Ein geheimnisvolles Leben.
Zum 100. Geburtstag der Schauspielerin Lotte Loebinger
von Ralf Schenk
Sie hat keine Memoiren hinterlassen. Vielleicht hatte sie keine Zeit dazu, denn sie war bis ins hohe Alter auf der Bühne zu sehen, zuletzt als menschenfreundlicher Narr in Shakespeares „Was ihr wollt“ (1993). Doch hätte Lotte Loebinger ihre Erinnerungen zu Papier gebracht, wäre daraus wohl keinesfalls nur unterhaltsames Künstlergeplauder, sondern eine politische Jahrhundertgeschichte geworden. Aufgewachsen in der jüdisch-protestantischen Atmosphäre eines Arzthaushalts, hatte sie nach kurzem Zwischenspiel als Verkäuferin das Theater als ihre eigentliche Heimstatt entdeckt. Mit 17 nahm sie Privatunterricht und wurde bald Elevin an Erwin Piscators Berliner Volksbühne. Zur selben Zeit war sie schon mittendrin in der Politik: Mit 20 trat sie der KPD bei, lernte den Dichter Erich Mühsam kennen und in dessen Gruppe den jungen Herbert Wehner, der ihm bei der Herstellung der anarchistischen Zeitschrift „Fanal“ half. Sie heiratete Wehner, und obwohl sie bereits vor der Machtergreifung Hitlers wieder getrennte Wege gingen, blieb diese Ehe bis 1952 bestehen.
1933 emigrierte Lotte Loebinger nach Polen, dann in die CSR und die Sowjetunion, wo sie sich während des Zweiten Weltkriegs als Sprecherin deutscher Nachrichten- und Kultursendungen von Radio Moskau engagierte. Im Herbst 1946 nach Berlin zurückgekehrt, gehörte sie bald zum festen Stamm des ostdeutschen Theater- und Filmlebens. Das Berliner Maxim Gorki Theater, an dem sie ab 1952 beschäftigt war, ernannte sie zum Ehrenmitglied, und Regisseur Thomas Langhoff schrieb über sie: „Lotte war etwas Wesentliches für mich. Das war nicht nur die große Schauspielerin, die so einfach und anrührend spielte. Wie spannend war es, wenn sie, Vertrauen zu uns gewinnend, mehr und mehr aus ihrem abenteuerlichen, reichen, geheimnisvollen Leben erzählte. Es tut wirklich ein bisschen weh, wenn meine neuen Mitbürger fragen: ,Wer ist Lotte Loebinger?‘ Das wisst Ihr nicht? Wie schade für Euch.“
Langhoff war es auch, der ihr – fürs DDR-Fernsehen – eine ihrer schönsten Filmaufgaben ermöglichte: In „Ich will nicht leise sterben“ (1978) porträtierte sie eine alte Hilfsarbeiterin in einer Druckerei, die Papier aufliest, Karren zieht, Säcke schleppt und dabei ihr Leben Revue passieren lässt. Ein ergreifender Monolog, vorgetragen mit unendlicher Güte, Freundlichkeit und Zuversicht, obwohl auch herbe Schicksalsschläge zur Sprache kommen und sich die Einsamkeit des Alters über das Gesicht der Frau gelegt hat. Ihre erste Filmrolle, ein kleiner Auftritt in Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, lag zu dieser Zeit schon 47 Jahre zurück. Wichtig wurde ihr die Figur der Mutter Lemke in Gustav von Wangenheims antifaschistischem Exilfilm „Kämpfer“ (1936): eine Frau, die ihren Sohn mit aller Macht davon abzuhalten versucht, den sozialen Versprechungen der NS-Machthaber zu folgen und zu ihnen „überzulaufen“. In einer Szene empfängt Mutter Lemke eine Nachbarin und deren kleinen Jungen, auf den sie aufpassen soll: Dieses Kind war die erste Filmrolle von Konrad Wolf, der sie später u.a. in seinem Kinodebüt, dem Filmlustspiel „Einmal ist keinmal“ (1955), besetzte.
Obwohl Lotte Loebinger manchmal sehr komisch sein durfte und dies sichtlich genoss, engagierte sie die DEFA doch bevorzugt für tragisch grundierte Mütterrollen. In „Irgendwo in Berlin“ (1946) war sie die verzweifelte Mutter eines jungen Mannes, den die Erfahrungen des Krieges wahnsinnig gemacht haben. In „Grube Morgenrot“ (1948) spielte sie eine verhärmte Bergmannsfrau, in der trickreichen Märchenverfilmung „Das kalte Herz“ (1950) die naive, gutherzige Mutter des Kohlenmunk-Peter. Slatan Dudow besetzte sie in „Frauenschicksale“ (1952) in der Rolle einer Vertreterin des Frauenbundes, die unermüdlich für Gleichberechtigung und mehr weibliches Selbstbewusstsein eintritt. Selbst plakative Figuren stattete Lotte Loebinger mit biografischem Hinterland aus, vermittelte gleichsam zwischen den Worten ihren von Enttäuschungen und immer wieder neuen Aufbrüchen geprägten Erfahrungsschatz.
Ihren Abschied vom Kino gab die greise Darstellerin 1993, sechs Jahre vor ihrem Tod, in Jens Beckers Komödie „Adamski“. Als Lotte Loebingers Enkelin Caroline, die selbst Schauspiel studierte, damals um eine Charakteristik ihrer Großmutter gebeten wurde, sagte sie: „Sie ist geduldig und nachsichtig, herb und sehr entschieden. Sie wendet sich noch immer gegen Hohles in der Kunst und im Leben. Und keine Brandung kann ihren Optimismus erschüttern. Sie ist mir mehr als ein Vorbild. Man kann sich an ihr festhalten.“ Am 10. Oktober wäre Lotte Loebinger 100 geworden.
Ralf Schenk (filmdienst 20/2005)