Zehn Jahre danach.
Wie hat sich das deutsche Kino seit 1989 verändert?
von Volker Baer
Als Heiner Carow nach der Uraufführung seines Films „Coming out“ mit seinen Kollegen in einem Ost-Berliner Lokal zur Premierenfeier zusammensaß, erreichte ihn ein Anruf, der ihn ebenso hilf- wie sprachlos machte. Sein Sohn war am Telefon und erzählte ihm, er rufe von West-Berlin aus an. Was Heiner Carow zunächst für einen dummen Scherz hielt, war die Wahrheit. Es war die Nacht vom 9. November 1989, in der die Mauer gefallen war, die Grenze zwischen beiden Teilen Deutschlands geöffnet wurde. Ob die Premierengäste der DEFA ahnten, was auf sie zukommen würde?
Hunderttausende überschritten in den folgenden Tagen die verhasste Grenze zwischen Ost und West und nahmen alles in sich auf, was sie nur sehen konnten – mit Ausnahme des Kinos. Die West-Berliner Lichtspielhäuser jedenfalls blieben in diesen aufregenden Tagen weithin leer: Die Wirklichkeit ringsum war wesentlich interessanter als alle Geschichten, die man im Kino hätte sehen können. Dabei bestand eigentlich – nebenbei bemerkt: auf beiden Seiten der deutschen Trennungslinie – ein großer Nachholbedarf an Kenntnis der Filmproduktion der jeweils anderen Seite. Wie in westdeutschen Kinos kaum DEFA-Produktionen gezeigt wurden, so standen westdeutsche Film nur selten auf den Spielplänen ostdeutscher Lichtspielhäuser, was finanzielle und ideologische Gründe hatte. Nahezu die ganze jüngere westdeutsche Produktion war den Kinogängern im Osten unbekannt. Doch die große Neugier blieb aus. Man zeigte im Osten kein Interesse an den Arbeiten der westlichen Filmemacher von Achternbusch bis Thome, und kein Kluge, kein Herzog fand Aufmerksamkeit; und im Westen bleiben Namen wie Carow und Zschoche weiterhin nahezu unbekannt. Man ging zum Alltag über und sah sich jeweils das neue, weithin vom amerikanischen Film geprägte Angebot an. So glichen sich schon nach kurzer Zeit die Spielpläne in Ost und West fast völlig.
Der DEFA–Film–eine Legende?
Verändert hat sich in den neuen Bundesländern vornehmlich die Kinosituation. Nach anfänglichen Schließungen wurden alsbald viele neue Häuser eröffnet und manche alte grundlegend renoviert. Auch hier bestand dringender Nachholbedarf. Mittlerweile hat die Kinodichte im östlichen Deutschland fast die des westlichen erreicht. Vergleicht man die Entwicklung von 1991 (als dem ersten gemeinsamen Jahr beider vordem getrennter Gebiete), so hat sich die Zahl der Leinwände im Westen nur um knapp 12 Prozent (auf 3.646 Ende Juni 1999) erhöht, im Osten hingegen um rund 96 Prozent (auf 812 Leinwände). Bei der Besucherzahl erfolgte zunächst ein Einbruch, doch dann war überall ein Anstieg zu notieren; in den alten Ländern allerdings – von 1991 zu 1998 – nur um 14 Prozent, in den neuen hingegen um 113 Prozent. Die Zahl der Spielstätten wie auch der Besucher entspricht nun in Ost und West prozentual nahezu dem jeweiligen Bevölkerungsangstteil. Große Konzerne aus dem Westen und auch einige kleinere Firmen haben Lichtspielhäuser in den neuen Ländern erworben, renoviert oder neue gebaut. Hier ist eine deutliche Veränderung zu beobachten. Anders sieht es bei den Atelierbetrieben aus: Die große zentrale Spielfilmproduktionsstätte der DEFA in Babelsberg wurde zwar notwendigerweise renoviert, doch die Neubauten dienen überwiegend der elektronischen Unterhaltung – der Spielfilm ist nur selten zu Gast in den alten Ateliers. Das einstige zentral aufgebaute System von Produktion, Vertrieb und Abspiel ist mit dem Ende der DDR zerbrochen.
Im westlichen Deutschland ging hingegen alles seinen bisherigen Weg. Einzig der Progress Verleih konnte weiter bestehen, wenn auch unter einem neuen Eigentümer; somit stehen die früheren DEFA-Filme auch in Zukunft kommerzieller Nutzung zur Verfügung, wovon vornehmlich das Fernsehen, hier vor allem der ORB und der mdr, Gebrauch machen. Daneben stehen die Videoauswertung sowie die Nutzung durch Institutionen wie dem Goethe-Institut und InterNationes. Betreut wird der DEFA-Nachlass von der Anfang 1999 gegründeten DEFA-Stiftung. Ungeachtet solcher Bemühungen scheint der DEFA-Film im Westen noch immer weithin unbekannt – in den neuen Ländern hingegen scheint er zur Legende zu werden. Und wer spricht noch von den „Klassikern“ des einstmals jungen deutschen Films? Das Potsdamer Filmmuseum und einige Kunstkinos nehmen sich gelegentlich seiner an. Immerhin hat man sich um die Rettung der ostdeutschen Filmgeschichte bemüht. Die wichtigsten Zeugnisse der DEFA-Historie lagern seit längerem in den Regalen des Bundesarchivs-Filmarchiv. Vieles kam auch dem Potsdamer Filmmuseum zugute, einiges, etwa der Nachlass von Konrad Wolf, liegt im Archiv der Berlin-brandenburgischen Akademie der Künste. So sind zumindest anfängliche Befürchtungen der DEFA-Filmemacher widerlegt, ihre Inszenierungen könnten verloren gehen oder in Vergessenheit geraten. Manche Filmemacher hatten die etwas abenteuerliche Vorstellung, ein Film oder zumindest dessen Kopie sei nach Ende der DDR ihr persönliches Eigentum. Nun wurde alles in zuverlässige Obhut genommen. Filmhistoriker können mit dem Material arbeiten, ein interessiertes Publikum könnte jederzeit einen der über 700 DEFA-Spielfilme oder einen der zahlreichen Kurzfilme sehen. Die Chancen einer historischen Auseinandersetzung sind so in allen Teilen des Landes gleich.
Existenzielle Wende
Um dem DEFA-Film in den letzten Tagen der DDR sowie den ersten Jahren der neuen Bundesrepublik Deutschland eine Chance zu geben, haben das Bundesministerium des Innern und die Filmförderungsanstalt (FFA) zwischen 1990 und 1993 mehr als 107 Mio. DM bereitgestellt. Die Mittel dienten u.a. der Fertigstellung bereits in der DDR begonnener Projekte sowie Arbeiten der DEFA-Studios, der Unterstützung von Festivals (etwa in Leipzig und Gera), der Hilfe für filmkulturelle Einrichtungen und der Übernahme des ehemaligen Staatlichen Filmarchivs der DDR durch das Bundesarchiv. Durch die Filmförderung entstand noch eine Reihe von Filmen, denen jedoch der Publikumserfolg und oft auch die kritische Anerkennung versagt blieben. Auch später erhielten die Filme Auszeichnungen, Prämien und Förderzusagen. Während jedoch die Filmemacher in der alten Bundesrepublik kaum etwas spürten von der Wiedervereinigung (und thematisch von ihr auch kaum Notiz nahmen), standen die Filmschaffenden der DEFA vor einer existenziellen Wende. Viele fanden keinen Zugang mehr zu ihrem bisherigen Metier, Namen verschwanden plötzlich aus der Filmgeschichte. Museen, Theater, Orchester blieben weiterhin in staatlicher oder kommunaler Obhut, der Film hingegen war plötzlich auf den freien Markt angewiesen, und mit dem hatte keiner der bislang allseitig abgesicherten DEFA-Filmemacher Erfahrung. Regisseure und Autoren hatten keinen Kontakt zum Weltmarkt, hatten zudem kaum Vergleichsmöglichkeiten. Sie mussten sich mit einem Mal um alles selbst kümmern, eigene Wege gehen, eigene Risiken eingehen. Sie wurden zu Einzelgängern. So gab es bei kaum einem Regisseur eine Kontinuität des Werks nach 1989. Am ehesten noch lässt sich bei Dokumentarfilmern eine Fortsetzung erkennen, etwa bei Barbara und Winfried Junge, die ihre Beobachtungen in Golzow weiterführten, oder bei Volker Koepp, der seinem Thema in Wittstock treu blieb und mit „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ Aufmerksamkeit fand. Andere arbeiteten vornehmlich fürs Fernsehen.
Schwerer hatten es die Spielfilmregisseure, was nicht zuletzt an der Altersstruktur liegt: Viele der namhaften Regisseure waren in den Jahren der Wende um die 60. Jahrelang hatten sie das Bild der DEFA geprägt, nun waren sie in einem Alter, das ihnen eine Umstellung schwer machte, ob dies nun Roland Gräf, Ralf Kirsten, Roland Oehme, Günter Reisch, Lothar Warnecke oder Herrmann Zschoche waren. Jene, die zuvor schon im Westen gearbeitet hatten, etwa Frank Beyer und Egon Günther, hatten es da leichter. Es rächte sich nach der Wende aber auch, dass die DEFA mit ihrem Nachwuchs wenig pfleglich umgegangen war: Oft hatte man ihn erst spät an die erste Regiearbeit herangelassen, was für Dietmar Hochmuth, Herwig Kipping oder Peter Kahane gelten kann. Auch ihnen glückte der Sprung nach 1989 nur mit Schwierigkeiten. Nur den ganz Jungen, die am Anfang ihres Wirkens standen, fiel offensichtlich der Übergang leicht(er), man denke an Andreas Kleinert, Lutz Dammbeck und Andreas Dresen. Nun kommen bereits die Filmstudenten von Babelsberg, dessen Hochschule weiterhin Bestand hat, und geben ihr Debüt, eine Generation, die nach 1989 ihr Studium absolviert hat; andere wie der Theaterregisseur Leander Haußmann („Sonnenallee“) gehören ebenso zu den Debütanten. Wieder andere, etwa der erfahrene Autor Wolfgang Kohlhaase, erlebten mit ihrem späten Erstlingswerk („Inge, April und Mai“) eine Niederlage. Misserfolg musste sich auch ein versierter Mann wie Michael Gwisdek mit seinem Regieversuch „Das Mambospiel“ eingestehen. Als Schauspieler freilich überzeugte er, zuletzt in Dresens „Nachtgestalten“ auf komödiantisch-gelöste Weise. Manche seiner Kollegen haben sich vom Film zurückgezogen und sich ganz dem Theater gewidmet, andere – wie Corinna Harfouch – können über Mangel an Aufgaben und Erfolg nicht klagen. Was aber wurde aus all den anderen (auch – nebenbei gefragt – aus den Stasi-Mitarbeitern der DEFA)?
Zu allen Schwierigkeiten, das Bild der DEFA fortzuführen, kommen noch zwei grundlegende Belastungen: Zum einen waren der ostdeutschen Filmgesellschaft durch die Kulturpolitik der DDR schon in früheren Jahren namhafte Interpreten, Autoren und Regisseure in Richtung Westen entschwunden, zum anderen erwies sich der Stil der DEFA sowohl in der Erzählweise als auch der optischen Struktur als allzu traditionsgebunden. Experimente waren nicht beliebt. Auch dies rächte sich nach 1989. Man muss all diese Ausgangsbedingungen kennen, um die spätere Entwicklung und die heutige Situation beurteilen zu können. Die DEFA ist ein abgeschlossenes Kapitel deutscher Filmgeschichte, das westdeutsche Kino hingegen zeigte sich in der Wahl seiner Themen wie in der Öffnung für ehemalige DEFA-Mitarbeiter kaum beeindruckt von 1989. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Nur die Jungen hatten und haben eine Chance. Bei ihnen spielen denn auch die Grenzen von ehedem keine Rolle mehr. 1989 – 1999: Was hat sich verändert? Der westeuropäisch-amerikanische Markt hat sein Terrain noch mehr vergrößert, der osteuropäisch-russische – und damit auch der der ehemaligen DDR – ist weithin zusammengebrochen, sei es aus eigener Schwäche, sei es auch aus Überdruss an der jeweils nur heimischen Filmproduktion.
Volker Baer (filmdienst 23/1999)