Belästigungen.
Die Filme des Dokumentaristen Karlheinz Mund
von Ralf Schenk
Mitte der 70er Jahre drehte Karlheinz Mund den 20minütigen Dokumentarfilm „WML – Steiger oder Maler“. Der Held, ein greiser Laienkünstler, reflektiert über sein Leben. Er war Bergmann und brachte auf die Leinwand, was er kannte: heimkehrende Kumpel, eine Vesper, einen Motorentransport. „Realistische Bilder voll proletarischen Stolzes“, resümiert der Kommentar. Am Schluß zieht der 80jährige Bilanz: Seine frühen Arbeiten seien die besten gewesen, sagt er, und daß es heute vielen um ihn herum gut gehe, rege ihn künstlerisch nicht unbedingt an. Denn: „Immer nur das Glück zeichnen, das ist ja langweilig.“ Dieser Satz könnte als Credo auch über dem Oeuvre von Karlheinz Mund stehen. 1937 geboren, drehte er seit 1963 rund 60 Filme, die meisten davon für die DEFA. Mund arbeitete kontinuierlich und leise. Er gehörte nie zu den formalen Avantgardisten wie Jürgen Böttcher, obwohl in seinen besten Filmen Inhalt und Form zu einer außerordentlichen Kongruenz fanden. Und er biß sich auch nicht an einem Lebensthema fest, obwohl auch er mit der Kamera gelegentlich zu Leuten oder Landschaften früherer Filme zurückkehrte. Offiziellen Forderungen nach ungetrübtem Optimismus hat sich Mund dabei nie gebeugt; statt dessen forschte er häufig an der sogenannten Peripherie, bei Menschen, die selten im Rampenlicht stehen.
"Sie brauchen uns"
Behinderte Kinder, beispielsweise. In der DDR gehörte Beharrlichkeit dazu, sie auf die Leinwand oder den Bildschirm zu bringen; sie entsprachen nun einmal nicht, so zynisch das klingt, dem Ideal des sozialistischen Helden. Munds Reportage „Sie brauchen uns. Beobachtungen in einer Hilfsschule“ (1981) lag ein Jahr lang auf Eis: eine sensible Annäherung an den Lernalltag hirngeschädigter Kinder und zugleich eine Hommage an deren Lehrer. Beeindruckend das Gespräch mit den Eltern eines behinderten Mädchens aus einem mecklenburgischen Dorf, die über ihre Erfahrungen reden: die Unsicherheit, Hilflosigkeit, die Distanz zur Umwelt, die Freude über kleine Erfolge. Als „Sie brauchen uns“ im Fernsehen der DDR ausgestrahlt wurde, gab es Briefe von Zuschauern, die sich durch die Bilder belästigt fühlten...
Dennoch ließ sich Mund nicht von weiteren solcher „Belästigungen“ abhalten. In „Eisenbahnfamilie“ (1984) kehrte er zur Heldin seines Diplomfilms „15 000 Volt“ (1963) zurück, einer Lokführerin, deren geistig schwer behinderter Sohn als „nicht bildungsfähig“ galt. In „Spielzeug für die Schwächeren“ (1986) porträtierte er eine über 80jährige Frau, die es sich ein Leben lang zum Ziel gemacht hatte, fantasievolles Spielzeug zu erfinden, mit dem die Distanz zu behinderten Kindern überbrückt werden kann. Der Film bot Einblicke in eine „geschützte Werkstatt“, in der behinderte Jugendliche selbst dieses Spielzeug herstellen. Die Kamera blickt über deren Schultern, beobachtet die Hände, die mühevoll mit Hammer oder Nadel umzugehen lernen: Handarbeit als Therapie. Auch in „Schulstunde mit Torso“ (1989) oder „Schulstunde mit Ton“ (1991) werden Erfahrungen von Kindern und von Pädagogen reflektiert. Dabei mündet die Beobachtung mitunter ins Parabelhafte, so wenn der Lehrer in „Schulstunde mit Torso“ davon redet, daß er seine Schüler befähigen möchte, weg vom oberflächlichen Betrachten der Umwelt zu tieferen Erfahrungen zu gelangen. Sind wir, so fragt der Film, nicht alle irgendwie „beschädigt“, indem wir uns zu wenig gegen das Chaos der Reizüberflutung wehren und den Sinn für das Wesentliche vergessen?
Fußnoten zur Kunst
Zu einem anderen Fixpunkt im Schaffen von Karlheinz Mund wurden Künstlerporträts – freilich nicht schlechthin bebilderte Lebensläufe, sondern Biografien als Spiegel der Zeit, als Essays über Wurzeln künstlerischer Kreativität. „Die Mit-Arbeiterin“ (1972) holt die 75jährige Elisabeth Hauptmann, eine enge Vertraute von Bertolt Brecht, vor die Kamera, vor der sie jedes ihrer Worte genau abwägt. Wie war es denn nun, das Verhältnis zwischen Brecht und „seinen“ Frauen? Wie arbeitete das „Kollektiv“ konkret? Und behinderte die enge Anbindung an den Dichter nicht das eigene Schöpfertum? Hauptmann, in deren Antlitz sich durchaus Spuren von Verletzungen und Verbitterung zeigen, bleibt auf entsprechende Fragen distanziert und dem Meister gegenüber loyal: „Alle wußten: Er wußte soviel mehr als wir.“ Gerade die Spannung zwischen solchen Worten und den Regungen des Gesichts macht den Reiz der „Mitarbeiterin“ aus. Bezeichnend war, daß Mund keinen Film über Brecht, sondern über eine Frau drehte, die weitgehend „hinter den Kulissen“ agierte. Was bisher nur als Fußnote zur Kunst- und Zeitgeschichte wahrgenommen worden war, bekam plötzlich einen neuen Stellenwert. Auf dieser Suche nach Unbekannten, Unentdecktem gelangen Mund einige seiner schönsten Arbeiten. Zum Beispiel „De Geyter – Geschichten eines Liedes“ (1978), in dem mit Hilfe weniger Fotos und Dokumente der Lebenslauf von Pierre de Geyter rekonstruiert wurde: ein Holzarbeiter und Amateurkomponist, der 1888 die Melodie zur „Internationale“ schuf. Als die UdSSR dieses Lied zu ihrer ersten Nationalhymne erkoren, war De Geyter in St. Denis ... Trotz des offiziösen Stoffes, ja in bewußtem Gegensatz zur klassenkämpferischen Attitüde verzichtete Mund auf jedes Pathos; statt dessen überraschte er die Zuschauer mit spannenden juristischen Verwicklungen. De Geyter hatte die Partitur aus Angst, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, nicht mit dem Vornamen gezeichnet; sein Verleger nutzte diesen Umstand und ergaunerte sich jahrzehntelang die Tantiemen.
Kriminalistisches Gespür bewies Mund auch bei der filmischen Recherche nach Franz Marcs „Turm der blauen Pferde“. In „Geschichte eines Bildes“ (1988) beschreibt er Etappen aus der Biografie des expressionistischen Malers und verfolgt den Weg des berühmten Gemäldes, das von den Nazis als „entartete Kunst“ gebrandmarkt und von Göring vermutlich gegen ausländische Antiquitäten getauscht wurde. „Vom Büchermachen in finsterer Zeit“ (1984) nähert sich dem jüdischen Verleger Fritz H. Landshoff, der vor 1933 in Deutschland Bücher von Lion Feuchtwanger, Joseph Roth oder Anna Seghers herausgab und im niederländischen Exil eine neue literarische Heimat für verfemte und vertriebene Dichter etablierte. Der Kamera begleitet Landshoff bei einer Reise durch die DDR, zu Stätten seiner Jugend. Emotionaler Höhepunkt ist ein Besuch in der Leipziger Deutschen Bücherei, wo die Bände seines Amsterdamer Querido-Verlags aufbewahrt werden: Noch nie hatte der weißhaarige Mann den Kern seines Lebenswerks so komplett vor sich gesehen.
Munds formal geschlossenster Film zur antifaschistischen Thematik entstand 1966: „Memento“, nach einem Drehbuch von Günter Kunert. Ein Requiem in Schwarz-weiß, sein Gegenstand: die jüdischen Friedhöfe in Berlin. Die Kamera Werner Kohlerts fährt vorbei an verwitterten Gräbern, brennt einzelne Inschriften ins Bewußtsein der Zuschauer: verschleppt, ermordet, verschollen, Theresienstadt, Auschwitz. Jedes Wort ein Schrei. Der Sprecher erinnert daran, daß von über 160.000 Juden, die 1933 in Berlin wohnten, am Ende des Krieges nur noch 3.500 lebten. Im Schlußbild meißelt ein Graveur das Wort „Memento“ in einen Stein – Hammerschläge wider das Vergessen. Während der ersten Abnahmen wurde Mund mit dem Vorwurf konfrontiert, der Film beweise, indem er Gras und Blätter auf Gräbern und Wegen zeige, die Unfähigkeit der DDR, jüdische Friedhöfe ordentlich zu pflegen. Eine absurde Interpretation – und nicht die letzte Unterstellung, gegen die sich der Regisseur zur Wehr setzen mußte.
Kultur und Geschichte
Schon 1969 nahm ihm die Direktion des DEFA-Dokumentarfilmstudios die freundlich verklärende „Sommerreise“ aus der Hand; später fertigte ein Regiekollege eine kürzere Schnittfassung, die unter demselben Titel, aber ohne Munds Einverständnis ins Kino kam. Grund des Eingriffs: Karlheinz Mund hatte in dem Film über die Ukraine unter anderem an den Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion erinnert. Die Zensurbehörden der DDR aber wollten jeglichen gedanklichen Parallelen zum Einmarsch der Warschauer Vertragsstaaten in die CSSR vorbeugen. So wurden Erinnerungen von Veteranen des Weltkrieges weitgehend getilgt. Im selben Atemzug fielen der Schere auch Verweise auf Gogol und alte Bautraditionen und sogar das Läuten einer Kirchenglocke zum Opfer. Unzerstörbar blieben indes Christian Lehmanns faszinierende Schwarz-Weiß-Bilder in CinemaScope-Format: die Totalen weiter Landschaften oder Szenen eines Erntefestes.
Munds russisches Refugium wurde das harte, kalte Westsibirien, wo er die Arbeit von Straßenbauern und an Ölförderanlagen filmte. „An Ob und Irtysch“ (1975), „Nordzuschlag“ (1976) und „Köchin in der Taiga“ (1977) beschrieben, wenn auch etwas unkonzentriert, die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und mit sich selbst: Wer bleibt angesichts widriger Umstände stark, wer wird schwach, und: Hat der Schwache das Recht, schwach zu sein? „In Polnowat am Ob“ (1987) folgt dann den Spuren des deutschen Emigranten Wolfgang Steinitz, der Mitte der 30er Jahre als Ethnologe ins Gebiet Tjumen aufgebrochen war – ein filmisches Plädoyer für den Aufwand, der betrieben werden muß, um die Kulturen kleiner Völker vor dem Aussterben zu bewahren.
Munds Interesse für Entdeckungen abseits der Hochkultur war seit jeher vielfältig: Schon in „Harlekin, Pantalone und wir“ (1964), seinem Kinodebüt, zeigte er Pantomimen auf der Suche nach verfeinerten Ausdrucksmöglichkeiten. In „Mein Freund Genek“ (1972) stellte er einen polnischen Betriebsdirektor vor, der in seiner Freizeit Gedichte übersetzt und schreibt, auch boshafte satirische Verse: „Am Marktplatz bau’n sich Häuser auf die Spießer, die bereit sind, jeden König zu empfangen.“ Ein Film über das ungewöhnliche Zusammenfließen von Nüchternheit und Spiel der Fantasie, zugleich ein Beleg für die Entkrampfung des Verhältnisses zwischen Deutschen und Polen zu Beginn der 70er Jahre. Am Ende desselben Jahrzehnts, als die unabhängige Gewerkschaft Solidarnósc gegründet wurde und in Polen Demokratie einklagte, wäre ein solcher Film schon wieder undenkbar gewesen.
„Walter Ballhause – einer von Millionen“ (1982) porträtierte einen Arbeiterfotograf, dessen Aufnahmen aus der Weltwirtschaftskrise erst 50 Jahre nach ihrer Entstehung berühmt wurden; und in „Ein Bild malen ist wie Mais anbauen“ (1985) erzählte Mund über Bauernmaler in Nicaragua – eine Studie, die auch eine andere Linie seines Schaffens berührt: jene Arbeiten, mit denen er sein Verständnis von Solidarität unter Beweis stellte, wie „Helft Vietnam!“ (1966) oder Studien über griechische und spanische Emigranten in der DDR. Ein kritischer Blick auf den Umgang mit ausländischen „Gastarbeitern“ gelang ihm in „Compañera Inge“ (1983) über den Alltag von Kubanern in einer Oberlausitzer Maschinenfabrik, die Distanz vieler Deutscher gegenüber den Lateinamerikanern und ihrer Kultur, die Einsamkeit der jungen Männer und die Mühen einer deutschen Betreuerin, die praktische Lebenshilfe leistet.
Kritische Nähe zur DDR
Wie hier, so artikulierte Mund auch in anderen wichtigen Arbeiten seine Kritik an Zuständen in der DDR – und weil das auf direkte Weise kaum möglich war, versuchte er es auf eine feine, hintersinnige Art. In „Stadtlandschaften“ (1982) porträtierte er drei Maler, deren Bilder Schönheiten und Häßlichkeiten urbaner Architektur spiegeln – und zwar umgekehrt zur offiziellen Sichtweise: die Schönheit alter Straßenzüge und die Zwiespältigkeit neuer Satellitenstädte (am Beispiel des umstrittenen Hallenser Malers Uwe Pfeiffer). In „Erinnerungen an Otto René Castillo“ (1979) fragte Mund an Hand der Biografie eines jungen guatemaltekischen Lyrikers nach Möglichkeiten, radikal für die Verwirklichung der Utopie zu leben: ein unerfüllbarer Wunschtraum für junge Bürger der abgeschotteten, verkrusteten DDR. „Spanien im Herzen“ (1985) schließlich war eine Verbeugung vor den republikanischen Kämpfern im Spanienkrieg, besonders vor Hans Beimler, der sich mit seiner Wißbegier, Volksnähe und seinen unorthodoxen Entscheidungen grundsätzlich von den Oberen in der DDR unterschied.
Einige späte Filme Munds über die ostdeutsche Gegenwart gerieten zu erregenden soziologischen Untersuchungen. Gerade im Vergleich mit agitatorischen Reportagen des Fernsehens der DDR erwiesen sich diese Studien als ausgesprochen „demokratisch“: Interviewpartner wurden hier nicht als Beleg für eine bereits vor Beginn der Dreharbeiten feststehende These mißbraucht, sondern mit ihren Sorgen ernst genommen. So artikulierte „Probleme am laufenden Band“ (1988) den Zorn von Beschäftigten des Motorenwerks Nordhausen auf die Mängelwirtschaft und die ungenügende Arbeitsorganisation. In „Warteschleife“ (1991) kehrte der Regisseur noch einmal zu denselben Arbeitern zurück und machte, diesmal kommentarlos, deren Resignation über ihre von Arbeitslosigkeit betroffene ehemalige Industrielandschaft transparent. Kritisch-differenzierte Rückblicke auf die Geschichte der DDR rundeten in den letzten Jahren das Werk von Karlheinz Mund ab: abendfüllende Filme, die oft auf Erfahrungen bekannter Persönlichkeiten basieren: „Aufgeben oder neu beginnen – Walter Janka“ (1990), „Zeitschleifen – Im Dialog mit Christa Wolf“ (1991) oder „ABF-Memoiren“ (1992), Reminiszenzen unter anderem von Erich Loest, Hermann Kant und Hans Mayer an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, eine ebenso legendäre wie zwiespältige Bildungseinrichtung der jungen DDR.
Karlheinz Munds neueste Produktion kommt im Herbst ins Kino und trägt den Titel „Das Bergwerk“: ein Essay über die letzten Jahre des Dichters Franz Fühmann. Dessen nachgelassener großer Entwurf vom Eindringen in einen Schacht, über die Arbeit unter Tage diente ihm als Metapher für das Scheitern seines Lebensplanes. Ein intellektueller Diskurs, auf dessen filmische Auflösung man gespannt sein darf.
Ralf Schenk (filmdienst 15/1998)