Glaube, Liebe, Hoffnung.
Der Berliner Produzent Klaus Schmutzer und seine Firma „à jour“
von Ralf Schenk
"Wenn's nichts wird", sagte Hans-Joachim Teich Mitte 1990, "wandern wir eben nach Kanada aus. Werden wir Holzfäller..." Er ist dann doch in Deutschland geblieben; seinem Beruf als Melker geht er auch noch nach, und bald wird sogar ein Film über ihn ins Kino kommen: "Jochen - ein Golzower aus Philadelphia". Es ist das 17. Opus, das Winfried Junge seit 1961 über die Kinder einer kleinen brandenburgischen Landgemeinde gedreht hatte, und es ist der sechste Film, an dem der Produzent Klaus Schmutzer und seine Firma "à jour" federführend beteiligt sind. Obwohl es zwischendurch gelegentlich so aussah, als müsste die Golzow-Reihe aus finanziellen Gründen abgebrochen werden - Förderer zogen sich zurück, Fernsehanstalten sprangen ab -, gelang es Schmutzer immer wieder, die nötigen Gelder für eine Fortsetzung des weltweit längsten Unternehmens dieser Art zu beschaffen. Darauf ist er mit Recht stolz, und auch darauf, dass "Jochen" schon jetzt fest fürs "internationale forum des jungen films" der "Berlinale" 2002 eingeplant ist.
Schmutzers "à jour" übernahm die Golzow-Reihe, die zwischen 1961 und 1990 beim DEFA-Studio für Dokumentarfilme hergestellt worden war, vom West-Berliner "Übergangsproduzenten" Klaus Volkenborn. Als zwischen diesem und dem Regisseur unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten ausbrachen, bat Junge "à jour", sich um sein "Lebenswerk" zu kümmern. Schmutzer ließ sich nicht lange bitten, kamen die Filme doch seinem Ideal ziemlich nahe, Produktionen auf den Weg zu bringen, die auf spannende Weise Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts spiegeln. "Historie fasziniert mich", umreißt der Berliner Produzent, der seine Ein-Mann-Firma fast auf den Tag genau seit zehn Jahren betreibt, sein Credo, "und ich möchte sie dem Zuschauer gern über erregende, mich selbst bewegende Schicksale vermitteln." Bevor er sich als freier Produzent etablierte, hatte Schmutzer Film- und Fernsehwirtschaft an der Potsdamer HFF studiert und u.a. als Programmleiter des Leipziger Dokumentarfilmfestivals und beim DDR-Verband der Film- und Fernsehschaffenden gearbeitet. Dadurch kannte er viele Kollegen, die nach dem Ende der DEFA und des Deutschen Fernsehfunks keine Ansprechpartner für ihre neuen Projekte mehr fanden. Im Herbst 1991 entschloss sich Schmutzer, "à jour" zu gründen; er hält, ebenso wie sein Geschäftspartner Dr. Artur Wandtke, Professor für Recht an der Berliner Humboldt-Universität, 50 Prozent der Gesellschafteranteile.
Am Nerv der Zeit
Für den Start von "à jour" war es ein glücklicher Umstand, dass Schmutzer nicht erst lange nach einem Stoff fahnden musste. Andreas Voigt, der mit "Leipzig im Herbst" (1989) einen der ersten authentischen Wende-Filme der DEFA gedreht hatte, bot ihm an, seine neue Leipzig-Dokumentation "Glaube, Liebe, Hoffnung" zu übernehmen. Eine Förderung des Bundesinnenministeriums lag dafür bereits vor; sie war der DEFA in ihrer Endphase zugesprochen worden. Doch Voigt wollte sich nur ungern an seine in der Abwicklung befindliche alte Firma binden, nicht zuletzt, weil Gerüchte darüber kursierten, dass die Treuhand der Kirch-Gruppe den Zuschlag über deren Immobilien, Filme und Projekte geben könnte. Bei Kirch glaubte sich Voigt mit seinem neuen Stoff nicht gut aufgehoben: Es ging um Jugendliche, deren rechtsradikale Sprüche und Aktionen er als Folgen verfehlter Einheitspolitik zu erklären versuchte - und um den jovial auftretenden Bauherrn Dr. Schneider, der den Leipzigern den Himmel auf Erden versprach (bevor er wegen Milliardenbetrugs im Gefängnis landete). Der Film begann und endete symbolisch mit Totalen eines Braunkohletagebaus: verödete Landschaften, an deren Himmel sich die Spuren von Leuchtmunition wie ungehörte Hilferufe verflüchtigen. "Glaube, Liebe, Hoffnung", uraufgeführt bei der "Berlinale" 1994, avancierte für "à jour" zum ersten großen Erfolg: Der Film hatte den Nerv der Zeit getroffen.
Seitdem produziert Schmutzer, von Fernsehdokumentationen abgesehen, jährlich etwa zwei lange Dokumentarfilme fürs Kino. Ein hartes Brot, wie er zugibt, weil sich in den letzten zehn Jahren nicht nur die Herstellungskosten erhöhten - von 300.000 auf rund 700.000 DM für einen 35mm-Film -, sondern sich auch die Förder- und Auswertungsbedingungen verschlechterten. "Nicht nur ich", so Schmutzer, "erinnere mich gern an den Anfang der 90er-Jahre, als sich die Mehrzahl der Filmbüros der Bundesländer zu einem Förderverbund zusammengeschlossen hatten. Projekte, die in einem Land gefördert wurden, hatten große Chancen, auch vom Filmbüro eines anderen Bundeslandes Fördermittel zu erhalten, ohne einen wirtschaftlichen Regionaleffekt in jedem Bundesland nachweisen zu müssen. Die künstlerische Qualität des Projekts, so, wie sie sich im Antrag spiegelte, stand im Vordergrund der Entscheidung. Die Förderer klärten untereinander selbst den wirtschaftlichen Ausgleich des Einsatzes ihrer Fördermittel."
Unabdingbar für den deutschen Dokumentarfilm seien nach wie vor die Zuschüsse der Kulturellen Filmförderung des Bundes (BKM). Aber außer den Kulturellen Filmförderungen in Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern mit ihren oft arg kleinen Budgets haben deutsche Produzenten nur noch die Chance, sich den kommerziell ausgerichteten wirtschaftlichen Filmförderungen der Länder anzuvertrauen - und dort, so Schmutzer, hätte es der Kino-Dokumentarfilm verdammt schwer. Da ist zum einen der Regionaleffekt, der von den Fördereinrichtungen jedes Bundeslandes verlangt wird, aber kaum zu erbringen ist, zumal, wenn Dokumentarfilme außerhalb Deutschlands "spielen". Zum anderen stört sich Schmutzer an der gängigen Definition der Marktwirtschaftlichkeit. "Das ökonomische Erfolgskonzept wird für Dokumentarfilmproduktionen oft zu kurzfristig veranschlagt. Es würde den Kinoeinsatz mit einer hohen Kopienzahl wie bei Spielfilmen voraussetzen. Dafür bestehen weder bei Verleihern noch bei den Kinos Voraussetzungen. Ein guter Dokumentarfilm aber hat Langzeitwirkung; also sollte man ihm auch diese Zeit zubilligen, um den Erfolg oder Nichterfolg einzuschätzen." Die Frage, woran der Erfolg von Kunstwerken - also auch künstlerischen Dokumentarfilmen - zu messen sei, ist bis heute umstritten. "Natürlich", sagt Schmutzer, "zählt auch für mich wesentlich der wirtschaftliche Erfolg dazu. Aber wie schnell verschwindet ein Spielfilm als Flop, für den mehr als eine Million DM Fördermittel bereitgestellt wurden. Bei der Förderung von Dokumentarfilmen verteilt sich hingegen das finanzielle Risiko der Förderer in dieser Größenordnung auf acht bis zehn Projekte."
Zwölf Projekte parallel
Für überdenkenswert hält es Schmutzer, die "Förderung" wieder ins Zentrum der Tätigkeit der Fördereinrichtungen der Länder zu stellen. Dies betrifft gerade die zunehmende Bürokratisierung. In den Filmbüros gab (und gibt) es Fachleute, die die Schlussrechnungen prüften und in kurzer Frist den Schlussbescheid ausstellten. Heute dagegen wartet man Monate, bevor ein Steuer- und Rechnungsprüfungsbüro die Unterlagen geprüft hat - und nicht selten trifft man auf Unverständnis in fachlichen Fragen. "Manchmal überkommt mich das Gefühl, dass man mir als Produzent die Verantwortung und das Risiko nicht zutraut, mit denen man es in der Filmproduktion zu tun hat." Schmutzer ärgert, dass er über das eine oder andere seiner Projekte aus den Büros wirtschaftlicher Filmförderer gelegentlich pauschale Sätze hört wie "Das überzeugt mich nicht" oder "Ich glaube nicht daran", was gleichbedeutend ist mit einer generellen Ablehnung. Durch solche Sentenzen fühlt er sich bevormundet; fachliche, gerade auch ins Detail gehende Diskussionen seien ihm da sehr viel lieber.
Doch trotz solcher Erschwernisse wagt es Schmutzer stets aufs Neue; für ihn hat der künstlerische Dokumentarfilm seine Berechtigung im Kino nie verloren. Zu seinen wichtigsten Arbeiten der letzten Jahre gehören Karlheinz Munds Essay "Das Bergwerk" (1998), eine Erinnerung an den Dichter Franz Fühmann, und Eduard Schreibers "Zone M" (2000), eine filmische Reise in den Ural, in dem sich die Menschen dem Alkohol und überirdischen Erscheinungen hingeben, eine in faszinierenden Bildern erzählte Studie über den russischen Provinzalltag und die Schwierigkeiten, Wurzeln der Zivilisiertheit wieder zu entdecken. "Zone M", gänzlich ohne Beteiligung von Fernsehanstalten produziert, konnte von Schmutzer gerade an den NDR verkauft werden - ein Glücksfall, denn "die Sender wollen im Moment eigentlich keine gesellschaftskritischen Stoffe. Gefragt sind derzeit kaum leise, stille Beobachtungen, sondern spektakuläre Dinge, Action. Auch beim Dokumentarfilm sind wir in der Fun-Gesellschaft angekommen". Umso mehr freut ihn der Erfolg von Filmen wie Volker Koepps "Herr Zwilling und Frau Zuckermann". Auch einige seiner Golzow-Produktionen kamen bei ihrer Fernsehausstrahlung sehr gut an, was sich durch ungewöhnlich viele Briefe bemerkbar machte: Vor allem "Da habt ihr mein Leben - Marieluise" (1997) und das Doppelporträt "Brigitte und Marcel" (1999) bewegten die Zuschauer.
"Ich kümmere mich ständig parallel um zwölf bis 18 Stoffe", sagt Schmutzer, "von der Ideenskizze bis zum fertigen Film." Und, allen Widrigkeiten bei der Geldbeschaffung zum Trotz: "Ich kann mich kaum retten vor Buchangeboten." Dabei bindet sich "à jour" durchaus nicht nur an ehemalige DEFA-Mitarbeiter; die Firma ist offen für jedes Angebot. Das war schon zu ihren Anfangszeiten so: 1992 etwa hatte Schmutzer beim Leipziger Dokumentarfilmfestival die Regisseurin Marianna Kiss kennen gelernt, der er als Chef der Videowerkstatt ein Hotelzimmer vermitteln wollte. "Das brauche ich nicht", antwortete sie, "ich schaue mir heute Nacht lieber den Leipziger Hauptbahnhof an." Schmutzer spürte die Faszination, die dieser Bahnhof auf die junge Künstlerin ausübte, und bat sie, ihm eine Ideenskizze für einen Film zu liefern. Daraus wurde "Am Ende der Schienen" (1993), ein schwarz-weißes Opus zwischen Tag und Traum - und heute, nach dem Umbau des größten Sackbahnhofs in Europa, das einmalige Dokument eines versunkenen Universums. Mit Autorengesprächen, der Aufstellung von Kalkulationen und Drehplanungen, dem Verfassen von Förderanträgen, der Betreuung der laufenden Produktionen und Endfertigungen bewegt sich Schmutzer nahe am 16-Stunden-Tag. "Daraus wird erklärlich, weshalb ich stabile Geschäftsbeziehungen brauche, etwa zum Geyer-Kopierwerk oder zu Verleihern, die für meine Arbeiten in Frage kommen." So ist der Verleih Progress vertraglich an die Golzow-Reihe gebunden; daneben arbeitet Schmutzer mit dem Basis Film-Verleih, der Edition Salzgeber, dem Verleih der Filmemacher und jüngst mit Ventura zusammen. Auf seine Zufriedenheit angesprochen, wiegt er den Kopf; er weiß, wie schwer es ist, Dokumentarfilme an die Zuschauer zu bringen. "Als Produzent freue ich mich über gute Zahlen, aber ich mische mich in die Vermarktung selbst nur ungern ein: Es ist ein anderes Gebiet, dafür braucht man andere Erfahrungen. Ich vertrete das arbeitsteilige Prinzip."
Schritte ins Neuland
Das muss er auch, gerade jetzt, denn mindestens sechs Projekte stehen unmittelbar vor Drehbeginn. Andreas Voigt bereitet "Übergänge" vor, eine filmische Reise entlang der österreichisch-slowenisch-ungarischen Grenze. Jolanta Dylewska will in "Kaddish" einige ehemalige jüdische Schtetl in Polen, Weißrussland und Bulgarien besuchen und das Leben der heutigen Einwohner in Beziehung zu Dokumentaraufnahmen setzen, die einstige Auswanderer in den 30er-Jahren beim Besuch ihrer Geburtsstätten gemacht haben. Winfried Junge arbeitet am nächsten Golzow-Film, diesmal über den Chemiefacharbeiter Bernhard, "Man kann ja nicht aufhören zu denken". Eduard Schreiber porträtiert, wie schon in den späten 70er-Jahren bei der DEFA, den Bildhauer und Autor Wieland Förster. Darüber hinaus bereitet "à jour" einen Stoff namens "Engel der Verzweiflung" vor, mit dem sich Rainer Ackermann auf die Spuren des US-amerikanischen Schriftstellers und Querdenkers Jack Kerouac ("On The Road") begeben will. Doch Schmutzer wagt sich auch auf Neuland: Jutta Brückners Spielfilmprojekt "Hitlerkantate" wird mit der Leipziger Saxonia Media Filmproduktion im HD-Format 24 p realisiert; dabei bezieht die Regisseurin Dokumentarmaterial über Special Effects ein. Ob Schmutzer diese Technik auch bei einem weiteren Spielfilmprojekt anwendet, steht noch in den Sternen. In "Marie Harder" möchte Dagmar Wittmers der Vita einer deutschen Stummfilm-Regisseurin nachspüren, die Mitte der 30er-Jahre bei Recherchen in Mexiko ums Leben kam. Eine ambitionierte Zeitreise, wie fast jeder Film, der unter der Marke "à jour" herauskommt.
Ralf Schenk (filmdienst 21/2001)