Spaltung der Bilder.
Tagung über Dokumentarfilm und deutsche Zeitgeschichte Ost-West
von Margarete Wach
Bevor das „Deutsche Historische Museum“ im Berliner Zeughaus Unter den Linden für drei Jahre von Modernisierungsarbeiten beherrscht wird, fand vom 21. bis 23. September im hauseigenen Kinosaal die Tagung „Spaltung der Bilder“ statt, zu der das Stuttgarter „Haus des Dokumentarfilms“ einlud, um die Erinnerung an die deutsche Zeitgeschichte nach 1945 im Dokumentarfilm der Bundesrepublik Deutschland und der DDR auszuloten. Bereits zwei große Tagungen galten dem westdeutschen Fernseh-Dokumentarismus und dem Dokumentarfilm der DEFA; damals entstand auch die Idee, einmal vergleichend die ost- und westdeutschen Dokumentarfilme zu betrachten, um so Grundlagen für eine umfassende Geschichte des deutschen Dokumentarfilms von den Anfängen im Kaiserreich bis zur Gegenwart zu schaffen, die jetzt in Form einer Video-Edition mit Begleitbüchern geplant ist. Für dieses Projekt würde der Wissenschaftliche Leiter des „Hauses des Dokumentarfilms“, Peter Zimmermann, gern Dokumentaristen, Historiker, Medienwissenschaftler und Publizisten östlicher und westlicher Provenienz an einen Tisch bekommen, um „sich gemeinsam an die Aufarbeitung der Vergangenheit“ zu machen und „voneinander zu lernen“. Nur so könne vermieden werden, daß ein einseitiges, gar verzerrtes Geschichtsbild aus nur westdeutscher Perspektive entstehe.
Verordneter Antifaschismus
Daß der dokumentarische Film in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts Partei ergriff und je nach ideologischer Ausrichtung oder vorherrschender Interessenlage fragwürdige Geschichtsbilder entwarf, dafür liefert gerade die Film- und Fernsehgeschichte im geteilten, aber auch im wiedervereinten Deutschland Beispiele. Wenn auch die Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ in der DDR viel früher begann als in der Bundesrepublik Deutschland und dezidierter betrieben wurde, so brachte sie aggressive Propaganda der SED hervor, die im Kalten Krieg ideologischer Instrumentalisierung und kaum einer ernsthaften Aufarbeitung der Geschichte diente. Der DEFA-Kompilationsfilm „Unternehmen Teutonenschwert“ (1958) von Annelie und Andrew Thorndike, mit dem die Tagung begann, steht paradigmatisch für die Machart einer ganzen Welle von Enthüllungsfilmen, die im höchsten Parteiauftrag den siegreichen Kampf um die Durchsetzung eines Staates mit einem neuen gesellschaftlichen System auf dem deutschen Territorium legitimierten, indem sie die deutsche Geschichte aus der Perspektive des Klassenkampfes abhandelten. Die Thorndikes leisteten mit ihrem Generalangriff auf den damaligen Oberbefehlshaber der NATO-Landstreitkräfte Hans Speidel – der als Abwehr-Offzier und späterer Wehrmachtsgeneral in hohen Stabstellungen vom Befehlsträger Hitlers in Führungspositionen der Bundesrepublik wechseln konnte – nur vordergründig eine Abrechnung mit den Kriegsverbrechern in der Nachkriegszeit. Vielmehr ging es hier wie in Walter Heynowskis Kompilationsfilm „Brüder und Schwestern“ (1963), der die Verflechtungen der Nazis mit den Interessen der deutschen Wirtschaft aufdeckte, um die Heraufbeschwörung einer von Westdeutschland ausgehenden Bedrohung für den „Weltfrieden“.
Weder Sinti und Roma noch Homosexuelle kamen im DEFA-Dokumentarfilm als Nazi-Opfer vor. Auch die Holocaust-Thematik blieb unterbelichtet. Was Wunder, daß bei diesem verordneten Antifaschismus, der weniger aus einer aufklärerischen Intention als einem politischen Kalkül entstand, auch so wenig Augenmerk auf die Mittäterschaft des einzelnen in der NS-Zeit gerichtet wurde. Im Gegenzug blieb die Rolle der Wirtschaft und der Großbanken in westdeutschen Produktionen fast vollständig ausgeblendet, wo doch führende bundesdeutsche Industrielle und Bankiers längst wieder zum Establishment gehörten. Obwohl Heinz Huber und Gerd Ruge in der für den Süddeutschen Rundfunk erarbeiteten Dokumentarfilmreihe „Das Dritte Reich“ (1959/60) die unfaßbaren Verbrechen der Nazis in Anlehnung an Eugen Kogons Untersuchung „Der SS-Staat“ analytisch aufzuarbeiten versuchten, übten sie trotz aller Sorgfalt ebenfalls eine „peinliche Rücksichtnahme“. Die Fokussierung der Darstellung auf die Figur Hitlers und seine Paladine, wie sie sich bereits in Leisers Dokumentation „Mein Kampf“ (1960) abzeichnete, obwohl Leiser den Zusammenhang der politischen Entwicklung in der Weimarer Republik niemals aus den Augen verlor, blieb wiederum bis zu Guido Knopps ZDF-Geschichtsreihe „Hitlers Helfer“ für die „Vergangenheitsbewältigung“ im Westen stilprägend. Seine Orientierung an der althergebrachten Historizismusformel „Männer machen Geschichte“ führt aber zu einer extrem personalisierten Geschichtsdarstellung, deren effekthascherische Dramaturgie auf vordergründige Spannung abzielt, wobei Analyse durch Schlagworte und griffige Formeln ersetzt wird. Knopp rechtfertigt seine Dramatisierung historischer Geschehnisse, die durch die Koppelung von Zeugenaussagen mit nachinszenierten Sequenzen oder leitmotivischen Wiederholungen von Nahaufnahmen mit symbolträchtigem Charakter erreicht werden, mit der Not einer defizitären Bildmateriallage und der Aufgabe des Massenmediums Fernsehen, „die Geschichte sinnlich erfahrbar zu machen“. Daß dieser Trend zur Personalisierung verbunden mit der Dämonisierung des Banalen und illustrativem Einsatz von austauschbaren Bildern zugleich den einzelnen „Mitläufer“ vor einer Selbstprüfung bewahrt, mag auch den überwältigenden Publikumserfolg dieser Geschichtskonstruktionen erklären.
Als Gegenbeispiel zu Knopps lässigem Umgang mit Foto- und Filmmaterialquellen wurde Michail Romms Dokumentarfilm-Essay „Der gewöhnliche Faschismus“ (1965) herangezogen, der als Musterbeispiel für die filmische Rekonstruktion von Geschichte im Kompilationsfilm gewürdigt wurde. Statt des Recyclings von immergleichen Bildern, die dazu noch vorwiegend aus Propagandafilmen und Wochenschauaufnahmen stammen, befrag te Romm sie nach ihrem zeitgeschichtlichen Kontext und reflektierte zugleich ihre mediale Stilisierung und Vermittlung. Bezeichnenderweise konnte der Film bis 1976 in der DDR nicht aufgeführt werden. Wie auch Alain Resnais’ Erinnerungsarbeit des Nichtschilderbaren in „Nacht und Nebel“ (1955) in Ost- und Westdeutschland auf erbitterten Widerstand stieß, antizipierte sein Film doch die Unmöglichkeit, den Holocaust zu dramatisieren und die Geschichte der Konzentrationslager „zu erzählen“.
Filme aus dem Alltagsleben
Während bei der Auseinandersetzung mit der Thematik des Nationalsozialismus und des „Dritten Reiches“ von Anfang an konträre Entwicklungen festzuhalten sind, die auch grundsätzliche Fragen nach Verifizierungsmöglichkeiten der Authentizität vom vorgeführten Archivmaterial, seiner Selektion und Zusammenstellung aufwerfen, weisen die dokumentarischen Annäherungsversuche an die Wirklichkeit in den beiden deutschen Staaten seit Mitte der 60er Jahre nicht mehr nur Unterschiede auf. Nach den Propagandabildern des Wiederaufbaus und den Helden der Arbeit in den Produktionsreportagen der 50er Jahre ebneten Filme wie „Feierabend“ (1964) und „Asse“ (1966) von Karl Gass, die impressionistische Einblicke in die Arbeitswelt der DDR ermöglichten, den Weg für die Einzel- bzw. Gruppenporträts und Langzeitbeobachtungen der nachfolgenden Regisseur-Generation. Obwohl die Realität hier so ungefiltert eingefangen wurde, daß die beiden Filme wegen ihrer vermeintlichen cinéma-vérité-Ästhetik zum Zensurfall avancierten, ließen sie auch einen Hang zum Idyllischen erkennen, der sie im Vergleich zu der westdeutschen Gesellschaftskritik der von Studenten- und Alternativbewegung beeinflußten Filmregisseure der späten 60er und 70er Jahre geradezu harmonieversessen erscheinen läßt. Während bei Gass Konflikte dazu da sind, um überwunden zu werden, bedient sich Klaus Wildenhahn zur gleichen Zeit in „In der Fremde“ (1967) einer dialektischen Dramaturgie, um Konflikte, Interessengeflechte und Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz auszuloten und so die Abhängigkeit von Arbeitern auf einer Baustelle zu analysieren. Bei den Filmen aus dem Alltagsleben wird trotz unterschiedlicher Handschriften in den 70er und 80er Jahren sichtbar, daß es zumindest, was die künstlerische Haltung anbetrifft, zwischen Klaus Wildenhahn oder Peter Nestler im Westen und Jürgen Böttcher, Volker Koepp, Winfried Junge, Karlheinz Mund oder Helke Misselwitz im Osten mehr Verbindendes als Trennendes gab: In Ost und West dienten seit den 60er Jahren cinéma vérité und cinema direct als Vorbilder, wenn auch die Bildaufnahmen in der DDR wegen der unbeweglichen 35mm-Kameras langsamer und statischer waren. Auf beiden Seiten beschäftigten sich die Regisseure in Porträtfilmen und Langzeitbeobachtungen mit Personen, die ihnen wichtig waren, wobei ein stummes Abbilden der Realität in der DDR bereits konterrevolutionär wirken konnte, die Themenpalette in der Bundesrepublik wiederum größer war und infolge der Frauenbewegung bis ins Private hineinreichte.
An Hand des Umgangs mit der Veröffentlichung intimer Dinge läßt sich auch der wesentliche Unterschied zwischen den Frauenfilmen in Ost- und Westdeutschland benennen: Wo die filmische Entdeckung des Privaten und Persönlichen für viele westdeutsche Filmemacherinnen im Zuge feministischer Revolte an Bedeutung gewann, was Helga Reidemeister exemplarisch mit „Von wegen Schicksal“ (1979) bis an die Schmerzensgrenze vorexerziert, trennten die Regisseurinnen in der DDR Privatleben und Berufliches strikt. Helke Misselwitz’ „Tangotraum“ (1985), auch ein sublimes Zeugnis des Protestes gegen Enge und Provinzialität in der von multikulturellen Einflüssen abgeschotteten DDR, lieferte da schon ein extremes Beispiel für Selbstinszenierung, in der die Regisseurin ihre Beziehung zu dem lateinamerikanischen Tanz als ein Moment der Anarchie imaginierte. Auf der anderen Seite zeichneten sich die Frauenbilder im Dokumentarfilm der DEFA durch eine Poetisierung werktätiger Frauen aus, für die Jürgen Böttchers Porträts wie das einer Ostberliner Trümmerfrau in „Martha“ (1978) stillbildend waren. Ob die Rekonstruktion der Lebensgeschichte einer Rentnerin, die sich das Leben nahm, in Eberhard Fechners „Nachrede auf Klara Heydebreck“ (1969) oder das Porträt einer Bergarbeiterfrau, die unter schwersten Bedingungen durch das Leben ging, in Erika Runges „Warum ist Frau B. glücklich?“ (1968) – die Betonung materieller Lebensgrundlagen und der analytische Zugriff auf das Thema gehörten dagegen zu den Charakteristika westdeutscher Frauendarstellungen.
Da zur Zeit Geschichte en vogue ist, werkelt man auch in den Fernsehanstalten an Dokumentationsreihen zur Jahrtausendwende: 52 Folgen à 30 Minuten deutsche Geschichte in diesem Jahrhundert will der Südwestdeutsche Rundfunk ab März 1999 wöchentlich zur besten Sendezeit präsentieren. Ein Teil dieser Serie zum Thema Mauer und innerdeutsche Grenze stellte der verantwortliche Redakteur in Berlin vor: Thematisch und sozialgeschichtlich orientiert, soll die Sendereihe vor allem das Alltagsbewußtsein der Deutschen in West und Ost untersuchen, deren Sozialisation in unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen verlaufen ist. Zu sehen waren aber beliebige Archivaufnahmen, mit denen die Geschichte der DDR nach abgegriffenen Mustern auf Bilder vom 17. Juni, von Flüchtlingen und düsteren Weihnachtsmärkten verkürzt wurde. Entgegen ihrer Absicht, mit „Hundert Deutsche Jahre“ dazu beitragen zu wollen, die Entfremdung zwischen hüben und drüben abzubauen, folgten die Autoren der Mauerschau-Folge dem Leitsatz der Tagung von der „Spaltung der Bilder“, zeigten sie doch in der Neuauflage alter Ost-West-Klischees die Bürger der DDR schlichtweg negativ oder als Opfer des Systems. Zum Schluß mußten sie sich sogar die Frage gefallen lassen, warum für die ostdeutsche Problematik kein einziger DEFA-Autor oder -Regisseur angeheuert wurde, damit durch Innensicht der Dinge auch eine andere Sehweise entstünde. Damit wurde auch die These des langjährigen Leiters des ARD-Politmagazins „Kontraste“, Jürgen Englert, in Frage gestellt, wonach die „verordnete Spaltung der Bilder“ mit dem Tag des Mauerfalls beendet gewesen sei, so daß man jetzt den Versuch unternehmen könne, sich ein Bild vom gesamten Deutschland zu machen. Ein frommer Wunsch angesichts der in den Medien vorherrschenden Westsicht, was die SDR-Reihe so deutlich unter Beweis stellte, daß sogar die provokante Frage nach der „Kolonialisierung“ der Bilder aufkam, die für viele Ostdeutsche an die Stelle der „Spaltung“ getreten sei.
Margarete Wach (filmdienst 23/1998)