Erinnere dich in Liebe und Hass.
Zum 70. Geburtstag von Jürgen Böttcher
von Ralf Schenk
Es muss gegen Ende der 70er-Jahre gewesen sein, als ich Zeuge eines heftigen Disputs wurde. Im Haus der ungarischen Kultur in Ost-Berlin waren wieder einmal neue, streitbare Spielfilme aus Budapest gelaufen, dokumentarisch intendierte „Filmromane“ von István Dárday beispielsweise oder wilde cinéastische Eruptionen von Gábor Bódy. Allen Anwesenden wurde schlagartig bewusst, dass Kunst nicht nur schlechthin von Können kommt, sondern auch von Zivilcourage, politischem und ästhetischem Widerspruchsgeist. Die anwesenden DEFA-Leute redeten sich die Köpfe heiß, im Saal nach der Vorführung und im Foyer bei vielen Gläsern Rotwein. An einem Tisch wurde besonders heftig gestritten, oder besser: insistiert. Eine Traube junger Regisseure hatte sich um den eher schweigsamen Jürgen Böttcher versammelt und bedrängte ihn, seine Zurückhaltung aufzugeben und doch wieder einen Spielfilm zu inszenieren. Alle wussten, dass er es 1966 schon einmal versucht hatte, aber dass „Jahrgang 45“ dann verboten und in den Orkus des Vergessens verbannt worden war. Jetzt aber lag tatsächlich ein neues Angebot der DEFA vor. Rudi Jürschik, der erst vor kurzem ins Amt berufene Chefdramaturg des Studios, ein ehemaliger Kommilitone und Freund Böttchers, hatte ihm dieses Angebot unterbreitet. Böttcher erhielt sogar ein kleines monatliches Salär, um ein Exposé zu entwickeln. Die DEFA-Leitung erhoffte sich von ihm vielleicht nicht unbedingt dasselbe wie seine Diskussionspartner im Haus der ungarischen Kultur; aber für beide war er Garant für einen ebenso wahrhaftigen wie formal faszinierenden Film über die Gegenwart.
Purist der Wirklichkeit
Böttcher hat diesen zweiten Spielfilm dann doch nicht gemacht. Vermutlich schmerzten die Erinnerungen an den ersten Verlust zu sehr; vielleicht wollte er sich einer ähnlichen Erfahrung, die kaum auszuschließen gewesen wäre, nicht noch einmal aussetzen. Aber es war noch etwas anderes, das ihn zögern ließ, zur Fiktion zurückzukehren: In Böttcher, dem Puristen der Wirklichkeit, wehrte sich alles gegen eine Filmform, in der die erzählerische Konstruktion und letztlich auch Konventionen die Oberhand gewinnen mussten. Im DEFA-Spielfilm war man nicht unbedingt erpicht auf Neuartiges, Experimentelles, Avantgardistisches. Sicher wäre ihm ein Sujet für einen dokumentarischen Avantgarde-Spielfilm eingefallen; an der Konvention aber, und würde sie auch noch so zaghaft ihr Recht einfordern, verzweifelte seine Fantasie. Zudem fiel das Angebot aus dem Spielfilmstudio in jener Phase von Böttchers Schaffens, in der er die Fesseln von Auftragswerken und anderen – oftmals existenziell notwendigen – Zugeständnissen abstreifte. Die späten 70er- und 80er-Jahre wurden für ihn endlich zu einer Zeit fern der Kompromisse. Mit „Martha“ (1978) etwa, dem Porträt einer alten Berliner Trümmerfrau, setzte er, ohne dies verbal zu betonen, den schweren Alltag einer „einfachen“ Arbeiterin gegen aufgeblasene staatliche Parolen von Wachstum und Fortschritt. Ganz zu sich selbst kam Böttcher 1981 mit seinem Experimentalfilm-Tryptichon „Potters Stier/Venus nach Giorgione/Frau am Klavichord“, der vor der Kamera vollzogenen Übermalung von Postkarten: Die entsprechenden Renaissance-Gemälde wurden dabei mit Linien und geometrischen Figuren überzogen, Doppelbelichtungen brachten reale Gegenstände ins Spiel, und auch auf der Tonspur vollendete sich mit Kratzern, undefinierbaren Stimmen und Musikfetzen ein surrealistischer Akt, der bei der DEFA seinesgleichen suchte. Mit diesem Film wies Böttcher darauf hin, wie sehr er sich als Maler begriff: Seinem ursprünglichen Beruf, den er Anfang der 50er-Jahre an der Akademie für Bildende Künste in Dresden studiert hatte, konnte er nach Ausstellungsverboten in der DDR freilich nur noch „privat“ nachgehen – jetzt wagte er das „Outing“ mit aller Vehemenz.
Die Filme eines Malers
Wer es bis dahin noch nicht erkannt hatte, sah es spätestens mit „Rangierer“ (1984): Böttchers Filme waren eigentlich immer die eines Malers. Diesmal nutzte er eine Nachtschicht auf dem Dresdner Rangierbahnhof als Folie für eine optische Sinfonie (Kamera: Thomas Plenert). Ihre Ingredienzien: Gleise, Waggons, Schneegestöber – und oft winzige, in der Totale aufgenommene Arbeiter. Der Mensch als Bestandteil eines Universums aus Natur und Technik, Motor des Ganzen und zugleich ein Gefangerer. Wie Böttchers Spielfilm „Jahrgang 45“ erwies sich auch „Rangierer“ als völlig entideologisiert: In keiner Einstellung, keiner Szenenfolge wird eine übergeordnete These, ein zu belegendes politisches Thema ersichtlich. Es war nur konsequent, dass der Regisseur auf einen Kommentar, sogar auf einen musikalischen, verzichtete – nicht die kleinste Spur von Didaktik sollte die Kontemplation stören. Mit „Die Küche“ (1987) über Frauen in der Großküche der Rostocker Neptunwerft und „In Georgien“ (1988), der Odyssee in eine ersehnte Idylle, setzte Böttcher seine philosophisch-utopische Sinnsuche nach dem, was die Welt zusammenhält, fort. Ebenso faszinierend wie – offiziell – unverstanden blieb nicht zuletzt sein „Kurzer Besuch bei Hermann Glöckner“ (1985), in dem er einem großen alten Mann der Bildenden Kunst in der DDR bei der Arbeit zuschaute. Mit dem Glöckner-Film verneigte sich Böttcher vor einem Seelenverwandten: Auch dieser 1889 geborene Maler, ein konsequenter Vertreter der konstruktivistischen Schule, war jahrelang mit Ausstellungsverboten belegt.
Jürgen Böttcher, der am 8. Juli 70 Jahre alt wird, hatte 1957 während seines Regiestudiums an der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Babelsberg seinen ersten kurzen Film gedreht: „Der Junge mit der Lampe“. Mit stummer Kamera (Christian Lehmann) beobachtete er spielende Kinder in alten Arbeitergegenden Ost-Berlins: ein am italienischen Neorealismus orientierter Versuch. Schon mit dieser Arbeit setzten allerdings auch die Schwierigkeiten ein: Der Neorealismus wurde in der Kunstpolitik der DDR als „bürgerlich“ verworfen; ihm sei, so lautete das Dogma, der „sozialistische Realismus“ überlegen und unbedingt vorzuziehen. Böttchers folgende Filmografie sieht dann wie eine Berg- und Talfahrt aus. Sein erster Film nach dem Studium, „Drei von vielen“ (1961), das Porträt dreier befreundeter „Arbeiter“-Maler aus Dresden (darunter A. R. Penck), wurde verboten: „Dass der LKW-Kraftfahrer Graf nach der Arbeit barfuß im Schaukelstuhl in seiner dürftigen Malkammer sitzt“, erinnerte sich der Regisseur später, „und Jazz hört, empfanden sie als Blasphemie. Und dass in einem Wasserglas auf dem kargen Fensterbrett eine Silberdistel zu erkennen ist! ‘Unsere Arbeiter können sich Kristallvasen mit Rosen leisten, Genossen – das will doch was heißen, dass Böttcher uns, unseren Bürgern das zumutet!’“
So oder ähnlich borniert lauteten auch spätere Verdikte. „Barfuß und ohne Hut“ (1964), in dem jugendliche Ostseeurlauber über Zukunftsträume reden, wurde verboten, weil darin Jazz zu hören war und junge Leute in Jeans im Meer herumtollten. In „Jahrgang 45“ geriet das Berliner Altstadtambiente zu „dunkel“: abseitig, verwaschen, indifferent – so war in einer Analyse des Filmministeriums zu lesen. Selbst eine Arbeit wie „Der Sekretär“ (1967) über einen Parteifunktionär im Chemiekombinat Buna stieß auf nur mäßige Gegenliebe, was damit zu tun hatte, dass der SED-Obrigkeit ihr eigener Genosse zu „herzerfrischend, direkt und herzensklug war: Es war eben durch den großen Parteitag wieder mal eine etwas andere Zeit angebrochen. Der Parteisekretär sollte ab sofort nicht mehr der hemdsärmelige gute Kerl sein, der sich um seine Leute kümmert, sondern eher so’n wissenschaftlicher Leiter , also etwas kühler, moderner und mit Schlips und Kragen“. Mit „Der Sekretär“ hatte Böttcher seiner Utopie eines „demokratischen Sozialismus“ Gestalt gegeben, nicht von ungefähr fast zeitgleich mit den Reformbestrebungen in der CSSR. Was der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968 auch für Böttcher bedeutete, muss nicht näher ausgeführt werden.
Überlebenstraining
Dieses historische Umfeld und die damit verbundenen konkreten Umstände erklären, warum sich der Regisseur in anderen Filmen „anpasste“, anpassen musste. Arbeiten wie „Wir waren in Kal-Marx-Stadt“ (1967) über das Pfingsttreffen der Jugendorganisation FDJ oder „Dialog mit Lenin“ (1970), aber auch die Mitwirkung an offiziellen Huldigungsfilmen wie „Der Oktober kam...“ (1970) sagen nichts über einen eventuellen künstlerischen Niedergang, sehr viel indes über Unterordnungsstrategien und Überlebenstraining in der Diktatur, die sich Böttcher aus vielerlei Gründen nicht zu verlassen imstande sah. Böttcher, der als Maler nicht ausstellen durfte, als Spielfilmregisseur verboten und als Dokumentarist beargwöhnt wurde, musste, auch weil er im DEFA-Dokumentarfilmstudio fest angestellt war, solche Kompromisse eingehen. Es ist heute nur zu ahnen, wie viel Kraft es ihm – und manchen seiner Kollegen – gekostet hat, sein zutiefst persönliches Programm, seine innere Freiheit in anderen Filmen als den offiziell Gewünschten immer wieder zum Leuchten zu bringen.
Die „anderen“ Filme, aufgereiht wie Perlen an einer Kette. Neben den schon Genannten sei auf „Ofenbauer“ (1962) verwiesen, die veristische Beobachtung eines spektakulären Vorgangs: Innerhalb von 40 Tagen tauschen Arbeiter einen Hochofen von fast 2000 Tonnen Gewicht aus. „Stars“ (1963): das soziologisch erregende Gruppenporträt von Frauen eines Berliner Großbetriebs. „Wäscherinnen“ (1972): wieder ein Gruppenporträt, diesmal von Frauen einer Großwäscherei, die temperamentvoll und ungezwungen über Beruf und Privatleben Auskunft geben. „Im Lohmgrund“ (1976): Steinbrucharbeiter und Bildhauer in einem Sandsteinbruch. Wie viele andere Filme Böttchers auch dies eine Studie über Arbeit, Handwerk, Kraft. „Ein Weimarfilm“ (1977): ein Essay über die Klassikerstadt, das historische Widersprüche nicht ausspart, sondern in bisweilen verwegenen Montagen transparent macht.
Gegen Ende der DDR drehten Böttcher und sein langjähriger Kameramann Thomas Plenert (dem er mindestens ebenso viel zu verdanken hat wie den Kameramännern Christian Lehmann, Werner Kohlert, Wolfgang Dietzel) „Die Mauer“ (1990): ein Happening, das den Zusammenbruch des „antifaschistisch-demokratischen Schutzwalls“ mit dem langem Atem der Beobachtung feierte. Aber auch hier, wie unlängst in „Konzert im Freien“ (2001), versagte sich Böttcher alle didaktischen Kommentierungen oder aufklärerischen Thesen. „Erinnere dich mit Liebe und Hass“, so hieß einst eine seiner Arbeiten, und so könnte es auch über diesen bislang letzten Werken seines Oeuvres stehen: Schlüsselfilmen der erfühlten, erlittenen, artifiziell verdichteten Zeitgeschichte. Böttcher ist Künstler. Wer in ihm einen investigativen „Entlarver“ erhofft, hat ihn nie begriffen.
Ralf Schenk (filmdienst 14/2001)