Zerrissene Helden. Zum 70.
Geburtstag des Regisseurs Roland Gräf
Zu seiner Biografie befragt, ließ Roland Gräf vor einigen Jahren unumwunden wissen, er habe „von Anfang an nicht den Ehrgeiz gehabt, Sieger in Cannes zu werden. Ich hatte einen anderen Impuls, Filme zu machen“. So speist sich das Oeuvre des Regisseurs, der am 13. Oktober seinen 70. Geburtstag feierte, vor allem aus möglichst genauen Beobachtungen des Alltagslebens der DDR: Gräf versuchte zu erkunden, was die Menschen im „anderen deutschen Staat“ 40 Jahre lang umtrieb, woher sie kamen, woraus sich ihre Verhaltensmuster speisten und wie sie sich ausprägten, in welche Richtungen ihre Hoffnungen und Träume gingen. Gemeinsam mit seinen Autoren, zu denen renommierte Erzähler wie Klaus Poche, Martin Stephan und Helga Schütz gehören, brachte er in den DEFA-Film streitbare, widersprüchliche, oft innerlich stark zerrissene, ungefällige Figuren ein. Gräf schöpfte dafür ebenso heftig aus der Wirklichkeit wie aus filmischen Verdichtungen dieser Wirklichkeit: Seine cineastischen Vorbilder lassen sich unschwer im italienischen Neorealismus und in der tschechischen Neuen Welle ausmachen, bei De Sica und Rossellini ebenso wie bei Milos Forman und Jirí Menzel.
Meister der lakonischen Kamera
Geboren im thüringischen Meuselbach, kam Gräf Mitte der 1950er-Jahre an die Deutsche Hochschule für Filmkunst nach Potsdam-Babelsberg. Hier studierte er in der Fachrichtung Kamera, um nach dem Diplom zunächst für ein Jahr zum DEFA-Studio für Dokumentarfilme und von dort 1961 zum Spielfilm zu gehen. Allerdings waren ihm die beiden Stilrichtungen, die damals in Babelsberg vorherrschten, ziemlich fremd: Mit dem altbackenen, noch aus Ufa-Zeiten überlieferten Studio-Naturalismus mochte er sich ebenso wenig anfreunden wie mit der soeben wieder in Mode gekommenen „schrägen Kamera“, den streng gebauten, ausgeklügelten Bildern eines forcierten Neo-Expressionismus. Gemeinsam mit Regisseuren seiner Generation wagte Gräf stattdessen eine Art dokumentarisch-realistischen Gegenentwurf: lakonisch und pointilistisch. Dieser Stil und auch die mit ihm verbundenen Geschichten, die die Ateliers weit hinter sich ließen und an authentischen Schauplätzen realisiert wurden, stießen zunächst auf erhebliche Widerstände: Gräfs frühe Kameraarbeit „Wind von vorn“ (1962, Regie: Helmut Nitzschke) über Montagearbeiter in der DDR-Provinz wurde noch vor Drehschluss abgebrochen; und „Jahrgang 45“ (1966), das Spielfilmdebüt des Dokumentaristen Jürgen Böttcher, bei dem Gräf die Kamera führte, verschwand nach dem 11. Plenum im Tresor.
Und doch setzte sich in der zweiten Hälfte der 1960er- Jahre auch beim DEFA-Spielfilm mehr und mehr jenes schmucklose dokumentare Alltagskino durch, das weder auf platte Erziehungsdramaturgie noch auf die emotionale Überrumpelung der Zuschauer durch gesteigerte Dramatik zielte, sondern auf die unaufgeregte Entdeckung des „Menschen neben Dir“. Gräf fotografierte einige Schlüsselfilme dieser ostdeutschen „Neuen Welle“: Frank Vogels „Das siebente Jahr“ (1969) über die Ehekrise einer Ärztin und eines Schauspielers; Herrmann Zschoches „Weite Straßen – stille Liebe“ (1969) über die Abenteuer eines Fernfahrers zwischen Rostock und dem Thüringer Wald; und schließlich Lothar Warnekes „Dr. med. Sommer II“ (1970), das filmische Tagebuch eines jungen Assistenzarztes, der seine erste Arbeitsstelle antritt – ein Werk, in dem vielleicht am konsequentesten auf eine herkömmliche Fabelführung verzichtet und das Augenmerk auf authentische Situationen gelegt wurde. Im Umfeld dieser Filme reifte der Entschluss, selbst Regie zu führen. So debütierte Gräf 1971 mit „Mein lieber Robinson“, für den Klaus Poche ein Szenarium schrieb, das Motive des verbotenen „Jahrgangs 45“ aufgriff und mit leichtem komödischem Unterton variierte. Erneut ging es um die Generation der knapp 20-Jährigen, die ihren Platz im Leben noch nicht gefunden hat, um Freiheit und privates Glück, hier exemplifiziert an einem jungen Krankenfahrer, dem es, obwohl er selbst Vater wird, schwerfällt, Abschied von seiner Kindheit und Jugend zu nehmen.
Thematisches Neuland
Ab Mitte der 1970er-Jahre vermochte es Gräf trotz mancher Widerstände, nahezu alle zwei Jahre einen Spielfilm in die Kinos zu bringen. Keiner davon war ein „Leichtgewicht“, und mit jedem erschloss der Regisseur thematisches Neuland. „Bankett für Achilles“ (1975) begleitete nicht nur einen alten Chemiearbeiter (Erwin Geschonneck) an seinem letzten Arbeitstag vor der Rente und erkundete die Gefühle eines Menschen, der nach über 40 Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden muss, sondern reflektierte auch über Umweltzerstörungen im Chemiedreieck um Bitterfeld und über die Vision neuer „blühender Landschaften“. „Die Flucht“ (1977) griff das Tabuthema des illegalen Verlassens der DDR auf: Mit dem Porträt eines Kinderarztes (Armin Mueller-Stahl), der sich von einer Schleuserbande in die Bundesrepublik bringen lassen will, werden zugleich Gründe dargelegt, die ihn zu diesem Schritt bewegen: berufliche Einschränkungen, Bürokratismus, Vetternwirtschaft, auch subjektive Empfindlichkeit. „P.S.“ (1979) erzählt die sprunghafte „Ankunft im Alltag“ eines Waisenjungen, der wegen Rowdytum verurteilt wird und sich später in seine Bewährungshelferin verliebt. Mit „Märkische Forschungen“ (1982) nach einer Erzählung von Günter de Bruyn inszenierte Gräf eine bitterböse und deshalb von vielen für kaum denkbar gehaltene Satire auf den Wissenschaftsbetrieb und die Geschichtsforschung in der DDR: Anhand zweier höchst gegensätzlicher Protagonisten, eines etablierten Professors (Kurt Böwe), der die Historie nach seinem Gusto auslegt, und eines um Wahrheit ringenden Dorfschullehrers (Hermann Beyer), reflektiert der Film die In-Dienst-Stellung der Wissenschaft für aktuelle politische und persönliche Macht- und Karrierezwecke. Auch im deutschen Osten, so das Resümee, war der Ehrliche der Dumme.
Einen schärferen Blick auf die realsozialistische Gegenwart warf die DEFA (sieht man von Rainer Simons lange verbotenem „Jadup und Boel“, 1981, ab) sonst kaum; „Märkische Forschungen“ wäre wohl nicht auf den Leinwänden erschienen, wäre der Film auch nur einige Monate später fertig geworden. Als sich in der fortschreitenden Agonie der Honecker-Ära eine neue kulturpolitische Eiszeit Bahn brach, wandte sich Gräf zumindest äußerlich von der Gegenwart ab: Seine Filme kehrten in die 1940er- und 1950er-Jahre zurück, untersuchten Verstrickungen von Individuen in Faschismus und Krieg, so wie „Das Haus am Fluß“ (1986), das Panorama einer Familie, deren Männer an der Front sind und deren Frauen mit Politik zwar möglichst nichts zu tun haben wollen, aber unweigerlich von ihr eingeholt werden. Mit „Fallada – letztes Kapitel“ (1988) porträtierte der Regisseur einen von den Umständen und vom eigenen Charakter Zerrissenen (Jörg Gudzuhn): ein dunkles Endzeit-Spiel, so, wie alle Filme Gräfs in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre eher zu gedämpften Farben tendierten und kaum mehr Raum für komödiantische Töne bereit hielten. Auch den einstmals bevorzugten dokumentaren Stil hatte Gräf längst hinter sich gelassen; vielmehr verdichtete er seine Arbeiten spätestens seit „Märkische Forschungen“ zu psychologischen Kammerspielen für vorzugsweise kleine, penibel ausgewählte Darsteller-Ensembles. Bei ihm traten nahezu alle auf, die in der DDR Rang und Namen hatten: Jutta Wachowiak und Katrin Sass, Michael Gwisdek und Corinna Harfouch, Rolf Hoppe, Sylvester Groth und viele andere.
Stoffe in der Schublade
Seinen Abschied von der DDR vollzog er mit zwei Arbeiten, die dann noch einmal Ironie und Sarkasmus aufblitzen ließen: „Der Tangospieler“ (1990) nach einer Erzählung von Christoph Hein blendete in die 1960er-Jahre, spielte mit Ereignissen wie dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR und dem Funktionieren der Staatssicherheit und nahm in diesem Umfeld das Thema des Opportunismus unter die Lupe. „Die Spur des Bernsteinzimmers“ (1992), eine muntere Mixtur aus Thriller und Komödie, wurde zu Gräfs unfreiwilligem Abschied vom Kino. Bis in die späten 1990er-Jahre bemühte er sich, für mehrere Stoffe, die ihm sehr am Herzen lagen, eine Finanzierung auf die Beine zu stellen. Es gelang nicht. So blieb das von Helga Schütz geschriebene Szenarium „Heimat, süße Heimat“ über deutsche Emigranten in der Sowjetunion, ihre Verbannung und Lagerhaft und die von Schweigen begleitete Rückkehr in die DDR ungedreht. Ungedreht blieb „Immer und ewig“, die Liebesgeschichte zwischen einem russischen Soldaten und einer deutschen Krankenschwester unmittelbar nach Kriegsende; und auch „Herbst der Spione“, ein Film über zwei greise Agenten – eine Kundschafterin des KGB und einen Spion der CIA, die sich in Potsdam treffen und ineinander verlieben – kam nie zustande.
Roland Gräfs Stimme, die, befreit von kulturpolitischen Zwängen, im deutschen Film der 1990er-Jahre vermutlich erregende Geschichten zu erzählen gehabt hätte, verstummte – zumindest auf der Leinwand. So, wie er sich vor 1989 als Vorsitzender des Künstlerischen Rats der DEFA für schwierige Filme von Kollegen und für die berechtigten Forderungen junger Künstler eingesetzt und wie er nach 1990 um den Erhalt des Produktionsstandortes Babelsberg gekämpft hatte, engagierte er sich nun im Vorstand der DEFA-Stiftung für die Pflege und Bewahrung des ostdeutschen Filmerbes. Gräfs Arbeiten wieder zu entdecken, ist freilich nicht nur eine Aufgabe des Ostens; denn „Bankett für Achilles“ und „Märkische Forschungen“, „Fallada – letztes Kapitel“ und „Der Tangospieler“ markieren Höhepunkte der gesamtdeutschen Kinohistorie.
(filmdienst 21/2004)