Ein Spiegel deutscher Kulturpolitik.
Was wurde aus dem Staatlichen Filmarchiv der DDR?
von Volker Baer
Mit der Auflösung des ostdeutschen Staates lauden 1990 auch viele Institutionen ihr Ende, wurden entweder abgewickelt oder anderen Instituten angeglieden. manches formte sich auch neu. Was wurde aus dem einstigen Staatlichen Filmarchiv der DDR. das über die Grenzen des Landes hinaus Ansehen genoß? Es war Mitglied der Fédération Internationale des Archives du Film (FIAF), in der die wichtigsten Sammelstellen der Filmhistorie verbunden sind. Sein langjähriger Direktor. Wolfgang Klaue, war von 1979 bis 1984 President dieser Vereinigung. Vor allem aber verfügte das Archiv über große Bestände, die im internationalen Austausch der Forschung zugute kamen.
1955 gegründet, diente das Staatliche Filmarchiv der DDR wie die anderen vergleichbaren Institute dem Erwerb, der Restaurierung, Katalogisierung und Verbreitung von Filmen. Wie groß nun waren zum Zeitpunkt des Endes der DDR die Ost-Berliner Bestände? Nach heutigen Angaben des Bundes-Filmarchivs befanden sich 1990 über 64 000 Kopien aller Gattungen, 340 000 Fotos, 17 500 Plakate sowie rund 10 600 Bücher in den Regalen der Ost-Berliner Lagerstätten. Zum Vergleich: Das Bundesarchiv besaß zur selben Zeit etwa 60 000 Kopien.
Filmische Kulturgüter
Den Grundstock für die Ost-Berliner Sammlung bildete das einstige Reichsfilmarchiv, dessen Bestände bei Kriegsende weithin verstreut wurden, verloren gingen. Einen nicht geringen Teil beschlagnahmte 1945 die sowjetische Besatzungsmacht. Noch heute liegen nach westlichen Schätzungen etwa 4 500 Filme in Rußland. Gegen Ende der DDR wurden sie zwar Ost-Berlin, später auch der Bundesrepublik Deutschland zum Kauf angeboten, doch die Preisvorstellungen gingen weit auseinander. So sind sie unter anderem auch Thema der deutsch-russischen Kommission, die über die gegenseitige Rückführung im Krieg entwendeter Kulturgüter zu verhandeln hat. Zurückgegeben wurden, wie einer amtlichen Aufstellung der "Sowjetischen technischen Kommission" vom 29. April 1954 zu entnehmen ist, über 10 000 Spiel-, rund 3 700 Kurz-, 65 Trick- und über 1 000 Schmalfilme sowie rund 2 600 Wochenschaukopien und schließlich auch noch 8 000 Büchsen mit Schnittresten verschiedener Filme. Eine "Deutsche technische Kommission" nahm das Material entgegen. Im Spätstadium der DDR wurden auch noch rund 25 000 Zensurkarten der Jahre zwischen 1920 und 1945 an Ost-Berlin zurückgegeben. Heute verfügt man über insgesamt 45 000 Zensurkarten, was etwa 75 Prozent der Filmproduktion jener Jahre entspricht. Als historische Hilfsmittel gelten sie als unerläßlich für die Forschung. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind auch jene Kopien, die als Kriegsbeute in die USA gelangten und der Library of Congress eingegliedert wurden. Hier wurden im Laufe der Jahre die Nitrokopien gegen umkopierte Fassungen getauscht, das heißt, das Bundesarchiv übernahm die Umkopierung und gab eine Kopie nach Washington zurück, behielt aber selbst eineKopie des jeweiligen Films aus dem einstigen Reichsfilmarchiv.
Beide Sammlungen nun, die einstigen Ost-Berliner Bestände wie die in Koblenz lagernden Kopien, wurden durch den deutschen Einigungsvertrag mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 zusammengeführt. Mit diesem Tag ist der Sitz des Bundesarchivs-Filmarchivs auch Berlin. Es gab seither einige Verlagerungen, so wurde das Schriftgut aus ehemals Ost-Berliner Lagerstätten zum neuen Sitz des Filmarchivs im westlichen Bezirk Wilmersdorf (Fehrbelliner Platz 3, 10707 Berlin) gebracht. Die Kopien hingegen verblieben im einstigen Filmbunker in Berlin-Wilhelmshagen. Gearbeitet wird wechselseitig zwischen Koblenz und Berlin. So kommen auch Bestände vom Rhein an die Spree, wenn sie dort für die Forschung oder für die Pflege benötigt werden. Und der Öffentlichkeit stehen auch die Berliner Bestände zur Verfügung.
Hauptakzent DEFA
Wo nun lagen die Schwerpunkte des ehemals Staatlichen Filmarchivs der DDR (und worin ist ein Gegensatz oder eine Ergänzung des ehemals west-deutschen Bundesarchivs zu erkennen)? Ganz eindeutig setzt die Produktion der DEFA einen Hauptakzent. Rund 90 Prozent der DEFA-Spielfilmproduktion ist archiviert (eine Abgabeordnung bestand in der DDR seit 1978). Ferner findet man - in 2004 Ausgaben - alle Wochenschauen der DDR von 1946 bis 1980, außerdem die Kurzfilmproduktion der Studios in Berlin und Babelsberg, die vollständige Serie des "Stacheltiers" sowie die Arbeiten der Trickfilmstudios Dresden. In Auswahl ist die übrige deutschsprachige Produktion, also der Film der Bundesrepublik Deutschland bis 1990 sowie der aus Österreich und aus der Schweiz, vertreten. Fotos, Plakate und anderes Schriftgut zu den Filmen ergänzen die Sammlung der einstigen DDR. Gut bestückt ist auch die Auswahl der Produktion der einstigen sozialistischen Länder: soweit Filme in den ostdeutschen Kinos zu sehen waren, kamen sie in der Regel auch ins Archiv, das nun - wie kaum eine andere Sammelstelle - auch über viele vietnamesische oder kubanische Kopien verfügt.
Die Auswahl älterer deutscher Produktionen ist jedoch begrenzt, was die Leitung des Bundesarchivs-Filmarchivs mit der Geschichte der DDR-Sammlung erklärt: Das Reichsfilmarchiv hat seit seiner Gründung 1935 vornehmlich Produktion der NS-Zeit archiviert. Zum klassischen en deutschen Film, also zu den Zeugnisse der Weimarer Zeit, hatte man ein gespalte Verhältnis. Und in der Frühzeit des Films hatte zudem keine öffentliche Institution ein ausgeprägtes Interesse an der Archivierung der Dokumente der neuen Kunst, die man weithin noch nicht für Kunst hielt. Man überließ privaten Enthusiasten das Feld, weshalb denn beispielsweise die Berliner Stiftung Deutsche Kinemathek auch auf den Beständen von Gerhard Lamprecht aufbaute. So hat zwangsläufig das ehemalige Filmarchiv der DDR viele Kopien aus der NS-Zeit, weniger hingegen aus den Weimarer Jahren und weit weniger noch aus der Frühzeit der Kinematografie. Findbücher wie in Koblenz gibt es im übrigen nicht. Den staatlichen Spielstellen ließ man innerhalb des Verleihs historischer Produktionen Empfehlungslisten zukommen.
Wochenschauen, Kurzfilme
Anders sortiert ist - gemäß seiner anderen Aufgabestellung - das Bundesarchiv in Koblenz, das zunächst nur Dokumente der Geschichte des eigenen Landes aufbewahren sollte. So sind in dem 1950 gegründeten Archiv, das 1952 seine Sammlertätigkeit aufnahm, vornehmlich Wochenschauen und Kurzfilme (etwa 50 000) anzutreffen. Da es in der Bundesrepublik Deutschland keine Abgabenordnung gab und noch immer nicht gibt (im Gegensatz etwa zur Abgabeordnung für Bücher), sind deutsche Spielfilme (etwa 3 500) nur beiläufig in die Bestände aufgenommen worden. Nur die von Bonn geförderten oder mit einem Bundesfilmpreis ausgezeichneten Arbeiten mußten in Koblenz abgeliefert werden. Insgesamt verfügt nach dem Zusammenschluß beider Sammlungen das Bundesarchiv heute über etwa 150 000 Filme vornehmlich deutscher Herkunft, aber eben auch in beachtlichem Umfang beispielsweise sowjetischer Produktion.
Von den Kopien wird jeweils ein sogenanntes Sicherungspaket hergestellt, das heißt, ein Duplikat-Negativ, ein Duplikat-Positiv und zusätzlich Benutzermaterial für den gewerblichen wie den nichtgewerblichen Verleih. Bei Rechtsfragen hatte die DDR, wie es heute heißt, eine andere Haltung als das Bundesarchiv, was wenig überrascht, wenn man an den Umgang mit Buchlizenzen in Ost-Berlin denkt. Die Organisationsstruktur war zwischen Ost und West verschieden, die Auffassung vom Umgang mit filmhistorischem Material jedoch war, nach Ansicht sowohl ehemals ostdeutscher als auch westdeutscher Filmwissenschaftler, die heute gemeinsam im Bundesarchiv tätig sind, weithin gleich. Man hat ja auch schon früher zusammengearbeitet. Wie die meisten seiner ehemaligen Kollegen hat Helmut Morsbach vom Staatlichen Filmarchiv der DDR Aufnahme im Bundearchiv gefunden. Sein Studium der Archivwissenschaft und Geschichte an der Ost-Berliner Humboldt-Universität hatte er einst abbrechen müssen, da er den Machthabern nicht genehm schien. So begann er 1972 seine Tätigkeit am Filmarchiv der DDR, holte sein Diplom später nach. Seit 1990 gehört er zum Bundesarchiv-Filmarchiv. Heute ist er Vertreter des Archivleiters Karl Griep, der über das Studium der Soziologie und Linguistik in Bielefeld und wissenschaftliche Arbeit 1980 zum Bundearchiv kam, wo er zunächst im Dokumentarfilmarchiv tätig war. Seit 1993 leitet er das Filmarchiv, dessen Mitarbeiterstab gegenwärtig 158 Wissenschaftler, Techniker und Verwaltungsbeamte umfaßt, die m Berlin, Babelsberg und Koblenz an vier Stellen tätig sind. Der Etat freilich ist - nach Auskunft von Griep - heute für das vereinigte Archiv geringer als im Jahr 1990 vor dessen Zusammenlegung - dank der Bonner Sparmaßnahmen.
Neue Aufgabenbereiche
Dabei haben sich die Aufgaben vergrößert. Das Bundesarchiv war bisher mehr mit Erwerb, Lagerung und Pflege des Materials beschäftigt sowie mit dem Verleih oder der Zurverfügungstellung von Kopien für andere Produktionen. Vom Ost-Berliner Institut, das - den westdeutschen Goethe-Instituten darin vergleichbar - weithin nach außen tätig war, hat das Bundesarchiv manche Aufgabe übernommen. So arrangiert es beispielsweise die Retrospektive für die Leipziger Dokumentarfilmwoche, die in diesem Jahr den mit einem Bundesfilmpreis ausgezeichneten Dokumentarfilmen gilt. Es publiziert zudem weiterhin die "Filmobibliographischen Jahrbücher der DDR", deren letzter Band für 1990 noch in diesem Jahr erscheinen soll. Für rund 35 000 Filme hat man zudem bisher filmbegleitendes Material zusammengestellt. Genutzt wird das in Berlin liegende Material in starkem Maße, wie Karl Griep berichtet, vornehmlich von Wissenschaftlern, Universitäten, von den Filmakademien in Berlin und Potsdam, von Produzenten und Kinos und nicht zuletzt von deutschen und internationalen Festivals.
Neben diesen Besitzständen des ehemals Staatlichen Filmarchivs der DDR gibt es im übrigen weiteres wertvolles Material, das Auskunft gibt über die Geschichte der DEFA und des ostdeutschen Kinos. Doch die Eigentümer dieser nicht minder informativen Zeitdokumente sind nicht festgelegt, weshalb es sich noch im Besitz der Treuhandanstalt befindet, aber bereits im Zugriffsbereich - wie der Fachausdruck heißt - des Bundesarchivs ist. Es handelt sich dabei um die Unterlagen der DEFA, die ja nicht zur Privatisierungsmasse beim Verkauf der Ateliers gehörten. Es umfaßt beispielsweise die Fotos zu allen rund 700 DEFA-Spielfilmen, wobei je Produktion oft zwischen 200 und 800 Aufnahmen gesammelt wurden. Femer sind die Akten der DEFA-Studios, die Betriebsarchive (auch die der Trick- und Dokumentarfilmstudios), die Verträge, Drehbücher und Noten Teil dieser Bestände. Der Kostümfundus und die Technik wurden bei der Privatisierung der Babelsberger Ateliers weithin mit verkauft. Einiges wurde wohl dem Potsdamer Filmmuseum zur Verfügung gestellt.
Beachtung verdienen schließlich auch noch die Bestände politischer Archivierung wie die Unterlagen der Hauptverwaltung Film beim Kulturministerium der DDR, die früher dem Staatsarchiv der DDR zugeleitet wurden. Heute sind diese Materialien ebenfalls im Besitz des Bundesarchivs und zwar in Händen der für die DDR zuständigen Abteilung (und eben nicht im Filmarchiv). Insgesamt dürften die Unterlagen eine Fundgrube für Historiker und Filmwissenschaftler sein. Wie denn auch das eigentliche Filmarchiv eine Fundgrube für Cineasten darstellt: aus Ost-Berlin kam beispielsweise der Nachlaß von Skladanowsky, aus Koblenz hingegen der von Oskar Messter.
Was gegenwärtig noch weithin verstreut ist, wird am Ende in Berlin zusammengetragen sein. Schon arbeiten die meisten Abteilungen des Filmarchivs in Berlin, andere werden nachfolgen. Während Verwaltung und Archivierung von Schriftgut, Fotos und nichttechnischem Material am Fehrbelliner Platz bleiben werden, wird für die Kopien eines Tages der Neubau eines Filmbunkers in Wilhelmshagen unabdingbar sein, Wichtig ist aber auch, daß bereits entschieden ist, daß die Bestände anderer Abteilungen des Bundesarchivs, das heißt also auch die Informationsquellen filmpolitischer Herkunft aus DDR-Beständen, nach Berlin gelangen: im Ortsteil Lichterfelde stehen dafür die Kasernen der bisherigen Andrew Barracks zur Verfügung. Nach ihrer Renovierung werden sie Heimstatt des Bundesarchivs.
Und damit ist letztlich das erreicht, was einige Bundesinnenminister vornehmlich in den 70er Jahren immer wieder versprochen haben, nämlich, daß Berlin Sitz des zentralen deutschen Filmarchivs wird. Mit den alten Beständen des Bundes, mit denen des einstigen Filmarchivs der DDR sowie mit jenen der Stiftung Deutsche Kinemathek ist hier ein unübersehbarer Schwerpunkt deutscher Filmforschung gesetzt - in anderer Struktur freilich als man es noch vor Jahren geahnt haben mag. Über ihren kulturhistorischen Wert (und über ihre Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit der Filmhistorie) hinaus, verdient die zusammengeführte Sammlung des Bundes-Filmarchivs Beachtung. In der geringen Repräsentation der Frühzeit der Kinematografie, in der Auswahl der Produktion der Weimarer Zeit wie in der Sammlung der NS-Jahre einerseits und wie dann in der Archivierung in der DDR mit dem Schwerpunkt der Ostblockstaaten und in der Behandlung der Spielfilmproduktion von Seiten der Bundesrepublik Deutschland andererseits bietet sich ein Spiegel eben nicht allein deutscher Kultur, sondern zugleich auch deutscher Kulturpolitik, wenn nicht gar direkt deutscher Politik. Auch unter diesem Aspekt verdient die Sammlung Aufmerksamkeit als Ausdruck eben des staatlich Umgangs mit der Kultur.
Volker Baer (filmdienst 23/1994)