Filmstill zu "Lotte in Weimar"

Zwischen Leben und Tod.

Der Regisseur Joachim Kunert

von Ralf Schenk

Mit 17 schaute er Wolfgang Staudte bei den Aufnahmen zu „Die Mörder sind unter uns“ (1946) über die Schulter und fragte ihn, wie man zum Film kommt. Staudte schickte ihn zum Personalchef der DEFA, der ihm bald darauf den ersten Vertrag vermittelte: als Regieassistent bei Kurt Maetzigs „Ehe im Schatten“ (1947), für 50 Mark im Monat. So lernte Joachim Kunert das Handwerk von der Pike auf, hospitierte nebenher beim DEFA-Nachwuchsstudio und an der Humboldt-Universität, nahm zeitweilig auch Assistenzen am Deutschen Theater an, wo Rudolf Noelte mit „Pygmalion“ und Wolfgang Langhoff mit „Egmont“ und „Don Carlos“ beschäftigt waren. Der dabei gewonnene Schatz an Erfahrungen hat ihn und seinen Inszenierungsstil geprägt: die Unterordnung des Stils unter die Erfordernisse des Stoffes; die Suche nach einer höchstmöglichen Kongruenz von Inhalt und Form; die enge Liaison mit den Schauspielern, mit denen er gemeinsam szenische Lösungen erarbeitete; die exakte Vorbereitung auf jeden Drehtag. Schon mit seinem Spielfilmdebüt „Besondere Kennzeichen: keine“ (1956), einer Frauengeschichte aus der Nachkriegszeit, trat Kunert in den Kreis jener DEFA-Regisseure ein, die aus dem Gros des Mittelmaßes herausragten.

Realistische Sicht

In seinen Filmen, die zwischen 1956 und 1970 entstanden, interessierte ihn nie das kleine Missverständnis, das dramaturgische Nichts, das sonst oft genug zum Kern einer Handlung aufgebläht wurde. Stattdessen rangen seine Helden um die pure Existenz: Sie hatten zwischen Leben und Tod, Wahrheit und Lüge, Liebe und Hass zu bestehen - oder gingen zugrunde. So wie in „Die Abenteuer des Werner Holt“ (1965), der nach einem viel gelesenen Roman von Dieter Noll gedreht wurde und in der DDR binnen weniger Monate vier Mio. Zuschauer erreichte. Der Film beschrieb, ähnlich wie Wickis „Die Brücke“, die Tragödie einer Generation. Holt, ein Bürgerssohn, verfällt den faschistischen Verführern. Es drängt ihn geradezu, in den Krieg zu ziehen, um zu beweisen, dass ihm Begriffe wie Ehre, Treue und Vaterland heilig sind. Kunert zeigte den Missbrauch einer Jugend und deren Verfilzung in die faschistischen Verbrechen, wobei die Titelfigur einem schmerzhaften Erkenntnisprozess unterworfen ist. Am Ende lehnt sich Holt gegen seinen vermeintlich besten Freund und Kameraden auf, als dieser sich als brutaler Henker erweist. „Die Abenteuer des Werner Holt“ erklärte nicht die Ursachen des Nationalsozialismus, sondern beschrieb dessen Auswirkungen auf die Psyche und den Verstand junger Menschen. Der Film durchstieß den DEFA-Kanon, indem er anstelle eines proletarischen einen bürgerlichen Helden porträtierte und auf dessen vordergründige Läuterung in Richtung Kommunismus verzichtete. Diese realistische Sicht auf die Dinge durchzusetzen, bedurfte damals Mut und Standfestigkeit.

Zu den einprägsamen Bildern gehört jene Szene, in der Holt nach einer Panzerschlacht verloren im Wald hockt; die Bäume sind verbrannt, auf dem Gesicht des Jungen spiegelt sich Entsetzen. Die zerstörte Landschaft wird zum Spiegel der Seele, wie in Tarkowskijs „Iwans Kindheit“. Überhaupt scheint die Optik (Kamera: Rolf Sohre) sehr stark von der Expressivität russischer Tauwetter-Filme beeinflusst worden zu sein: „Werner Holt“ bedeutete nicht zuletzt eine Besinnung auf Film als Bildkunst. Geradezu experimentell mutet in dieser Hinsicht ein anderes, heute vergessenes Werk von Kunert und Sohre an: „Das zweite Gleis“ (1962). Eine Parabel über Schuld und Sühne: Ein Mann wird durch die Begegnung mit einem ehemaligen Bekannten an den dunkelsten Punkt seiner Biografie erinnert, den Verrat an einem geflohenen KZ-Häftling und den damit verbundenen Tod seiner eigenen Frau. Er versucht, den Erinnerungen zu entfliehen, ergeht sich in Schweigen, aber der Mitwisser erpresst ihn. Die Vergangenheit hat die Gegenwart eingeholt. Die von Kunert entworfene Geschichte spielt zu weiten Teilen auf einem Güterbahnhof. Das ergab die Möglichkeit für wirkungsvolle Motive: Das Geflecht der Gleise und der Drähte elektrischer Oberleitungen etwa symbolisiert Verstrickung und Verwirrung, und immer wieder werden Treppen, Gitter und Netze gezeigt, begleitet von einer Harfenmelodie, die das Geheimnisvolle der Handlung unterstreicht und dem Konflikt zugleich eine klassische Dimension verleiht. Die schwarz-weißen Bilder, die Wechselspiele von Licht und Schatten, markierten den Zugang zum Zwischenreich des Verdrängten, wobei der Film für eine schonungslose Offenheit plädierte.

Kompromisslos

Auch andere Arbeiten Kunerts lohnten die Wiederentdeckung: die Kriminalfilme „Tatort Berlin“ (1958) und „Seilergasse 8“ (1960) oder die stimmungsvolle naturalistische Studie eines Steinbrucharbeiters und Trinkers, „Der Lotterieschwede“ (1958), nach dem Roman von Martin Andersen Nexö. Nach dem Erfolg dieses Werks wollte Kunert auch andere Nexö-Texte adaptieren, darunter „Pelle der Eroberer“, gegen den es bei der DEFA politische Vorbehalte gab: Pelle war Sozialdemokrat. Seinen letzten großen Kinofilm drehte der Regisseur 1967/68: „Die Toten bleiben jung“ nach Anna Seghers, ein Familienepos und eine deutsche Chronik der Jahre zwischen 1918 und 1945. Der Versuch, gemeinsam mit Franz Führmann einen Stoff über die Geschwister Scholl zu realisieren, scheiterte daran, dass die Direktion keine „bürgerlichen Helden“ wollte - es sei denn, Kunert hätte zugestimmt, eine kommunistische Nebenfigur groß auszubauen. Dazu war er nicht bereit, ebenso wie er sich nicht überzeugen ließ, das historisch-biografische Opus „Trotz alledem“ über Karl Liebknecht, gleichsam eine Haupt- und Staatsaktion des Studios, zu fertigen. 1970 verließ er Babelsberg auf eigenen Wunsch und arbeitete fortan fürs DDR-Fernsehen, für das er mit „Die große Reise der Agathe Schweigert“ (1972) oder „Das Schilfrohr“ (1975) gediegene Literaturadaptionen ablieferte. Am 24. September wurde Joachim Kunert 70 Jahre alt.

Ralf Schenk (filmdienst 23/1999)

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