung des neuen Defa-Direktors Jochen Mückenberger gefragt gewesen, und die Abnahmekommission in der Hauptverwaltung Film habe an Bedeutung verloren, nachdem der bisherige stellvertretende Kulturminister für Film, "Direktinformant (Ulbrichts) und Scharfmacher" Hans Rodenberg als Mitglied für Kultur in den - weniger mächtigen - Staatsrat verschwand. Bentzien erinnert sich, daß es nicht nur in der Kultur-, sondern auch in der Wirtschafts-, Rechts- und besonders in der Jugendpolitik starke Reformbestrebungen gab. Mitte September 1963 beispielsweise veröffentlichte das Politbüro der SED ein Kommuniqué "Der Jugend Vertrauen und Verantwortung", mit dem unter anderem die unselige Hatz auf Beatmusik und lange Haare ein Ende nehmen sollte. Bentzien: "Die Zeitungen wurden lesbarer, überall fanden Jugendforen unter dem Motto ‚Auf jede Frage eine Antwort statt. Die FDJ stellte sich vor die Lyrik- und Singebewegung, eine große Veranstaltungsflut mit Gedichten und Liedern begann. Eigene Rockidole traten an die Stelle der westlichen Bands." All dies spiegelt sich, natürlich zeitversetzt, in den 1965/66 verbotenen Defa-Filmen wieder: "Denk bloß nicht, ich heule", "Karla", "Berlin um die Ecke", "Ritter des Regens" oder "Fräulein Schmetterling" führten genau jenen Diskurs um Generationskonflikte und den eigenen, widerspruchsvollen Weg junger Leute in den Alltag der DDR fort, den Schriftsteller und Liedermacher bereits differenziert gestaltet hatten.
Zersetzend, revisionistisch
Hans Bentzien datiert das endgültige Ende des Aufbruchs auf den Spätsommer 1965. In der Sowjetunion war Chrustschow durch Leonid Breschnew gestürzt worden, Ulbricht seinerseits witterte in der bevorstehenden großen Koalition von CDU und SPD in der Bundesrepublik Deutschland einen "Rollback-Versuch der Mauer". Beider Fazit: keinerlei ideologische Weichheit. Die Defa aber schien genau dies zu praktizieren. Bentzien: "Ulbricht schäumte, Altmeister Maetzig und die jungen Regisseure bliesen alle in das gleiche Horn: die Gesellschaft ist sehr verbesserungswürdig." Die Vorwürfe, die nun quasi über Nacht gegen die Filme gestrickt wurden, lauteten: zersetzend, revisionistisch, pervers, obszön, gewalttätig. Und: Sie würden nichts anderes als praktische Belege der Entfremdungstheorie sein. Gerade das kam einem Sakrileg gleich, hatte sich die SED doch strikt von der 1963 in Prag durchgeführten Kafka-Konferenz distanziert, auf der die Entfremdung als eine auch dem Sozialismus immanente Erscheinung nachgewiesen worden war. Ulbricht und seine Adlaten, so resümiert Bentzien, sahen in den ostdeutschen Intellektuellen eine Gefahr, "ihnen steckte das latente Mißtrauen gegen jede Art von selbständigem Denken außerhalb der vorgegebenen Dogmen noch in den Knochen. So schlugen sie zu, als sie glaubten, die äußeren Angriffe auf die DDR könnten bei innerer Diskussion über die freiere Gestaltung des Sozialismus, über Reformen seiner Strukturen in der DDR, zu einer Zersetzung führen. (...) Es begann die tiefste Krise zwischen der Partei und einer einflußreichen Bevölkerungsgruppe seit dem 17. Juni 1953. Trotz mancher Versuche, die Spannungen zu entschärfen, ist das nie mehr gelungen." So kann das "Kahlschlag"-Plenum, das, oberflächlich betrachtet, nur ein paar Filme in den Orkus verbannte, heute durchaus als Anfang vom Ende der DDR gewertet werden.
Ralf Schenk (filmdienst 1/1996)