Im Spiel erziehen.
Eine eigenartige Filmkritik von Stefan Heym – geschrieben in unruhiger Zeit
von Michael Hanisch
Ein Filmkritiker war er nie. Und so kam er – wenn er sich denn schon mal mit dem Kino befasste – gleich aufs „Wesentliche“: „Ich gehöre zu jener großen Menge von Leuten, die im Kino laut lachen, wenn es wirklich etwas zum Lachen gibt, und die sich auch nicht schämen, wenn ihnen an besonders ergreifenden Stellen die Tränen in die Augen steigen. (...) Es ist klar, daß jeder Film, ob er aus Hollywood oder Prag, Geiselgasteig oder Babelsberg, London oder Moskau kommt, seine politische Botschaft enthält. Auch die sogenannten ‚unpolitischen’ oder ‚reinen Unterhaltungsfilme’ aus Hollywood und anderen westlichen Filmzentren erweisen sich bei näherer Prüfung als politisch, preisen ein bestimmtes politisches System und dessen Lebenserscheinungen.“
Worum ging es? Stefan Heym, soeben aus der Emigration nach Deutschland, in den östlichen Teil zurückgekehrt, schrieb viel in jenen Tagen der Monate Mai und Juni 1953. Die führenden Zeitungen in der DDR stellten ihm großzügig ihre Spalten zur Verfügung, auch Zeitungen, die längst die Filmkritik so gut wie abgeschafft hatten und sich auf ihren Kulturseiten nur noch mit den „wesentlichen kulturpolitisch-ästhetischen“ Fragen beschäftigten, wie die von der sowjetischen Besatzungsmacht herausgegebene „Tägliche Rundschau“. Heym äußerte sich damals oft in jenen Zeitungen. Über das in den USA der Atomspionage für die Sowjetunion angeklagte und von der Todesstrafe bedrohte Physiker-Ehepaar Rosenberg (Überschrift des Artikels: „Ein Sturm muß sich in der Welt erheben“), über seine Heimatstadt Chemnitz, die zu jener Zeit in Karl-Marx-Stadt umbenannt wurde – und eben über einen tschechischen Film.
„Die Entführung“ („Unos“, 1952) schilderte das Kapern einer Maschine bei einem CSR-Inlandsflug nach Bayern. In allen Artikeln, die sich mit dieser Prager Produktion beschäftigten, wurde immer wieder betont: nach einem authentischen Vorfall gedreht. Flugzeugentführungen waren damals noch eine Seltenheit. Die innerdeutsche Grenze war noch offen. Es genügte eine Fahrkarte der Berliner S-Bahn, um von der einen Welt in die andere zu gelangen. Trotzdem kam es schon 1953 vor, dass tschechische oder polnische Linienflugzeuge in die Bundesrepublik Deutschland oder nach West-Berlin entführt wurden. Später, in den 1970er- und 1980er-Jahren, war es fast ein alltäglicher Vorgang. 1953 jedoch noch eine Sensation, die von den Westmedien dankbar als Munition im Kalten Krieg genutzt wurde. Sowohl in der „Progress-Filmillustrierten“, dem Programmheft zum Film als auch in mehreren DDR-Zeitungen wurde in diesem Zusammenhang stets auf einen Beitrag des West-Berliner „Kriegshetzerblattes“ „Telegraf“ vom 23. März 1953 hingewiesen, in dem eine Flugzeugentführung nach Frankfurt/Main beschrieben wurde. Die der SPD nahestehende Zeitung „Telegraf“ war in den Augen Ost-Berlins ein „Kriegshetzerblatt“, nicht „Der Tagesspiegel“ oder eine Zeitung des Springer-Konzerns.
Über die Wirkungsmöglichkeiten des Kinos
Der Film „Die Entführung“ kam am 21. Mai 1953 im Ost-Berliner Kino „Babylon“ zur deutschen Erstaufführung – eigentlich ohne große Resonanz. Mehr Aufmerksamkeit als der Film erfuhr der Rahmen der Veranstaltung, denn die Aufführung wurde als Protestveranstaltung gegen die Entführung des Dokumentaristen Andrew Thorndike nach West-Berlin organisiert. Nach einer Woche war „Die Entführung“ bereits wieder aus dem Programm des „Babylon“ verschwunden. Erst zwei Wochen nach der Premiere erschien dann die Rezension des SED-Organs „Neues Deutschland“, nach einer weiteren Woche die der „Berliner Zeitung“ mit der Unterzeile „Ein Film von brennender Aktualität“. Dass die Zeitungen sich mit ihren Rezensionen jedoch so sehr Zeit ließen, kann möglicherweise damit zusammen hängen, dass der Film in Prag bei den Ideologen nicht unumstritten war. Schließlich ging es hier um die ganz große Politik, die Vereinten Nationen beschäftigten sich im Film mit dem Entführungsfall. Vielleicht gab es auch ideologische Bauchschmerzen, da der Film offenbarte, dass es in Böhmen durchaus Menschen gibt, die aus den unterschiedlichsten Gründen anfällig sind für die Verlockungen des Westens. Erst der Einsatz von Wsewolod Pudowkin bei seinen Prager Genossen soll zur Freigabe des Films geführt haben.
„Die Entführung“ fand bei ihren Weg durch die Kinos der DDR zunächst keine besondere Aufmerksamkeit und war schon fast vergessen, als die „Tägliche Rundschau“ dem Film am Sonntag, dem 21. Juni, fast die Hälfte ihrer großformatigen Kulturseite widmete. Die „Berliner Zeitung“ publizierte am selben Tag übrigens Stefan Heyms „Gedanken zum 17. Juni 1953“, und das „Neue Deutschland“ brachte einen als „Tatsachenschilderung“ apostrophierten Bericht des jungen Schriftstellers Erich Loest unter der Überschrift „Erich Loest: Mit Provokateuren wird nicht diskutiert!“ Lag es an der Aktualität der Story oder lag es ganz einfach am Datum, das dem Film plötzlich zusätzliche Brisanz verschaffte? Die allgemeine Unzufriedenheit der Menschen im Osten mit ihrem Leben und die Faszination des Westens waren wesentliche Motive für den Arbeiteraufstand vom 17. Juni. Mit dem Film glaubten die Redakteure der „Täglichen Rundschau“ offensichtlich, der allgemeinen Unzufriedenheit entgegen steuern zu können.
Heyms Interesse an dem tschechischen Film hatte verschiedene Gründe. Er konnte sich berechtigte Hoffnungen darauf machen, dass sein Roman „The Crusaders“ bei der DEFA verfilmt würde. Er sah wohl in dieser Richtung für sich eine berufliche Zukunft. So machte er sich einige grundsätzliche Gedanken über die Wirkungsmöglichkeiten des Kinos: „Die Spannung, die sich aus dem Konflikt, dem Gegeneinandersetzen zweier Kräfte, ergibt, ist das Mittel des erzählenden Künstlers und des Dramatikers, um den Zuschauer oder Leser zu erreichen und mitzureißen, das heißt, ihn zu unterhalten und sozusagen im Spiel zu erziehen. Gelingt es dem Künstler, den Zuschauer oder Leser zu der Frage zu veranlassen: Wer wird gewinnen? – noch wichtiger, gelingt es dem Künstler, den Zuschauer oder Leser Partei ergreifen zu lassen und ihn zu dem Wunsch zu veranlassen: Ich möchte, daß der und der gewinnt – so hat er sein Ziel schon zur Hälfte erreicht. Er hat erreicht, daß der Zuschauer oder Leser sich mit einer Partei, und zwar mit der vom Autor gewünschten Partei, identifiziert. Der Zuschauer bei der ‚Entführung’ identifiziert sich von Anfang an mit der entführten, verfolgten, unter Druck gesetzten kleinen Gruppe von Tschechoslowaken; er empfindet mit ihnen; wünscht ihnen Erfolg – er ist durch den Künstler und durch die künstlerische Darstellung zu dieser Stellungnahme gezwungen worden, auch wenn seine eigenen politischen Meinungen nicht die dieser Tschechoslowaken sind oder wenn er über die politischen Antagonisten, die hier in die Arena treten, keine festen Meinungen hat. Der Zuschauer fragt sich: Wird es den paar Leuten (die hier scheinbar isoliert und allein auf einem amerikanischen Militärflugplatz in Westdeutschland stehen) gelingen, den amerikanischen Machtapparat zu schlagen und in ihre Heimat zurückzukommen? Er wünscht, daß es ihnen gelinge; aber er weiß nicht, wie es ihnen gelingen kann.“
Lobenswerte Qualität: Leben
Im Falle der „Entführung“ stehen ungefähr 20 Tschechoslowaken verschiedener Herkunft, Meinungen und Schichten gegen eine aggressive Weltmacht. Aber sie sind Tschechoslowaken besonderer Art: Tschechoslowaken einer Volksdemokratie, Menschen, die in mehr oder minder starkem Maße von der neuen Zeit, vom Aufbau des Sozialismus ergriffen und beeinflusst worden sind. In anderen Worten: Das Neue steht gegen das Alte, das Neue muss das Alte besiegen. Heym: „Aber das wird im Film nicht ausgesprochen. Das ergibt sich für den Zuschauer aus der Handlung und dem Dialog. Das lernt er, ohne es eingetrichtert zu bekommen.“ Es wird einem bei der Lektüre des umfangreichen Aufsatzes sehr schnell klar: Heym und den Redakteuren der „Täglichen Rundschau“ ging es auch hier um Grundsätzliches, das war keine Filmkritik mehr, sondern fast schon der Versuch einer praktischen Anwendung der marxistischen Kunsttheorie auf einen Film. Da durfte natürlich auch der „positive Held“ nicht fehlen. In diesem Fall ist es einer der Entführten, der Abgeordnete Horvat, der isoliert und (von einem im Dienste der Amerikaner stehenden Ex-Nazi) gefoltert wird, dennoch: „In Wort und Tat ist er das vorwärtstreibende Element. (...) Wandlung und Wachstum des positiven Helden zu zeigen ist schwer. Bei einer schwankenden, zweifelnden Figur ist es viel leichter. Aber gezeigt werden muß diese Wandlung, denn das Leben zeigt, daß es nichts Statisches, nichts Gleichbleibendes gibt; und der statische, sich gleich bleibende positive Held, dem man des öfteren begegnet, hat sicher lobenswerte Qualitäten; nur eine fehlt ihm: Leben.“
Kurios auch Heyms nahezu begeisterte Zustimmung zur Machart des Films: „Der Film legt mit Recht Wert aufs Detail. Da ist ein handgeschriebenes Schild an der Wand des Quartiers, wo die Entführten eingesperrt sind. Das Schild hat die Aufschrift: Keep the joint clean! – ungefähr übersetzt: Haltet die Bude sauber! – amerikanischer Slang, wie er nicht besser sein könnte. Da ist der amerikanische Feldkaplan, der zusammen mit den Offizieren der Division und den Entführten einer Revue zuschaut und beim Anblick der ziemlich nackten Mädchen erst entrüstet tut, dann aber begeistert pfeift (was in den USA ein Zeichen höchster Anerkennung weiblicher Talente ist) und sich dann beim Pfeifen ertappt und erschrocken innehält. Da ist der Grotesktanz zweier amerikanischer Polizisten mit einem Neger, wobei die Polizisten dem Neger mit ihren Knüppeln auf den Kopf schlagen, bis er niederkniet und, wie sich’s gehört, die Schuhe putzt. Da ist die herrliche Szene, wo alles kaut – die Amerikaner ihren Gummi, die Tschechoslowaken die Papiere des Ingenieur Prokop, die vernichtet werden müssen. Da sind amerikanische Offiziere, Zivilbeamte und Soldaten – aber es gibt genug Leute im Lande, die aus eigener Anschauung bestätigen können, wie echt das alles ist, einschließlich der ältlichen höheren Offiziere und ihrer Damen, die sich im Jitterbug mehr oder weniger würdig die Glieder verrenken. Das ist keine Karikatur; so sonderbar sind dort die Bräuche.“
Erkenntnisse des vor noch nicht allzu langer Zeit aus der US-Army entlassenen Re-Emigranten. Aus Heyms DEFA-Projekt „The Crusaders“ wurde jedoch nichts. In seinen späteren Arbeiten, auch in seiner Autobiografie, ging Heym nie wieder auf den Prager Film und seinen Aufsatz dazu ein. Der Arbeiteraufstand vom 17. Juni wurde dagegen eines seiner wichtigen Themen. Der Film wurde vergessen. Es war ein recht typisches Produkt des Kalten Krieges, Gebrauchskunst mit begrenztem Wert, der niemand eine Träne nachzuweinen schien. An dem Film hatte als Berater auch Heyms Freund Hans (Hanuš) Burger mitgearbeitet. Beide waren „West-Emigranten“, Burger hatte in London an dem berühmten Dokumentarfilm über die deutschen Konzentrationslager „Die Todesmühlen“ mitgearbeitet. Vielleicht war auch das ein Grund für den Schriftsteller, sich für die Prager Produktion in der DDR besonders einzusetzen.
Interessant auch das Schicksal der beiden Regisseure des Films: Ján Kadár und Elmar Klos galten später als Vorreiter der Prager Schule. Ihre Arbeiten „Der Tod heißt Engelchen“ (1963), „Der Angeklagte“ (1964) und „Das Geschäft in der Hauptstraße“ (1965) gehören zu den wichtigsten tschechischen Produktionen vor dem Prager Frühling, letzterer wurde 1965 mit dem „Oscar“ für den besten Fremdsprachenfilm ausgezeichnet. Kadár (1918-79), slowakischer Jude, der seine Eltern in Auschwitz verlor, verließ 1968 nach der Niederschlagung des Prager Frühlings die CSSR und arbeitete danach in den USA und Kanada. Elmar Klos (1910-1993) blieb in Prag und lehrte an der Filmhochschule FAMU.
Michael Hanisch (filmdienst 12/2003)