Die unvollendete Geschichte.
Gespräch mit Winfried Junge
von Ralf Schenk
Winfried Junge, geb. am 19. 7. 1935 in Berlin, wurde durch die Chronik „Lebensläufe – Die Kinder von Golzow“ berühmt: Die umfassende Langzeitbeobachtung erzählt von Menschen der Jahrgänge 1953–55, die in der DDR geboren wurden, aufwuchsen und in der Mitte ihres Lebens Bürger der Bundesrepublik Deutschland wurden. Das Kino Arsenal in Berlin zeigt bis zum 31. August alle 18 Filme.
Sie haben an einem Schrank in Ihrem Schneideraum einen Zettel mit dem Spruch kleben: „Fange nie an aufzuhören.“ Dennoch montieren Sie derzeit mit Ihrer Frau den letzten Film über die Kinder von Golzow im Oderbruch. Wie verträgt sich das?
Junge: Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Das einzelne Leben ist, im Gegensatz zu dieser unendlichen Geschichte, endlich, und wenn man die 70 erreicht, sollte man auch ans Loslassen denken. Ich denke, wenn wir die letzten Büchsen durchgesehen und zehn Geschichten erzählt haben, die noch offen sind, dann kann es auch gut sein.
Sie haben 1961 angefangen, die Kinder von Golzow vom ersten Schultag an ins Leben zu begleiten. Im Februar 2006 wird während der „Berlinale“ vermutlich der letzte Golzow-Film zu sehen sein. Wie soll er heißen?
Junge: Darüber denken wir immer erst ganz am Ende nach. Der Arbeitstitel lautet „Golzow – Das Ende der unendlichen Geschichte“. Man könnte auch den berühmten Satz „Und wenn sie nicht gestorben sind...“ verwenden. Er hat hier seine Berechtigung, denn die Geschichten der zehn Golzower gehen ja alle weiter, obwohl wir sie nun nicht mehr filmen.
In „Lebensläufe“ (1981) haben Sie schon einmal nacheinander neun Porträts erzählt. Wird der neue Film eine ähnliche dramaturgische Struktur haben? Oder montieren Sie die Geschichten der einstigen Klassenkameraden diesmal ineinander?
Junge: Zunächst waren wir geneigt, die Dinge im Wechsel von einem zum anderen zu erzählen und so über den Zeitraum von fast 45 Jahren zu kommen. Da sich die Struktur von „Lebensläufe“ damals aber sehr bewährt hatte und dem Zuschauer eine gewisse Übersichtlichkeit ermöglichte, sind wir auch diesmal wieder zur Form der Einzelporträts zurückgekehrt. Innerhalb jedes dieser Porträts kann ich, wenn es sich anbietet, mit den Aufnahmen aus verschiedenen Zeiten spielen. Aber mit zehn Bällen gleichzeitig zu jonglieren und sie immer wieder aufzufangen, das scheint mir dramaturgisch unmöglich.
Nach Ihrem Kompaktfilm „Drehbuch: Die Zeiten“ (1994) haben Sie bis 2003 insgesamt sieben Einzelporträts von jeweils etwa zwei Stunden Länge vorgelegt. Die hier geschilderten Biografien sind „abgearbeitet“, sie kommen diesmal nur noch in Gruppenaufnahmen vor. Was bringen die zehn Golzower, die Sie diesmal zeigen, Neues ins Gesamtprojekt ein?
Junge: Bei diesen Porträts achten wir nochmals sehr auf die Unterschiedlichkeit der Lebenswege. Wir schaffen Kontraste und damit ein schönes Panorama: Wir hoffen, den unpolitischen Golzower ebenso zeigen und verständlich machen zu können, wie denjenigen, der sich sehr für den Staat DDR engagiert hat, also jene, die ihn ehrlichen Herzens mittragen wollten, indem sie zu leitenden Funktionen bereit waren. So können wir zum Beispiel sehr viel über die Enttäuschung erzählen, die der Fehlversuch DDR hinterlassen hat. Es gibt welche, die auf dem Lande blieben, und andere, die weggingen. Wer hat die üblichen Berufe ergriffen, die man mit dem Abschluss der achten oder zehnten Klasse bekommen konnte, wer wollte mehr, und was haben sie oder er dann wirklich erreicht? Natürlich kommen jetzt auch Wege in den Westen Deutschlands dazu; die meisten unserer Golzower Kinder sind ja inzwischen anderswo, nur fünf aus dem engeren Kreis blieben in ihrer Heimat. Wir versuchen, das Spezifische eines jeden Lebens bestmöglich zu fassen und damit auch darzustellen, wohin die Wege aus einem gemeinsamen Buddelkasten führen können. Unser einstiger Autor Uwe Kant hatte schon früher getextet: „Am ersten Schultag betreten sie alle das gleiche Sprungbrett. Wie weit trägt der Flug den Einzelnen?“
Haben Sie mit allen zehn, die Sie nun porträtieren, von 1961 bis 2005 gedreht?
Junge: Nein, manche Geschichten brechen schon in der DDR ab, manche gleich nach der deutschen Vereinigung. Zwei Jungs und ein Mädchen hatten wir bis zu drei Jahrzehnte lang nicht mehr gefilmt, nun aber traten sie doch noch mal vor die Kamera, sprachen über Arbeit, Familie, Lebensumstände, und wir durften auf einem 50. Geburtstag drehen. Das Reizvolle an dem Projekt ist das Bekenntnis zum Fragment. Wir wollen durchaus auch über Gründe reflektieren, warum manche nicht mehr vor die Kamera gegangen sind, wegen ihrer Arbeitslosigkeit und des damit verbundenen sozialen Abstiegs oder wegen ihres einstigen politischen Engagements oder auch schlicht wegen eines Wegzugs als Schlusspunkt für ihr Mitwirken.
Für Sie ist der Fall der Mauer ein beruflicher Glücksfall gewesen, dadurch wurden die Lebensläufe der Kinder von Golzow noch einmal kräftig aufgewirbelt, und der Film erhielt eine größere Perspektive. Wie sieht es mit den Golzowern selbst aus: Welche Gefühle dominieren dort, wenn über die Zeit nach 1990 nachgedacht wird?
Junge: Das ist unterschiedlich. Wer Arbeit hat und gut verdient, ist natürlich zufriedener als einer, dem viele Felle davon geschwommen sind. Wer 50 und Hartz-IV-Empfänger ist, noch dazu in einer Gegend, in der die Arbeitslosigkeit hoch ist, der verliert schon den Mut. 15 Jahre nach der Vereinigung treffe ich auf mehr Skepsis und Fragezeichen als auf frohgemute Menschen.
Mit den Golzow-Filmen sind Sie seit vielen Jahren auch im Ausland unterwegs. Wie kommt die Langzeitdokumentation dort an? Was gibt es für Fragen?
Junge: Die Diskussionen werden immer sehr schnell politisch. Man will wissen, was das für ein Staat war, diese DDR, und ich spüre oft auch Reibung mit dem Wissen, das die Zuschauer bisher davon hatten. So taucht öfter die Frage auf, warum wir nie über die Staatssicherheit reden. Ganz einfach, weil wir noch immer sagen können, dass von unseren Golzowern niemand aktiv oder passiv betroffen war! Hätten wir ein Beispiel, dann würden wir auch darüber nachdenken, wie wir damit umgehen. So liefert der Film auch Material gegen die Klischees. Das dankt man uns aber auch, mit ungeheuer viel Wissbegier und Freundlichkeit, und auch mit so etwas wie dem „Preis der Bürger“, den wir 1995 im japanischen Yamagata erhielten.
Sie werden am 19. Juli 70 Jahre alt. Rund 45 Jahre werden Sie mit dem Golzow-Projekt verbracht haben, wenn es endet. Würden Sie, wenn Sie jung wären, noch einmal mit einer solchen Dokumentation beginnen?
Junge: Vermutlich ja, denn es hat uns ja großen Erfolg gebracht. Mit dem Wissen von heute würde ich freilich manches anders machen. Allerdings wird mir, wenn ich das äußere, auch gesagt: Warum? Steckt im Ursprünglichen nicht ein Wert? Auch die Fehler haben ihren Reiz und gehören dazu! Was mich jetzt viel mehr bewegt, ist, dass meine Frau Barbara und ich auch den letzten Film mit Anstand bewältigen. Schließlich soll niemand sagen: Na, das hätten sie auch lassen können.
Wie viel Filmmaterial gibt es insgesamt aus Golzow? Und: Wo wird das gesamte Konvolut, das eine unschätzbare Quelle für politische und soziologische Forschungen darstellt, nach dem Ende der Filmarbeit aufbewahrt?
Junge: Wir schätzen das Golzow-Material auf rund 300 Kilometer Film und Video, das sind etwa 180 Stunden. Das ist gar nicht so viel, wenn man bedenkt, was heute auf Video so alles „heruntergekurbelt“ wird. Verwendet haben wir rund 33 Stunden in 18 Filmen. Das Material geht am Ende der Arbeiten vertragsgemäß ins Bundesarchiv-Filmarchiv. Barbara ordnet mit ihrer Negativ-Assistentin alles und erarbeitet auch entsprechende Listen, in denen alle Details erfasst sind.
Neben der Golzow-Reihe haben Sie zahlreiche andere Filme gedreht. Wenn Sie Ihr Werk Revue passieren lassen: Was liegt Ihnen davon besonders am Herzen?
Junge: In ungeordneter Reihenfolge: „Studentinnen“ (1965) über junge Frauen an der Technischen Hochschule Ilmenau, der in Mannheim eine lobende Erwähnung erhielt, das war meine erste Westreise; dann „Mit beiden Beinen im Himmel“ (1968) über einen Kapitän der Interflug, für den ich eine „Silberne Taube“ in Leipzig bekam; auch mein einziger Spielfilm „Der tapfere Schulschwänzer“ (1967), eine Gegenwartsgeschichte für Kinder, gehört dazu, von dem Andreas Dresen heute noch schwärmt. Dann „Keine Pause für Löffler“ (1975) über eine disziplinarisch ziemlich schlimme Berliner Schulklasse und ihren Lehrer. Ich hänge sehr an Filmen über Somalia und England oder Markersbach, eine Großbaustelle in der DDR. Und an „Wenn jeder tanzen würde, wie er wollte, na!“ (1972) über den Kontrast Tanzschule und Beat. „Auf der Oder“ (1970) hat seine Reize, über einen gemeinsamen deutsch-polnischen Eisaufbruch auf der Oder, was auch als eine Metapher verstanden werden konnte.
Wie stellen Sie sich Ihr Leben ohne Kamera und Schneideraum vor?
Junge: Es wird 2006 eine Neuauflage unseres Buchs über die Golzower Lebensläufe geben, das schon zweimal vergriffen war. Dafür möchte ich all jene kleinen Fehler verbessern, die mir inzwischen aufgefallen sind; außerdem muss über die Einbeziehung des letzten Films nachgedacht werden. Nach wie vor reisen wir viel durch die Welt, die Goethe-Institute arbeiten mit unseren Filmen, Festivals laden uns ein; da gehen die nächsten Jahre bestimmt schnell vorüber. Zu schnell für mein Alter.
Und die Filmarbeit selbst?
Junge: Da wir den Schneideraum aufräumen und das Material geordnet übergeben müssen und wollen, wird es ein langsames Abtrainieren geben. Aber wehe, wenn wir in den Büchsen noch Möglichkeiten entdecken, etwas Neues anzufangen! Ich möchte mir das eigentlich versagen – oder?
Ralf Schenk (filmdienst 14/2005)