Der Mann, der „Kuhle Wampe“ drehte.
Unvollständige Notizen zu Slatan Dudow (1903-1963)
von Ralf Schenk
Vor 40 Jahren, am Abend des 12. Juli 1963, starb Slatan Dudow bei einem Autounfall. Er war, nach anstrengenden Dreharbeiten, auf dem Weg nach Berlin, und weil die DEFA-Direktion ein paar Monate zuvor aus Sparsamkeitsgründen beschlossen hatte, personengebundene Chauffeure auf ein Minimum zu reduzieren, lenkte er seinen Wagen selbst. Neben ihm, dem vor Müdigkeit immer wieder die Augen zufielen, saß seine Hauptdarstellerin Annette Woska. Sie überlebte den Crash, lag Wochen im Koma, erfuhr auch danach lange nicht vom Tod ihres Regisseurs; der Film „Christine“, ihr von vielen Erwartungen begleitetes Debüt, blieb unvollendet.
Bald danach wurde Slatan Dudow in der DDR zum Säulenheiligen der „sozialistisch-realistischen Filmkunst“ stilisiert. Aber auch schon zu Lebzeiten hatte er als eine Art „Klassiker“ gegolten, vor allem wegen seines legendären Erstlings „Kuhle Wampe“ (1932) und einiger früher DEFA-Arbeiten. Dass er mit manchem dieser Filme kulturpolitischen Ärger gehabt hatte, war längst unwichtig geworden. Immer wieder wurden Dudows ältere Produktionen in Retrospektiven aufgenommen. 1974, zum 25. Jahrestag der DDR, brachte das Staatliche Filmarchiv sogar den nur teilweise vertonten Rohschnitt von „Christine“ ins Kino. Und bis 1988 veranstaltete der DDR-Filmverband alle zwei Jahre das „Slatan-Dudow-Seminar“, eine Debatte über Theorie und Praxis des Filmemachens bei der DEFA, in der mitunter sehr kritisch über den Stand der Dinge reflektiert wurde. Übrigens ganz im Sinne des Meisters, der ja auch kaum ein Blatt vor den Mund genommen hatte. Heute ist Slatan Dudow weitgehend vergessen. In Frage steht, ob ein Blick auf sein Oeuvre tatsächlich noch lohnt. Auf ein Lebenswerk, von dem Wolfgang Kohlhaase einmal sagte, Dudows Entwürfe seien stets größer gewesen als die fertigen Filme.
Vorbild Eisenstein
Im Herbst 1922, mit knapp 20 Jahren, war der in Bulgarien geborene Dudow nach Berlin gekommen, um Architektur zu studieren. Begeistert von Bühne und Film, wandte er sich jedoch bald der Theaterwissenschaft und der Schauspielerei zu, hospitierte bei Fritz Lang („Metropolis“), war Chormitglied bei Piscator und lernte Bertolt Brecht kennen. 1929/30 wirkte er als Regieassistent an einigen Dokumentarfilmen der kommunistischen Weltfilm GmbH mit. Und er sah Sergej Eisensteins „Das Alte und das Neue“, eine Arbeit, die ihn nachhaltig beeindruckte. Tatsächlich sollten Themen und Elemente dieses Films später in vielen der eigenen Arbeiten wiederkehren: die Symbiose von gesellschaftlicher und individueller Emanzipation; der beißend satirische Blick auf Kleinbürger, Bürokraten und „Reaktionäre“; die konfrontative Montage. Der Triumphzug der Traktoren oder die Ingangsetzung der Milchzentrifuge bei Eisenstein fand seine Entsprechung in der Traktorenszene von „Unser täglich Brot“ (1949) oder den Bildern eines „volkseigenen“ Stahlwerks in „Frauenschicksale“ (1952); von den feisten Kulaken des russischen Filmpamphlets führte ein gerader Weg zu den stiernackigen Biertischstrategen in „Familie Benthin“ (1950) oder den alt-nazistischen Wirtschaftsbossen in „Der Hauptmann von Köln“ (1956). Die Idee, dass erst Arbeit den Menschen zur eigentlichen Lebensbestimmung, zu Glück und Zukunftsgewissheit führt, hatte sich bei Eisenstein mit der Gründung einer Molkereigenossenschaft durch die Bäuerin Marfa Lapkina manifestiert ein Einzelschicksal als „Lehrstück“ für gesellschaftliche Aufbrüche. Auch Dudow bettete den Einzelnen immer ins große Ganze ein: Das Individuum repräsentierte bei ihm stets Zustände, Wege und Ziele der Gesellschaft, nie nur die Befindlichkeit des eigenen Bauchnabels.
Das didaktische Prinzip
Dudow, der 1933 ins Exil gegangen war, 1946 aus der Schweiz nach Ost-Berlin zurückkehrte und dann sein Können der „neuen Gesellschaft“ in der DDR zur Verfügung stellte, die er – wie viele andere Künstler und Intellektuelle – für die einzig mögliche Antwort auf die Irrwege des 20. Jahrhunderts hielt, ordnete seine Stoffe dem Zweck des „Bessern und Bekehren“ unter. Das lässt die Filme heute bisweilen arg didaktisch erscheinen; freilich spiegeln sie zugleich die Ideen, Hoffnungen und Zwänge der jeweiligen Entstehungsphase. Dudows Arbeiten sind Zeitdokumente par excellence: parteilich, kompromisslos, hochpolitisch. Das beginnt schon vor „Kuhle Wampe“ mit Dudows Kurzfilmdebüt „Wie der Berliner Arbeiter wohnt“ (1930). Schmutzige Hinterhöfe contra sonnige Villenviertel; der fette Bourgeois, der seinen Hund füttert, als Gegenpol zu ausgemergelten Kindern. Ein cineastischer Beleg für Brechts Aufforderung „Ändere die Welt: Sie braucht es!“ Noch tilgte die Zensur aus diesem Film das Finale: „Rote Sportler marschieren auf, und stählen ihren Körper zum entscheidenden Kampf.“ Zwei Jahre später, in „Kuhle Wampe“, den Dudow gemeinsam mit Brecht realisierte, wurde diese Apotheose dann nachgeholt: Die Geschichte des Arbeitermädchens Anni (Hertha Thiele), das mit seiner Familie exmittiert wird und in einer Berliner Zeltkolonie Unterschlupf findet, mündet direkt in ein „proletarisches Sportfest“, in die Auftritte von Agitprop-Gruppen und Massen kommunistischer Arbeiter. Dass diese im Schlussbild in einen Tunnel marschieren, wurde später als visionäre Vorwegnahme des Schicksals der KPD im Dritten Reich gesehen. Im März 1933 verboten, blieb „Kuhle Wampe“ bis 1945 unter strengstem Verschluss. Nach dem Krieg galt der Film zunächst als verschollen; erst 1958 gelangte eine in der Sowjetunion gefundene Kopie wieder in die Kinos der DDR.
Die Stilistik der Avantgarde
Die Zensurbehörden der Weimarer Republik hatten über „Kuhle Wampe“ geurteilt, er sei eine Mixtur aus „Spielfilm, Propagandafilm und Reportage“. Tatsächlich warteten Dudow und Brecht mit einer „neuen Art des Abbildens und Gestaltens auf, die das Individuelle mit dem Dokumentarischen verbindet und aus dem Konkreten eine kommentierende Verallgemeinerung ableitet“ (Wolfgang Gersch). Scheinbar disparate Elemente fügten sich zu einem dialektischen Zeitbild: die dokumentarisch wirkenden Bilder von Arbeitslosen, die auf Fahrrädern nach Jobs rasen; der karikaturhaft verzerrte Vater, der einen Boulevardartikel über die Nackttänzerin Mata Hari vorliest; die Sportwettkämpfe; die Liebesgeschichte; die lehrstückhafte politische Diskussion in der S-Bahn, bei der, ausgehend von der Zeitungsmeldung, dass in Brasilien Kaffee tonnenweise vernichtet würde, Konservative und junge Arbeiter aneinander geraten. Auch Dudows spätere DEFA-Filme betraten immer wieder ein Terrain jenseits des Illusionskinos. Zwar scheute sich Dudow als überzeugter Sozialist nicht, sich mit der jeweils aktuellen politischen Linie der SED in Übereinstimmung zu bringen – eine Haltung, die sich nach „Unser täglich Brot“ mitunter wie Blei auf die Filme legte. Und dennoch: Von „Frauenschicksale“ (1952) bleiben weniger die Reden und Paraden, die im letzten Drittel eine strahlende Zukunft verheißen, in Erinnerung als vielmehr der sozial und psychologisch genaue Blick auf die Befindlichkeit einer Gesellschaft, deren Männer im Krieg geblieben sind und deren Frauen die Lasten des Alltags zu tragen haben. Die Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe, der Wunsch, sich durch ein schönes Kleid aus dem tristen Alltag zu erheben (von Sonja Sutter in einer der Hauptrollen bravourös dargestellt), sind große, bleibende Momente.
Schon „Familie Benthin“, ein eilig hergestellter Auftragsfilm der SED zur Wahl 1950, in dem die junge DDR mit der „untergehenden Gesellschaft“ des Westens konfrontiert wurde, hielt unter anderem jene grandiose Szene parat, in der sich ein junger Arbeitsloser (Ottokar Runze) vom Kauf eines breitkrempigen amerikanischen Hutes gesellschaftliches Renomee erhofft, dann aber doch nur Ausgrenzung erlebt: ein Gegenstand als Symbol für den Widerspruch zwischen Schein und Sein. Am Ende des Films erfährt die Mutter des Jungen (Maly Delschaft), dass ihr Sohn, der sich von der Fremdenlegion anwerben ließ, in Vietnam gefallen ist. Zu ihren Tränen erklingt die neue DDR-Nationalhymne mit den Zeilen „...dass nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint“. Der Text dieser Hymne stammt von Johannes R. Becher der maßgeblich auch am Drehbuch zu „Familie Benthin“ beteiligt war. So fremd solche Didaktik heute auch sein mag: Tatsache bleibt, dass es Dudow selbst in seinen heftigsten Lehrstücken immer wieder gelang, den konservativen Filmstil des deutschen 1950er-Jahre-Kinos aufzubrechen und zu unterlaufen. Er blieb, wenn auch durch Parteiauflagen gebremst und „im Dienst der Sache“ befangen, ein Avantgardist.
Was zu entdecken wäre
Dudow schmales DEFA-Oeuvre, das aus lediglich sieben Spielfilmen (darunter dem unvollendeten „Christine“) besteht, hält im Abstand der Jahre manche Entdeckung parat. „Stärker als die Nacht“ (1954), sein Gegenentwurf zu Kurt Maetzigs offiziösem „Thälmann“-Opus, schilderte nicht nur Widerstand „von unten“, sondern beharrte zugleich auf einem starken, eigenständigen, freien Deutschland als Hoffnung der Antifaschisten: ein zutiefst nationaler Film. „Der Hauptmann von Köln“ (1956), eine Satire auf westdeutsche Altnazis, die es bis in die Spitze von Wirtschaft und Politik bringen, überraschte durch vergleichsweise unverzerrte Töne: Der Stil eines George Grosz, der noch für die Westberlin-Bilder in „Frauenschicksale“ Pate gestanden hatte, war hier einer eher realistischen Optik gewichen. „Verwirrung der Liebe“ (1959) verzichtete auf konfrontative Momente; trotz der noch offenen Stadt siedelte Dudow seine Jugend- und Studentenkomödie ganz im östlichen Teil Berlins an; der Westen war für ihn uninteressant geworden. Mit „Christine“ schließlich, der Geschichte einer Landarbeiterin, die vier Kinder von vier Männern bekommt, kehrte der Regisseur erneut zum Thema der Emanzipation der Frau zurück: einem seiner Schlüsselthemen. Auf Slatan Dudow, den streitbaren, monomanischen Fels, setzte auch die neue, aufgeschlossene DEFA-Leitung, die 1960/61 etabliert wurde, große Stücke – obwohl sie wusste, dass er stets Drehpläne und Kosten überzog und als rundum „schwierig“ galt. Die Frage, was er in den künstlerischen Freiräumen der „Tauwetter“-Zeit gemacht hätte, die bis zum Herbst 1965 anhielt, muss allerdings unbeantwortet bleiben.
Ralf Schenk (filmdienst 14/2003)