Toleranz und Zärtlichkeit.
Die Regisseurin Helke Misselwitz
von Ralf Schenk
I.
Als sie zur Filmhochschule kommt, weiß sie schon alles. Helke Misselwitz, Jahrgang 1947, geboren in Planitz bei Zwickau, hat zwei Facharbeiter-Abschlüsse in der Tasche - als Möbeltischlerin und Physiotherapeutin; sie war Moderatorin und Regieassistentin beim Fernsehen der DDR und verantwortete hier auch erste eigene publizistische Sendungen. "Die Arbeit im Fernsehen", sagt sie später in einem Interview, "war zunächst sehr aufregend für mich. Immer neue Leute kennenlernen, unterwegs sein. Ich habe eine Menge gelernt, alles was Handwerk anbetrifft, und ich hatte auch lange Spaß daran. Irgendwann aber fühlte ich mich unterfordert, weil ich immer den vorgegebenen Inhalt 'umsetzen' sollte. Also ich sollte mir überlegen, was man aus dem Stoff gesellschaftliche Wirklichkeit' mit optischen Ideen, mit entsprechender Musik originell, unterhaltsam und attraktiv machen könnte. Da dachte ich, daß ich zu unwissend bin, um verantwortungsvoll arbeiten zu können und habe mich entschlossen zu studieren."
Eine Sentenz, halb ernst, halb ironisch gemeint. Denn natürlich hatte die junge Regisseurin begriffen, daß sie in der publizistischen Abteilung des Fernsehens in ein enges ideologisches und formales Korsett eingezwängt war, aus dem zu entfliehen nur durch einen radikalen Bruch möglich wurde. Ihre Studentenarbeiten an der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen sehen denn auch ganz anders aus als alles Vorherige. Schon in der ersten Übung, "Verstecken" (1979), wendet sie sich der Fiktion zu: eine knappe, präzise Situationsbeschreibung aus der Zeit des Dritten Reiches. Ein Mädchen hockt in einem Verschlag, ein Junge bringt ihm Brot; Männerschritte hallen aus Hof und Treppenhaus; und Halbwüchsige singen den Refrain eines Kinderliedes: "Bleib wo du bist und rühr dich nicht." Harmloses Spiel und entsetzliche Realität.
In "Ein Leben" (1980) nähert sich die Regisseurin wieder dieser Zeit und dem Thema Menschlichkeit. Aus Fotos und Briefen, von einer Müllhalde geborgen, rekonstruiert sie das Leben einer Bäckersfrau und Witwe, die ihren Jungen vor der Hitlerjugend schützte und einer jüdischen Familie aus dem Hinterhaus half - aus dem Gefühl der Nächstenliebe, ohne politische Motivation. Auch nach dem Krieg engagierte sie sich nicht politisch; sie lebte, arbeitete und half: eine im Film der DDR, der oft sehr säuberlich in Täter, Opfer und Widerstandskämpfer unterschied, zumindest ungewöhnliche Biografie. In der Spielfilm-Collage "Haus. Frauen" (1981) beschreibt Helke Misselwitz, expressiv fotografiert, die Lebensgeschichten mehrerer Bewohnerinnen eines zerbröckelnden Hauses. Die Diplomarbeit "Die fidele Bäckerin" (1982) schließlich greift noch einmal die Biografie der authentischen Heldin aus "Ein Leben" auf und verdichtet sie zum fiktiven, nun stark ins Groteske gesteigerten Bild einer deutschen Kleinbürgerin, die stets instinktiv das realisiert, was ihr selbst und ihren Nächsten nutzt: in der Nazi-Zeit lehnt sie sich an einen SA-Mann an, der ihr das Geschäft einer jüdischen Familie "vermittelt"; nach dem Zusammenbruch verrät sie ihn, um in der neuen Zeit gleich wieder ein Standbein zu finden.
II.
Diese Hochschulproduktionen, assoziativ montiert und voller metaphorischer Motive, sind ein Versprechen auf Kommendes. Doch wäre Helke Misselwitz zum Fernsehen der DDR zurückgekehrt, das sie zum Studium delegiert hatte, wären die Chancen vermutlich gering gewesen, ihre subjektive Sicht auf Vergangenheit und Gegenwart zu stilistisch unkonventionellen Filmen werden zu lassen. So entschließt sie sich, freischaffend zu werden - ein mutiger Schritt, da ihr niemand die Garantie geben kann, in den etablierten DEFA-Studios drehen zu dürfen. "Ich wußte um das Risiko", sagt sie später, "und ich habe auch Gelegenheitsarbeiten gemacht, Aufsicht in einer Galerie und Geschirrspülen bei der Mitropa, wenn ich Geld brauchte. Ich habe sehr intensiv gelebt und Sinnvolles getan, Dinge, in denen ich mich wiedererkennen kann."
Zu den filmischen Arbeiten in den Jahren nach dem Studium gehören einige Sujets für die DEFA-"kinobox", ein feuilletonistisches Magazin, das in der Nachfolge der Wochenschau "Der Augenzeuge" als Vorprogramm vor dem langen Spielfilm lief. In dem DEFA-Kurzfilm "Aktfotografie, z. B. Gundula Schulze" (1983) porträtiert sie eine junge Fotografin, die mit ihren Aufnahmen das Terrain idealisierter, glatter Frauenporträts verläßt. "Stillleben - Eine Reise zu den Dingen" (1984) wird zum engagierten, spielerischen Exkurs in ein Genre der Malerei und in den Zeitgeist, den die Bilder spiegeln, "Tango Traum" (1985) zur "wundersamen Reise in eine fremde Kultur" (Misselwitz). Die Regisseurin tritt hier selbst vor die Kamera, steigt in Requisiten des Tangos - z. B. das schwarze Seidenkleid - rekonstruiert Stimmungen, reflektiert über die Geschichte des Tanzes, dessen Quellen sie durch Filme und Schallplatten kennt. Momente einer Sehnsucht, die unerfüllbar bleibt: "Der Tango ist etwas, was tief verwurzelt ist in der Lebensweise, in der Seele eines Volkes, der ich mich vielleicht nähern kann; aber ich werde nicht ankommen. Selbst wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, in Buenos Aires zu drehen, hätte ich nie ganz erfahren, was Tango eigentlich ist. Es wäre informativer, authentischer geworden, aber es wäre ein Geheimnis geblieben. Man muß den Tango leben."
1985 wird Helke Misselwitz Meisterschülerin bei Heiner Carow an der Akademie der Künste der DDR. Die Akademie unterstützt auch das im selben Jahr bei der DEFA eingereichte neue Filmprojekt, eine abendfüllende Studie über "Frauen in unserem Land, ihre Lebenserfahrungen und menschlichen Beziehungen". Als "Winter ade" 1988 uraufgeführt und während der Leipziger Dokumentarfilmwoche mit der "Silbernen Taube" prämiiert wird, spaltet er sogleich das Auditorium: Ein großer Teil der Zuschauer sieht in ihm - auch angesichts des Titels - den bisher konsequentesten filmischen Ausdruck eines beginnenden kulturpolitischen Tauwetters in der DDR; aus demselben Grund lehnen andere das Werk rigoros ab. So antwortet die Leitung des Fernsehens der DDR auf die Frage, wann "Winter ade" ausgestrahlt werde: Nie!
Vordergründiger Anlaß für eine solch schroffe Absage mag eine Szene gewesen sein, in der die offizielle Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Oder die Erinnerung einer Arbeiterin an eine Auszeichnungsfeier im Staatsrat: "Der ganze Saal nur Männer. Im Höchstfall fünf Prozent Frauen. In der Mitte war ein breiter Gang, und da kamen der Genosse Schabowski und weitere Persönlichkeiten. Alle standen auf... Ich habe immer gedacht: Ist das ein Königreich oder was?" Der tiefere Grund für die Resonanz liegt allerdings in einer rigorosen Ent-Ideologisierung, der Verweigerung, die Realität zu schönen und bisher Tabuisiertes auch weiterhin zu verschweigen. Helke Misselwitz reiste durch die DDR, um Frauen unterschiedlicher sozialer Herkunft und verschiedenen Alters nach ihren Lebensbedingungen und -ansichten zu befragen nach Wünschen, Träumen und Hoffnungen.Neben anderen kommt dabei eben auch eine Hilfsarbeiterin aus einer Brikettfabrik ins Bild, deren Arbeitsplatz wie aus dem vergangenen Jahrhundert anmutet und die sich wegen ihrer geistig behinderten Tochter von der Gesellschaft ausgestoßen fühlt. Zwei Mädchen in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche träumen von Hawaii; eine hat ihre Verweigerung an die Wand gepinselt: "Belogen, betrogen, zum Haß erzogen". Oder eine alte Frau, die nach der Diamantenen Hochzeit sinniert, sie hätte doch einen besseren Mann finden sollen: "Ich darf gar nicht daran denken." Ein Kompendium der Brüche und des Scheiterns - und zugleich ein Film, der "Mut für den Alltag" macht.
Wie immer in ihren Werken findet Helke Misselwitz auch für "Winter ade" eine besondere dramaturgische Struktur, einen poetischen Leitfaden. Sie bettet die Frauengeschichten in eine Bahnfahrt quer durch die DDR, aus der Enge der Berge bis zur weiten See, zum endlosen Horizont. Die Eisenbahnfahrt "steht als poetisches Zeichen für Veränderung. Bewegung in der Gesellschaft als Ausdruck dafür, daß es vorgeschriebene Gleise gibt, auf denen man gehen muß, daß Gleise auch abbrechen können, daß man Gleise wechseln kann, daß es Weichen gibt, die von außen gestellt werden". Auf die Frage, was sie mit ihrem Film bewirken wolle, antwortet sie 1989: "Wir hoffen, daß wir aufmerksamer machen für das, was um uns herum passiert. Daß das Bedürfnis der Frauen nach Selbstachtung, Toleranz, Zärtlichkeit und menschlichem Miteinanderumgehen geteilt wird, daß es aktiviert." Ein Satz, der als Credo über allen Arbeiten stehen könnte, die Helke Misselwitz gedreht hat - auch und erst recht über denen, die nach 1989 entstanden.
III.
Der Gefahr, ausschließlich als "Frauenregisseurin" vereinnahmt zu werden, begegnet Helke Misselwitz 1989 mit "Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann", einer schönen, wieder von Thomas Plenert in herbem Schwarzweiß fotografierten Studie über kräftige, kodderschnäuzige Berliner Kohlenmänner aus dem Prenzlauer Berg; ein Beruf, der bei der DEFA bisher noch keine filmische Beachtung erfahren hatte. Ironische Pointe: Chef der privaten Kohlenhandlung ist wieder eine Frau! In "Sperrmüll" (1990) porträtiert die Regisseurin einen jungen Mann, der einer Band zorniger Rocker angehört. Spezialität der Gruppe: Sie trommeln ihren Unmut auf Gegenstände, die von anderen weggeworfen wurden. Während der Dreharbeiten, die im Frühsommer 1989 begannen, heiratet die Mutter des Jungen einen Westberliner und reist aus, während der Sohn im Osten bleibt. Die Kamera beobachtet beide bis zur ersten freien Volkskammer-Wahl im März 1990, beschreibt die Tage der Gewalt, des Mauerfalls, der "Wende". Die utopische Hoffnung des Jungen, daß das Volk der DDR die Chance ergreift, nun einen Staat nach eigenem Gusto, einen "demokratischen Sozialismus" aufzubauen, erfüllt sich nicht; und auch die Regisseurin macht keinen Hehl aus ihrer Betroffenheit über die schnelle Selbstauslieferung an die D-Mark.
1990/91 ist Helke Misselwitz stellvertretende Vorsitzende des Film- und Fernsehverbandes Berlin. Sie trägt wesentlich dazu bei, daß ein Gesetzentwurf auf den Weg gebracht wird, nach dem die filmische Hinterlassenschaft der DEFA nicht in alle vier Winde zerstreut und verkauft werden darf, sondern als geschlossenes Paket in eine "DEFA-Stiftung" eingehen muß. Zur gleichen Zeit gründet sie mit dem Produzenten Thomas Wilkening eine eigene Produktionsfirma, in der 1992 dann auch ihr erster langer Spielfilm entsteht: "Herzsprung". Wieder geht es um die Suche nach Glück, um die Konfrontation von Humanität und Barbarei. Eine junge Frau aus der brandenburgischen Provinz verliebt sich in einen Schwarzen und bringt ihn mit ins Dorf. Dort wird sie von einstigen Schulkameraden, die sich mangels anderer Beschäftigung zu Skinheads verwandelt haben, tyrannisiert und schließlich getötet. Eine emotionale Ballade, die, wie Kritiker schrieben, bewußt an die Romantik mit ihrer Trauer, ihrem Weh, ihrer Verzweiflung an der deutschen Misere anknüpft. Ein Film von starker Körperlichkeit und Sinnlichkeit, auf einem Klangteppich, der an die Musik früherer Arbeiten erinnert: Volkslieder, Küchenlieder, Tangos.
Nach den dokumentarischen Essays "Leben ein Traum" (1994) und "Meine Liebe Deine Liebe" (1995, Rezension in diesem Heft) hat Helke Misselwitz nun ihren zweiten Spielfilm gedreht: "Engelchen". Eine Berliner Geschichte über eine junge Frau, die in einer Kosmetikfabrik arbeitet und in einem Proletarierviertel wohnt. Die Mutter war Trinkerin, mit immer neuen Männerbekanntschaften. Die Tochter ist schüchtern, ja gehemmt; erst als sie Andrzej kennenlernt, einen polnischen Zigarettenhändler, glaubt sie, einen Weg aus ihrer Einsamkeit gefunden zu haben. Doch die Suche nach Wärme und Geborgenheit mündet in eine Tragödie. "Engelchen" ist thematisch mit berühmten Filmklassikern verwandt -"Berlin Alexanderplatz" beispielsweise oder "Deutschland im Jahre Null" - aber auch mit neueren Werken, die sich.einer verlorenen Jugend in einer von existentiellen Ängsten und emotionalen Unsicherheiten geprägten Umbruchsphase angenommen haben. Eine Studie über die Angst vorm Alleinsein, die Wärme des Herzens und die Kälte der Zeit. In der Titelrolle ist Susanne Lothar zu sehen: mit langem, strähnigem blondem Haar, sehr zerbrechlich, vom Alltag gebeutelt und zugleich über ihm schwebend.
Als der dichte, kunstvoll fotografierte Film (Kamera: Thomas Plenert) beim Auftraggeber ZDF vorgeführt wurde, entschied die Redaktion, ihn nicht, wie geplant, zur Hauptsendezeit auszustrahlen. Er zeige zu viel Tristesse und sei außerdem zu anspruchsvoll. Vielleicht läuft er nun gegen Mitternacht. Wann, ist noch offen.
Ralf Schenk (filmdienst 20/1996)