Ein Hauch von Welt.
Vor 30 Jahren kamen die ersten 70mm-Filme der DEFA auf die Leinwand
von Ralf Schenk
„Ja zum Experiment", jubelte die populäre Zeitschrift "Filmspiegel" im Frühjahr 1967 und berichtete von der festlichen Uraufführung der ersten Produktionen der DEFA im 70mm-Format. Was da im Leipziger Panorama-Theater "Schauburg" unter dem Titel "DEFA 70" über die Leinwand flimmerte, war freilich kein Spielfilm im herkömmlichen Sinne, sondern ein nur 33 Minuten Ian ger cineastischer Test, welche Möglichkeiten die neue Technik bereithält. Werner Bergmann, Kameramann fast aller Arbeiten von Konrad Wolf, hatte dafür das Buch geschrieben und führte auch Regie. Die schmale Handlung begann mit einer Autofahrt durchs Elbsandsteingebirge, bei der zwei Männer eine Anhalterin mitnehmen. Als ein Reifen platzt und von der jungen Dame ins nächste Dorf gerollt wird, träumen die beiden Herren von Erlebnissen mit der Schönen, und so zeigt der Film unter anderem einen Sonnenuntergang am Meer, eine Achterbahnfahrt, eine Autojagd, eine Geisterstunde und ein Sinfoniekonzert. Bergmann kombinierte Natur- mit Studioaufnahmen, jonglierte mit Farben und dem 6-Kanal-Magnetton, verknüpfte Dokumentarisches mit Spielelementen.
Exportierte Kassenschlager
Der 70mm-Film hatte damals in der DDR noch eine junge Geschichte. Sie begann 1962 damit, daß zwei Kinos - die Leipziger "Schauburg" und das Berliner "Kosmos" - mit der entsprechenden Wiedergabetechnik ausgerüstet wurden. Mit Hilfe der großen Leinwand wollte man der Abwanderung der Zuschauer aus den Lichtspieltheatern vor die heimischen Bildschirme Paroli bieten. Im Lauf der nächsten Jahre wurden in der DDR 20 Vorführstätten - darunter zwei Freilichtbühnen (in Karl-Marx-Stadt und Eisenhüttenstadt) - mit der neuen Technik bestückt. Die Leinwandbreite auf den Freilichtbühnen betrug stolze 30 Meter, in den "normalen" Kinos wurden 15 Meter nicht unterschritten. Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Cottbus und Suhl) verfügte jeder Bezirk in der DDR über mindestens eine 70mm-Leinwand. Hergestellt wurden die Wiedergabegeräte in den Kamera-und Kinowerken Dresden (früher: Zeiss-Icon), fußend natürlich auf internationalen Erfahrungen. Als einige Zeit später die Projektorfertigung im Rahmen des osteuropäischen Wirtschaftsverbundes RGW (Comecon) zugunsten eines Leningrader Werkes abgebaut werden sollte, stellte sich die DDR erfolgreich quer. Die Qualität der sowjetischen Filmtechnik hing zu sehr von Zufällen ab: Die Konstruktion galt zwar als gut, die Fertigung aber oft genug als schludrig.
Die meisten Filme, die ab Januar 1963 in den 70mm-Kinos der DDR gezeigt wurden, kamen aus der UdSSR und den USA. Den Reigen eröffnete nine Produktion des Dowshenko-Studios Kiew, "Flammende Jahre", ein Kriegsfilm nach eine Szenarium von Alexander Dowshenko (Regie: Julia Soinzewa). Während der ersten 13 Wochen erreichte das Opus in nur zwei Kinos und bei 266 Vorstellungen die stolze Besucherzahl von 110.945. Mit einem weiteren sowjetischen Film, "Optimistische Tragödie" (Regie: Samson Samsonow), wurde dann im Herbst 1963 das dritte 70mm-Kino der DDR, das Berliner "International", eröffnet. Hier wie auch in den anderen entsprechend ausgestatteten Häusern avancierten die importierten Breitwandfilme schnell zu Kassenschlagern: aus den USA etwa "Porgy and Bess", "Spartacus", "Cheyenne" oder "My Fair Lady", aus Frankreich "Die schwarze Tulpe", aus der UdSSR "Krieg und Frieden" und aus England "Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten". Eine westdeutsche 70mm-Produktion wie "Old Shatterhand" suchte man auf ostdeutschen Leinwänden damals freilich vergebens; Karl May galt als persona non grata.
Ein "Geschenk der DEFA"
Mit dem Einsatz ausländischer Filme wollte es die DDR freilich nicht bewenden lassen. Schon 1963 hatte die Hausverwaltung im Ministerium für Kultur einen Beschluß gefaßt, mit eigenen 70mm-Kameras auf eigenem 70mm-Orwocolor-Negativmaterial auch eigene 70mm-Werke herzustellen. Der materielle Kraftakt war enorm, aber er gelang. In den Werkstätten des DEFA-Studios für Spielfilme wurde unter Leitung des Ingenieurs Georg Maidorn eine kompakte Filmkamera mit integrierter Tonaufnahme, "70 Reflex", entwickelt, die im Oktober 1964 als "Geschenk der DEFA zum 15. Jahrestag der DDR" stolz der Öffentlichkeit vorgeführt werden konnte. Experten charakterisierten diese Kamera seinerzeit als "relativ leicht und absolut geräuschlos". So stieg die DDR, nur wenige Jahre nach der UdSSR und den USA, zum dritten Staat der Erde auf, in dem die materiell-technische Basis für die 70mm-Technik komplett vorhanden war.
Doch nicht nur technisch, auch ideell hatte man Ambitionen. Das DEFA-Spielfilmstudio beabsichtigte, sein eigenes 70mm-Angebot mit zwei internationalen Großproduktionen zu eröffnen. Gemeinsam mit indischen und polnischen Studios sollte 1964/65 das Monumentalepos "Alexander und Chanaky" (Regie: Heinz Thiel) entstehen, ein Film über die Begegnung des griechischen Herrschers Alexander und des indischen Gelehrten Chanaky vor mehr als 2000 Jahren. "Die Inder legen auf Schauelemente großen Wert", wußte ein Reporter von den Probeaufnahmen zu berichten. "Allein 2000 Pferde und 50 Elefanten sollen für den Film aufgeboten werden. Hinzu kommen Gladiatorenkämpfe mit Tigern, Fakire mit Cobras und der indische Seiltrick..." Das Projekt scheiterte freilich ebenso wie der Plan, schon 1966 eventuell gemeinsam mit westeuropäischen Partnern Feuchtwangers Roman "Goya" auf 70mm zu verfilmen. Erst vier Jahre später konnte Konrad Wolf dieses Projekt verwirklichen, nunmehr mit sowjetischer und jugoslawischer Beteiligung.
Auch im DEFA-Dokumentarfilmstudio wollte man den Einsatz der neuen Technik mit einem Paukenschlag beginnen. Andrew Thorndike, einer der prominentesten, auch von der Politik am meisten hofierten Regisseure ("Du und mancher Kamerad", "Unternehmen Teutonenschwert"), hatte sich nach "Das russische Wunder" (1963) vorgenommen, gleichsam das "deutsche Wunder" auf Zelluloid zu bannen, nämlich "wie unsere Republik zu einem Riesen wurde". "Die Deutschen" sollte der Film heißen - nicht zuletzt ein Plädoyer für die deutsche Einheit, freilich unter sozialistischen Vorzeichen. Vor allem dieser Einheitsgedanke brachte den ehrgeizigen Entwurf in der ursprünglichen Form zu Fall; Rudimente fanden sich später in Thorn-dikes "Du bis min" wieder, einem 70mm-Jubelfilm der DEFA zum 20. Jahrestag der DDR mit weit ausladenden Ian dschaftsbildern, Flugaufnahmen und ungewöhnlichen Montagen.
Neue Kinopaläste für "neue Menschen"
Thorndike, zeit seines Lebens aufgeschlossen für Innovationen, gehörte zu denjenigen, die den Einsatz der 70mm-Technik maßgeblich vorantrieben. Durchaus nicht uneigennützig setzte er sich dafür ein, daß neben der "70 Reflex" weitere 70mm-Kameras aus der UdSSR importiert wurden. Und auf dem Gründungskongreß des Verbands der Film- und Fernsehschaffenden im Januar 1967, auf dem man ihn zum Präsidenten erkor, wies er eindringlich darauf hin, daß die Zukunft des 70mm-Films bereits "mit der Städteplanung" beginnen müsse. Der Ulbrichtschen Diktion entsprechend sollten neue Kinopaläste für "neue Menschen" entstehen. Fünf Jahre später, auf dem II. Kongreß des Verbandes im April 1972, war freilich von solchen Wünschen keine Rede mehr; stattdessen zog Thorndike jetzt ein nüchternes, eher bitteres Fazit: "Von den noch vorhandenen rund 800 Kinos müssen in den nächsten Jahren 150 geschlossen werden, da sie nicht mehr rekonstruierbar sind. Nur sechs Lichtspieltheater entsprechen dem internationalen Maßstab..." Die DDR war pekuniär an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gekommen - das betraf auch die Entwicklung des 70mm-Films.
Sieben Ian ge 70mm-Spielfilme wurden zwischen 1968 und 1973 bei der DEFA gedreht (und für die "normalen" Kinos auch in einer 35mm-Fassung zur Verfügung gestellt, freilich meist Monate nach der jeweiligen 70mm-Premiere). Immer wurde dabei dem Schauwert wesentliche Bedeutung beigemessen. Die Reihe eröffnete im November 1968 "Hauptmann Florian von der Mühle" (Regie: Werner W. Wallroth), eine Mantel-und Degen-Geschichte aus der Zeit des Wiener Kongresses, mit einem reitenden, fechtenden, poussierenden Manfred Krug in der Titelrolle. Die breite Leinwand entfaltete sich dabei für zahlreiche opulente totale Einstellungen; die bildrhythmischen Möglichkeiten herkömmlicher Filmformate - also die gestalterisch wirkungsvolle Korrespondenz verschiedener Einstellungsgrößen - wurden aber nur zaghaft auf die neue Form übertragen. Extravagante Perspektiven im Weltraum, aber auch eine Fülle steifer Dialogszenen boten die beiden Science-Fiction-Filme "Signale" (1970, Regie: Gottfried Kolditz) und "Eolomea" (1972, Regie: Hermann Zschoche). "Lützower" (1972, Regie: Werner W. Wallroth) überzeugte weniger durch seine trockene, einem Theaterstück nachgestaltete Geschichte als durch einige rasante Reiterszenen auf freiem Feld. "KLK an PTX - die Rote Kapelle" (1971, Regie: Horst E. Brandt) folgte den Spuren der Antifaschisten Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen; ein politisches Prestigeobjekt, mit dem die DEFA erstmals dem bürgerlichen Widerstand gegen Hitler ein Denkmal setzen wollte. "Orpheus in der Unterwelt" (1974, Regie: Horst Bonnet) schließlich, der letzte 70mm-Film aus Babelsberg, glänzte vor allem durch die aufwendigen, farbenprächtigen Dekorationen, die Alfred Hirschmeier entworfen hatte und durch die sich die meisterhafte Kamera von Otto Hanisch elegant bewegte: Olymp und Hades, Säulenhallen und überdimensionale Vogelkäfige. Beim Can-Can wurde die 70mm-Kamera wirklich "entfesselt", die Zuschauer gerieten in einen Sog aus Musik und Bewegung.
Gesichter der Landschaften und Menschen
Der wichtigste und künstlerisch bedeutendste 70mm-Film der DEFA ist jedoch Konrad Wolfs "Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis", mit dem der Kameramann Werner Bergmann vieles von dem verwirklichen konnte, was er schon Jahre zuvor vorausgedacht hatte, immer dem Credo verpflichtet: "Die Form soll nicht durch die erweiterten Möglichkeiten, sondern nach wie vor durch die Aufgabe diktiert werden. Der beste künstlerische Einfall ist der, den die Aufgabe gebiert - nicht die Technik." So waren in "Goya" Gesichter der Landschaften und der Menschen zu sehen, opulente Feste am spanischen Königshaus, Prozessionen, ein ausuferndes Inquisitionstribunal, aber auch die Kargheit des alltäglichen Lebens armer Zeitgenossen, ausladende Albträume und die subtilen Pinselstriche des Meisters auf der Leinwand. Werner Bergmann: "Der Zwang zur Ehrlichkeit und Qualität, durch die erweiterte Technik notwendig geworden, sollte bis in die äußersten Winkel des neuen Films dringen, bis in jeden Gedanken, in jedes Wort - nicht um die Wirkung des 'Natürlichen', sondern um die der Wahrhaftigkeit zu erhöhen. Der 70mm-Film ist dazu in der Lage."
Trotz solch pathetischer Worte wurde Mitte der 70er Jahre das 70mm-Abenteuer aus finanziellen Gründen gestoppt. Die letzten nennenswerten Einsätze neuer 70mm-Filme in der DDR erfolgten 1975 mit dem polnischen Zweiteiler "Die Sintflut" (Regie: Jerzy Hofman) und 1977 mit dem sowjetischen Film "Das Zigeunerlager zieht in den Himmel" (Regie: Emil Lotjanu). Nach 1989 wurden die meisten 70mm-Projektoren aus den ostdeutschen Kinos entfernt. Die Babelsberger Kamera "70 Reflex" gehört heute zum Bestand des Filmmuseums Potsdam - als Erinnerung an einen Versuch, zum vielbeschworenen Weltniveau aufzuschließen.
Ralf Schenk (filmdienst 19/1997)