Edith, Renate, Stupsy und das OTB.
Die Dokumentarfilme von Volker Koepp
von Reinhard Lüke
Wittstock, Kreisstadt im Bezirk Potsdam, in der Prigniz, an der Dosse, mit 10400 Einwohnern; hat Tuch-, Holz-und Maschinenindustrie, Stadtbefestigung und gotische Kirche, historisches Rathaus, Reste der Stadtmauer. Das war auch schon alles, was ein westdeutsches, immerhin 20bändiges Lexikon im Jahr 1967 über diese Kleinstadt, nördlich von Berlin zu berichten wußte. Und wahrscheinlich hätte man nach diesem Provinznest auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bis heute umsonst gefandet, wären da nicht irgendwann auch auf westlichen Dokumentarfilm-Festivals die Filme von Volker Koepp aufgetaucht, die über knapp zwei Jahrzehnte den Wandel dieses Ortes akribisch verfolgten. Sicherlich, Wittstock lag für den westlichen Betrachter auch Ende der 80er Jahre noch weiter weg als Bangkok, wurde aber durch Koepps Filme mit der Zeit so vertraut wie Dodge City. Und blieb ebenso irreal. Immer aber war man neugierig auf die nächste Folge dieser Langzeitbeobachtung, und wie es denn weitergehen würde mit Edith, Renate, Elsbeth - genannt Stupsy - und dem OTB.
Hinter dem exotischen Kürzel OTB verbirgt sich der noch exotischere Name "Obertrikotagenwerk Ernst Lück". Eine Textilfabrik, dessen Aufbau Volker Koepp 1974 erstmals veranlaßte, in der märkischen Kleinstadt zu filmen. "Mädchen in Wittstock" hieß der gerade einmal 19 Minuten lange Kurzfilm. Junge Frauen aus der Umgebung berichteten über die Arbeitsbedingungen im neuen Werk, über Probleme mit der Planerfüllung, Reibereien untereinander und die fehlenden Freizeitangebote - von denen man sich an Hand öder Tanzschuppen mit dem Charme einer Betriebskantine, ausgestattet mit all den Scheußlichkeiten der 70er Jahre, auch gleich ein Bild machen konnte. Die Frauen nahmen kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, die Mißlichkeiten ihrer Situation zu schildern. Nach diesem ersten Film drehte Koepp bis 1984 vier weitere Dokumentationen in Wittstock, wobei er sich zunehmend auf drei der Arbeiterinnen konzentrierte: auf Edith, Renate und Stupsy. So wie ihren zunehmenden Frust auf der Arbeit, ihren Ärger über unfähige Vorgesetzte verfolgte er ebenso ihre "privaten" Schicksale: Heirat, Bezug einer eigenen Wohnung, Kinder. Mit "Leben in Wittstock" zog Koepp dann 1984 Bilanz. In knapp eineinhalb Stunden ließ er die vergangenen zehn Jahre in Wittstock Revue passieren, baute Sequenzen aus früheren Filmen ein und ließ "seine" Arbeiterinnen einigermaßen ernüchtert auf die letzten Jahre zurückblicken.
Alltag "von unten" betrachtet
Plötzlich stellte man als westlicher Zuschauer fest, daß Koepp hier am Beispiel des Mikrokosmos Wittstock eine ganze Menge über den Alltag in jenem exotischen Staat namens DDR erzählt hatte - und das konsequent "von unten". Funktionäre und Betriebsleiter kamen in der gesamten Reihe nicht zu Wort. Es sei denn als Verbreiter irgendwelcher Parolen und anderen Worthülsen auf Betriebsversammlungen.
Wie bei allen Langzeitbeobachtungen hatte man darüber hinaus nicht nur der Entwicklung von Personen vor der Kamera, sondern auch die Entwicklung eines profilierten Dokumentaristen verfolgen können. Kamen die Interviews in "Mädchen aus Wittstock" noch reichlich hölzern daher (die für den Zuschauer akustisch unverständlichen Fragen im Werk wurden noch mit Voice Over wiederholt), und mutete mancher Kommentar noch eher rührend an ("Beat wie an anderen Stätten der Jugend", hieß es, doch zu hören war keineswegs Beat, sondern Jazz-Rock-Gedudel), so demonstrierte Koepp eine fortschreitende Perfektionierung seiner filmischen Mittel. Der Kommentar beschränkte sich zunehmend nur noch auf das Nötigste - Angaben von Zeit und Ort, allenfalls ergänzt durch historische Hintergrundinformationen -, und auch seine Fragen wurden immer raffinierter. Das heißt, sie wurden zunehmend vager, beschränkten sich auf "Wie geht's euch heute?" oder "Könnte noch was besser werden?". Was vordergründig wie mangelnde Stringenz anmutete, ermöglichte jedoch "natürlich" wirkende Gesprächssituationen, in denen die Anwesenheit der Kamera bei allen Beteiligten scheinbar in Vergessenheit geriet. Andererseits wurde in den Gesprächen eine zunehmende Vertrautheit der Filmemacher mit ihren Akteuren sichtbar - die Mädchen werfen der Kamera schon einmal neckisch Kußhände zu -, die jedoch nie in eine heuchlerische Kumpanei abglitt.
"Unheimlich lernfähig"
Die politische Entwicklung der "Wende" brachte es mit sich, daß Volker Koepp 1990 noch einmal nach Wittstock fuhr, um dem Phänomen der Wiedervereinigung vor Ort nachzuspüren und seinen sechsten Wittstock-Film "Neues in Wittstock" zu drehen. Auf dem beschaulichen Marktplatz werden Anfang jenes Jahres Gebrauchtwagen/West feilgeboten, in den ersten Spielhallen flimmern die Flipper-Automaten, und in einem kleinen Textilgeschäft liegt ein schwarz-rot-goldenes "Länderkissen" für knapp 20 Mark im Fenster. Daneben hat soeben eine Boutique namens "New Yorker" ("Fashion for Living") eröffnet, in der westliche Blondinen Wittstocker Verkäuferinnen einweisen und ganz begeistert sind: "Die Leute hier sind unheimlich lernfähig. Einfach suuuper!"
Das Schicksal des OTB ist ungewiß. Und somit auch das von Edith, Renate und Stupsy. Die Treuhand sucht nach Interessenten. In einer Kneipe trifft Renate auf einen freundlichen Westdeutschen, der sich in der Gegend selbständig gemacht hat. "Ich heiß' Jochen und bin'n echter Norddeutscher", stellt er sich vor. Jochen mimt den wohlwollend Interessierten und gibt bereitwillig Nachhilfe-Unterricht in Sachen Marktwirtschaft. Was sie denn so mache, will er von Renate wissen. Und die erklärt, wie sie 1973 nach Wittstock ins neue OTB kam, um die jungen Mädchen zur Arbeit zu erziehen. "Motivieren sagt man dazu", fällt Jochen ihr durchaus freundlich ins Wort. Szenen, die Koepp nicht mit erhobenem Zeigefinger ("Schaut her, ein Besser-Wessi'") ausstellt, sondern wie ein Seismograf schlicht protokolliert. Mit ein wenig unverhohlener Wehmut, aber ohne Larmoyanz und nostalgische Verklärung.
Die "Märkische Trilogie"
Zur selben Zeit arbeitete Koepp an seiner "Märkischen Trilogie", einem Protokoll des Umbruchs am Beispiel der Kleinstadt Zehdenick, ebenfalls im Bezirk Potsdam gelegen (vgl. hierzu "Reise ins Landesinnere" in fd 9/1990). Die ersten Teile "Märkische Ziegel" und "Märkische Heide, Märkischer Sand" realisierte Koepp 1990, den dritten, "Märkische Gesellschaft mbH", ließ er 1991 folgen. Wie in Wittstock beobachtet er hier ebenso sensibel und mit denselben filmischen Mitteln den Umbruch. Den Ausverkauf der örtlichen Ziegelei, die euphorischen Anfänge des freien Unternehmertums - ein ausrangierter Bus wird zum "Kaffee (nicht etwa Cafè!) Elvis" - und die Unsicherheit von Menschen, die mit einer Mischung aus Angst und Galgenhumor in eine Ungewisse Zukunft blicken. Auch hier fand er wieder jene Bilder, die hängenbleiben: den Arbeiter in einer Spirituosen-Fabrik, der den ganzen Tag lang Altglas zertrümmert und nicht weiß, was er (bei der ersten freien Wahl zur Volkskammer der DDR) wählen soll; das Krämer-Ehepaar, das sich als Mitglied der CDU bekennt, aber, nach den Zielen befragt, erst einmal unter dem Ladentisch nach dem Parteiprogramm und anschließend nach der Brille sucht; oder jene rüstige alte Frau aus dem Westen, die während eines Interviews mit einem inzwischen entlassenen Ziegelei-Arbeiter plötzlich ins Bild trabt - "Ich komm' gerad' vom Katholikentag in Berlin mal 'rüber" - und sich als ehemalige Inhaberin der Ziegelei vorstellt. Ein Glücksfall, wie er Dokumentarfilmern nur alle Jubeljahre über den Weg läuft. Doch auch der Umgang mit solchen Zufallsgeschenken will überlegt sein, und auch darin demonstriert Koepp eine seltene Souveränität. Er stellt die alte Dame nicht ins Rampenlicht, sondern läßt sie nach einem kurzen Gespräch ihrer Wege gehen, um sich wieder "seinem" konsternierten einsägen Ziegelbrenner zuzuwenden.
Für andere Höhepunkte seiner Filme beweist Koepp hingegen untrügliches Gespür und scheut sich auch nicht, sie noch einmal zu verwenden. So zum Beispiel Stupsys ganz private Filmtheorie (nur echt im berlinernden Dialekt): "Also, 'n Spielfilm stell' ick mer so vor: Da lernen sich zwee kennen, un nach ne jewisse Zeit, da jibt's en ersten Krach. Un dann sin' se beede zu stolz dazu, dat eener zu den ändern hinjeht un erklärt, dasse allet, äh, zur Versöhnung un so. Un dann müßten se ooch viel vonne Arbeet bringen. Viel vonne Arbeet. Wat er macht, wat sie macht. Na ja, dann lernt sie eenes Abends nen jungen Mann kennen. Doch dann merkt se nach 'ne jewisse Zeit, dat se den doch nich so jut findet wie den ersten. Dann kommen die beeden nachher doch wieder zusammen. Dann dürften se den Film aber nich gleich abdrehen. Dann müßten se weiterzeigen. Wie se weiterleben, wie de Familie wächst, wat für Probleme da sind ..." Diese liebenswerte Theorie einer realistischen Romanze mit Hindernissen hatte Stupsy irgendwann in den 70er Jahren für Koepp keß in die Kamera gesprochen. (Sie fungierte als Eingangsequenz zu "Leben in Wittstock".) Am Ende mußte sie damals lachen und sagte nur noch: "Weiter weiß ick jetz och nich." 1992 setzte Koepp die Szene noch einmal an den Schluß von "Neues in Wittstock" - und damit ans Ende seiner Wittstock-Reihe. Stupsy blickt dazu vom Balkon ihrer Wohnung und sagt mit hörbarem Seufzer: "Ja, daran kann ick mich noch jut erinnern. Aber jetz' is wohl Ende, wa?"
Kein "Es war einmal"
Was in anderen Zusammenhängen und Filmen womöglich als grenzenlos gestelztes, bedeutungsschwangeres Finale daherkäme, wirkt hier trotz aller inhärenten Resignation nicht die Spur aufgesetzt. Ein Phänomen, das einerseits mit der Persönlichkeit jener Stupsy zusammenhängt, andererseits aber auch nur funktioniert auf Grund der behutsamen und liebevollen Art, m der Koepp während dieser knapp 20 Jahre mit seinen Figuren filmisch umgegangen ist. Schon allein diese unscheinbare Meisterschaft in ihrer Entwicklung zu verfolgen, macht ein Wiedersehen mit Volker Koepps Dokumentarfilmen überaus lohnend. Ein Wiedersehen, das einen zuguterletzt mit dem eigenen Umgang mit der noch immer neuen gesamtdeutschen Wirklichkeit konfrontiert. Denn Koepps Filme sperren sich nach wie vor gegen jedes Bestreben, sie unter dem museal-nostalgischen Etikett des "Es war einmal" zu archivieren. Sie sind heute aktueller denn je und eigentlich ein Pflichtprogramm für all jene gesamtdeutschen Politiker, die da verständnislos bis wutschnaubend gegen die Wahlerfolge der PDS wettern. Aber sie werden wahrscheinlich wieder einmal nicht die Zeit fürs Filmeschauen finden.
Reinhard Lüke (filmdienst 23/1994)