Vom roten Stern in die schwarzen Zahlen.
Progress Film GmbH geht ins zweite Jahr
von Roland Rust
„Wir überstehen es!“ Mit forschem Optimismus betrat der Progress-Film-Verleih vor Jahresfrist das bis dato verfemte Terrain kapitalistischer Marktwirtschaft (vgl. fd 24/1990). Was seinerzeit ein Ost-Berliner Boulevard-Blatt noch mit einem skeptischen Fragezeichen kommentierte, scheint heute außer Frage zu stehen. So jedenfalls bilanzierte der aus den eigenen Reihen berufene Geschäftsführer Hans Müller auf einer Pressekonferenz das erste Jahr seit der Eintragung ins Handelsregister. Anders als die meisten der staatlich subventionierten Kulturinstitutionen der DDR sei man bislang nicht in die roten Zahlen abgesackt. Das mag bei einem aus dirigistischer Monopolstellung entlassenen Unternehmen durchaus erstaunen. Die eher bescheidenen Einkünfte aus Filmmieten allein brächten die positive Bilanz kaum zuwege, könnte man nicht auf Lizenzen – zum erheblichen Teil sogar Dauerlizenzen – und einen beträchtlichen Stock deutschsprachiger Synchronfassungen für die Fernsehauswertung zurückgreifen. Ferner strebt man die selektive Erweiterung bereits erworbener Rechte über das bei Vertragslegung auf die DDR begrenzte Auswertungsgebiet hinaus an (was im Falle einzelner sowjetischer Filme bereits gelungen sein soll) und will ins bislang völlig vernachlässigte Video-Geschäft einsteigen. Neuankäufe regelt man nach den (im „Westen“) üblichen Produzentenbeteiligungen, das heißt einer Einspielteilhabe nach Abzug der Verleihvorkosten (im Gegensatz zur bisher praktizierten Lizenzpauschale). Als rentable Abspielstätte des eigenen Verleihprogramms haben sich auch die beiden hauseigenen Kinos „Börse“ und „Felix“ im Herzen Ost-Berlins bewährt, zumal der Zugang zu den traditionellen Erstaufführungstheatern bisher nur in Ausnahmefällen gelang. Selbst dem erfolgreichsten Film der letzten Zeit, „Der Tangospieler“, der im Ost-Berliner Renommier-Kino „International“ in der Startwoche immerhin über 2000 Zuschauer anlockte, wurde die Prolongation zugunsten eines US-Giganten verweigert. Analog zum ersten Halbjahr gedenkt man auch in der zweiten Jahreshälfte insgesamt ein Dutzend Filme zu starten. Obschon damit das früher auf weit über 100 Titel aufgeblähte Verleih-Volumen drastisch gekappt wurde, wird man künftig um eine noch weitergehende Reduzierung nicht umhin können. Der Mitarbeiter-Stab wurde von 100 Festangestellten bereits auf die Hälfte zurückgeschraubt und soll am Ende 35 Beschäftigte (einschließlich Filmtheater und -lager) nicht überschreiten.
Nummer „Sicher“
Im Blick auf die Verleihstaffel des zweiten Halbjahres wird deutlich, dass Progress auf Nummer Sicher gehen will (bzw. muss). „Unprofitable“ Dokumentar- und Animationsfilme – früher oft die Rosinen im linientreuen Einheitsbrei – fehlen diesmal gänzlich. Dafür setzt man auf drei Wiederaufführungen: die beiden DEFA-Märchenfilme „König Drosselbart“ (Regie: Walter Beck, 1965) und „Sechse kommen durch die Welt“ (Regie: Rainer Simon, 1972) sowie im Zeichen des Mozart-Jahres die erste hochkarätig besetzte Opernverfilmung der DEFA aus dem Jahre 1949, „Figaros Hochzeit“ (Regie: Georg Wildhagen). Neben drei weitere Kinderfilme („Trillertrine“, Regie: Karl Heinz Lotz, 1991; „Ferien mit Silvester“, Regie: Bernd Neuburger, 1990; „Sieben auf einen Streich“, Regie: Dusan Trancik, 1988; letzterer nur für die fünf neuen Bundesländer) treten Spielfilme vornehmlich aus der neueren Babelsberger Produktion. Auf die jüngsten Arbeiten von Heiner Carow („Der Verdacht“) und Ulrich Weiß („Miraculi“) musste man verzichten, da beide vorab an mitproduzierende Verleiher gebunden waren. Auf Herwig Kippings Debüt („Land hinterm Regenbogen“) wollte man, eingedenk des Flops von Andreas Hötschs Erstling „Der Straß“, der ohne Kinostart blieb, verzichten. Sein Comeback in die Babelsberger Ateliers feiert Egon Günther mit der Geschichte eines Schauspielers – dem Erz-Komödianten Rolf Ludwig auf den Leib geschrieben -, der nach dem Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei 1968 von der Bühne abtritt („Stein“). Historische Zäsuren, diesmal im geteilten Berlin des Jahres 1953, auch in Horst Seemanns Co-Produktion mit Allianz („Zwischen Pankow und Zehlendorf“). Lange tabuisierte neuralgische Punkte aus 40jähriger DDR-Historie spürt auch Frank Beyers neuer Film „Der Verdacht“ (nach „Unvollendete Geschichte“ von Volker Braun) auf.
Den Start des Films wird eine umfangreiche Retrospektive aus 35 Schaffensjahren des diesjährig mit dem „Deutschen Filmpreis“ Geehrten (vgl. fd 13/1991) begleiten. Charakteristisch für die derzeitige Umbruchsituation ist die Splittung der Rechte an der (west-)deutsch-argentinischen Co-Produktion „La Amiga“ (Regie: Jeanine Meerapfel, 1988). Bei „gleichzeitigem“ Starttermin in (Ost-)Berlin teilen sich Progress und Arsenal die territorial separate Auswertung entsprechend den ehemaligen Staatsgebieten der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Da jedoch „Arsenal“ mittlerweile auch im sächsischen Leipzig ein Filmtheater terminiert, wird es dort „grenzüberschreitend“ selbst auswerten.
Keine Ost-Kontakte
Die ehedem aus ideologischen Zwängen dominierenden Ost-Kontakte sind beinahe gänzlich abgebrochen. Die in den proklamierten Bruderstaaten von jeher flaue Nachfrage nach DEFA-Ware ist mit Einführung „harter“ DM völlig erloschen, während die (Film-)Welt für die Ex-DDRler zumeist schon vor der Oder-Neiße endet. Von daher ist unsicher, ob das von Progress traditionell ausgerichtete „Festival des sowjetischen Films“ eine weitere Auflage erlebt. Obgleich die zunächst auf den 30. Juni 1991 befristete Vollmacht, sämtliche DEFA-Studios im Ausland zu vertreten, um zunächst weitere drei Monate verlängert wurde, ist der seit den Festivals von Berlin und Cannes forciert angesteuerte Einstieg ins Auslandsgeschäft bislang kaum gelungen. Abschlüsse beispielsweise mit einem Kleinvertrieb in Israel – immerhin ein früher aus kulturpolitischen Rücksichten untersagtes Novum – können nicht mehr als ein Anfang sein. Dass Progress dennoch als potentieller Konkurrent ernstgenommen wird, sei spätestens seit der Mitgliedschaft in der Export-Union des Deutschen Films sowie dem Verband deutscher Filmverleiher spürbar. Für die anhängige Eingliederung in eine DEFA-Holding bzw. Privatisierung – eine Entscheidung, die letztlich die Treuhand zu treffen hat, wird nicht vor Herbst dieses Jahres erwartet – eine beachtliche Ausgangsposition, die die Altlasten aus 40 Jahren beinahe zu unversehens auf die leichte Schulter nimmt.
Roland Rust (filmdienst 14/1991)