Märchenland Ost.
Die satirische Kurzfilmreihe „Das Stacheltier“
von Cornelia Fleer
Dass es in der ehemaligen DDR so etwas wie „Widerspruchsgeist“, „Poesie des Alltags“ und „sozialistische Illusionen“ gab, belegt die satirische DEFA-Kurzfilmreihe „Das Stacheltier“, die im Westen bis zum Fall der Mauer eine Terra incognita war. Aus insgesamt 275 Kurzfilmen – darunter drei in der DDR verbotene Episoden – hatte das diesjährige Kurzfilmfest Dresden (vgl. fd 11/03) eine retrospektive Auswahl von rund zwei Dutzend Kurzfilmen zusammengestellt.
Da tobt ein leibhaftiger Tiger in einem Badezimmer. Mal geht er die Wände hoch, mal spielt er mit dem Klopapier wie ein Kätzchen mit einer Garnrolle, mal sitzt er in der Badewanne und brüllt. Ein klarer Fall „artfremder Nutzung“, der den Chef der Wohnungsverwaltung beschäftigt. Bürokratie, Wissenschaft und Versicherung spenden dem Mieter tröstende Worte, Abhilfe schaffen sie aber nicht. Auch das Filmteam, das sich interessiert, verlässt die Wohnung ohne das Tier. „Träume sind Schäume?“ heißt der 1963 produzierte DEFA-Kurzfilm, in dem der Albtraum eines Bürokraten den täglichen DDR-Bürokratismus ad absurdum führt.
Politische Moritaten
Die Daten vom Volksaufstand am 17. Juni 1953 und vom Mauerbau im August 1961 markieren in etwa die Lebensdauer der Produktionsgruppe „Das Stacheltier“. Die satirische DEFA-Kurzfilmreihe wurde – zwischen Mai 1953 und Ende 1963 – zunächst im DEFA-Studio für Wochenschau und Dokumentarfilm in Berlin Johannisthal und ab 1955 im DEFA-Spielfilmstudio Potsdam-Babelsberg unter Leitung von Dr. Georg Honigmann produziert. Eine im Zeichentrick aufrollende Igel-Silhouette und die Vorspannmusik von Kurt Grottke und Walter Raatzke waren das Markenzeichen der Serie. Mit Märchenparodien, Kabarett-Elementen, politischen Moritaten und Liedern erinnert die DEFA-Kurzfilmsatire an das mit bissiger Kritik geschärfte Nummern-Potpourri des Varietés.
In „Papier, Papier“, „Stacheltier“-Folge Nummer 37 aus dem Jahr 1954, entwirft Regisseur Richard Groschopp mit Doppelbelichtungen, Überblendungen, ungewöhnlichen Perspektiven und Filmtricks in Hitchcocks „Spellbound“-Stil bürokratische Visionen. Da wachsen DIN-A-4-Papierstapel zu überdimensionalen Papiergebirgen, neben denen die Menschen klein und hilflos erscheinen. Nach dem Willen der SED sollte auch der DEFA-Film zur „ideellen Umgestaltung der Erziehung der arbeitenden Massen im Geiste des Sozialismus“ beitragen, doch nach dem Aufstand vom 17. Juni, so Autor Wolfgang Gersch, war im Kino der DDR nur noch „konventionelle Unterhaltung“ möglich. Die damals unter dem Arbeitstitel „Satirischer Kurzspielfilm“ diskutierte „Stacheltier“-Reihe profitierte von dieser Entwicklung. Per Verfügung vom Oktober 1956 gehörte der satirische Kurzfilm zum Pflichtprogramm der Kinos in der DDR und lief dort letztmalig 1986. Die „Stacheltier-Parade“ wurde in guter Kinotradition im Beiprogramm zwischen DEFA-Wochenschau, Kultur- und Hauptfilm gezeigt. Viele junge DDR-Filmtalente stellten ihr Talent der Produktionsgruppe zur Verfügung. Namen von bekannten Regisseuren wie Frank Beyer, Kurt Maetzig und Horst Seemann tauchen ebenso in den Stablisten auf wie die der Autoren Günter Kunert und Jurek Becker.
„Prometheus – Olympische Spiele mit dem Feuer“ aus dem Jahr 1955 unter der Regie von Heinz Thiel erinnert vom Szenario an Reinhold Schünzels Filmoperette „Amphitryon – Aus den Wolken kommt das Glück“ nach der gleichnamigen Kleist-Komödie; der den Nazis unliebsame Schünzel provozierte damit Nazi-Deutschland im Jahr 1935 mit unerhörten Anspielungen auf Militarismus und Autoritäten. In Heinz Thiels neunminütigem Kurzfilm geht es indes um die schlechte Warenverteilung im Arbeiter- und Bauernstaat. Leipzig mangelt es an Streichhölzern, weil sich die Halbgötter von der „Hauptabteilung Warenstreu“ nicht einig sind. „Feuer für die DDR!“, lautet der himmlisch-bürokratische Auftrag, und prompt stellt der göttliche Feuerspender, begleitet von Blitz und Donner, die Gerechtigkeit bei der Zündholzverteilung wieder her. Da standen auf der einen Seite das Wirtschaftswunder und auf der anderen der wirtschaftliche Niedergang des Sozialismus noch am Anfang, und im Vergleich mit Schünzels bissigem Witz wirkt die Episode eher zahm oder, wie es im SED-Jargon hieß, „optimistisch und zukunftsfreudig“. Der Charme der Feuer-Olympiade liegt indes in der unkonventionellen Low-Budget-Ausstattung des Himmelsdekors und der himmlischen Bürokratie. „Wir im Olymp sind wunschlos glücklich“, wird da dem Oberbürokraten Zeus in den Mund gelegt, der sich ein bequemes Leben macht und seine Genossen auf der Erde via Fernsehüberwachung kontrolliert. Bemerkenswert, was die Generalsekretäre der DDR 1955 so an Kritik verkrafteten.
Aufbruchstimmungen
War die Kritik an den Verhältnissen im real existierenden Sozialismus meistens konstruktiv, so fiel die Missbilligung des Westens und der kapitalistischen Ideologie eher harsch aus. In den Leitsätzen für die DEFA hieß es in unmissverständlichen Worten: Die Satire „ist vernichtend und tötend, wenn sie dem Sozialismus feindlich gegenüberstehende Kräfte und Erscheinungen aufspießt“. In „Alte Schule“ (Regie: Erich Brehm) aus dem Jahr 1956 rezitiert zu einer Spielszene in einem Kölner Klassenzimmer ein Schauspieler aus dem Off eine Art Brechtsche Moritat und spielt damit auf westliche Berufsverbote für Kommunisten an. Frank Beyers „Das Gesellschaftsspiel – eine unglaubliche Geschichte oder?“ (1957) prangert die Geldbeschaffung nach „Besatzerart“ an. Die Kamera schwenkt von einem gefesselten Wachmann auf eine mit überdimensionalen karierten Schirmmützen und angeklebten falschen Nasen skurril ausstaffierte Panzerknacker-Bande, die in der nächsten Einstellung effektivere Methoden der Geldbeschaffung erprobt. Auf einem Wohltätigkeitsball raubt das Trio, verkleidet als amerikanische Soldaten, trickreich die reiche Gesellschaft aus. Dass da üble Vorwürfe erhoben werden, steht außer Frage, bemerkenswert aber ist die Mixtur: Bemüht locker wird ein Agententhriller in einem sozialistischen Märchenland Oz inszeniert.
Was ging nach dem Mauerbau in den Köpfen der Kreativen in der DDR vor? Eine Antwort gibt Wolfgang Gersch: „Abgeschottet vom ‚Klassenfeind’ und des Publikums sicher, gerieten Künstler in eine Aufbruchstimmung, die von der verrückten Hoffnung getragen war, dem hinter Stacheldraht und Sichtblenden festgehaltenen Volk jetzt einen besseren Sozialismus erstreiten zu können.“ Dass der DDR-Film in seiner isolierten Position blühte, auch weil er nie nach Rentabilitätsgesichtspunkten beurteilt wurde, zeigt die Kurzfilmtrilogie „Engel, Sünden und Verkehr“, in der im Sommer 1963 das „Stacheltier“-Kollektiv das Verhalten im staatssozialistischen Straßenverkehr zum Thema machte. Im ersten Teil der Trilogie mit dem Titel „Engel“ arbeitet eine Schutzengel-Brigade an himmlischen Bildschirmarbeitsplätzen und überwacht den Verkehr auf der Berliner Karl-Marx-Allee. Die Engel wirken überraschend modern und ihre Raketenstarts lassen sich mit denen eines Raumschiffs Orion durchaus messen, jedenfalls sind sie hinreißend schräg. Sozialistische Schutzengel träumen von der Liebe und schwingen nach amerikanischem Musical-Muster ihre Beine. Das alles wird mit Schwung und Einfallsreichtum inszeniert – und das eigentliche Thema verfehlt oder konterkariert.
Natürlich träumen die Schutzengel auch von Manfred Krug, der Anfang der 1960er-Jahre so etwas wie ein sozialistischer Vorzeige-Draufgänger war. 1961 hatte er in Ralf Kirstens Komödie „Auf der Sonnenseite“ seinen Durchbruch als Hauptdarsteller gefeiert und reüssierte in der „Stacheltier“-Episode „Der Wettlauf des Hasen mit dem Igel“ neben Angelica Domröse unter der Regie von Horst Seemann, der auch bei der ersten Episode Regie führte und das Drehbuch schrieb. Da erzählt eine Stimme aus dem Off die Geschichte vom Hasen und dem Igel zu einer realen Spielhandlung, die den Märchenstoff in eine Verkehrssituation ummünzt. Krugs Auftritt als Verkehrsrowdy wird musikalisch von den „Jazz-Optimisten“ begleitet. „Ich bin ein Mann mit Rädern dran, und kann so schnell wie keiner kann“, singt der rasende „Wolga“-Fahrer, der den motorisierten Hasen gibt und im Wettstreit mit zwei Moped-Igeln unterliegt. Angelica Domröse spielt in einer Doppelrolle die schlauen Igel.
Nur wenige „Stacheltier“-Episoden erschienen den DDR-Oberen für den Export geeignet. Eine dieser Episoden war jene mit Manfred Krug. „Der Wettlauf des Hasen mit dem Igel“ wurde als Einzelepisode auf den 10. Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen gezeigt. Das Highlight der „Engel, Sünden und Verkehr“-Trilogie wurde 1977 allerdings aus aktuellem politischen Anlass von der DDR-Zensur aus dem Verkehr gezogen. Manfred Krug war damals in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt, und so erschien „der Einsatz des Films nicht mehr zweckmäßig“.
Cornelia Fleer (filmdienst 15/2003)