Der Kanon wird erweitert.
DEFA im Museum of Modern Art
von Ralf Schenk
Rund 300 DEFA-Filme hatten sich die beiden Kuratorinnen Jytte Jensen vom Museum of Modern Art und Juliane Wanckel vom Goethe-Institut New York angesehen, bevor sie ihre Auswahl für eine Werkschau des DDR-Kinos trafen. Dem anspruchsvollen Publikum des Museums sollten Arbeiten gezeigt werden, die eine Korrespondenz des ostdeutschen Films mit internationalen Strömungen belegen: das DEFA-Kino nicht als „Magd der Politik“, sondern als Spiegel künstlerischer Ideen, Tendenzen und Traditionen. Auf ihrer Suche nach solchen „besonderen“ Filmen entdeckten die Kuratorinnen neben bekannten Arbeiten wie Frank Beyers „Spur der Steine“ (1966), Egon Günthers „Der Dritte“ (1971) und Heiner Carows „Die Legende von Pau Der Kanon wird erweitert. DEFA im Museum of Modern Art l und Paula“ (1973) auch eine Reihe von Produktionen, die selbst in Deutschland nur Fachleuten geläufig sind. Als Überraschung erwies sich zum Beispiel ein Gegenwartsfilm wie „Das Fahrrad“ (1982) von Evelyn Schmidt, der herb und ungeschminkt ostdeutsche Lebensrealität beschreibt und ein Frauenbild jenseits offizieller Beschwörungen von Gleichberechtigung entwirft.
So wie sich dieser Film mit dem polnischen „Kino der moralischen Unruhe“ messen lassen kann, konstatierten amerikanische Fachbesucher auch Gemeinsamkeiten von Gerhard Kleins „Berlin – Ecke Schönhauser...“ (1957) mit dem italienischen Neorealismus oder von Joachim Kunerts „Das zweite Gleis“ (1962) mit dem expressionistisch beeinflussten Kino der Tauwetter-Ära. Kunerts schon in der DDR völlig vergessene Arbeit (Buch: Günter Kunert) erwies sich zudem als singuläres Beispiel für einen Plot, in dem die Mitschuld an Verbrechen des Dritten Reiches nicht an Figuren aus Westdeutschland delegiert, sondern an einem DDR-Bürger exemplifiziert wurde: Der Held, ein Eisenbahner, der während des Krieges einen entflohenen Juden verriet und damit auch seine eigene Frau ins Gefängnis brachte, trug seine Skrupel und Zweifel in die „neue“ Gesellschaft, ohne sich zu offenbaren.
Rund 4000 Zuschauer wollten die 23 vom Museum of Modern Art ausgewählten Filme sehen. Als Diskussionspartner standen unter anderem die Schauspielerin Jutta Hoffmann, die Regisseure Frank Beyer, Peter Kahane, Evelyn Schmidt, Helke Misselwitz und Jürgen Böttcher sowie der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase zur Verfügung. Die DEFA-Stiftung in Berlin, die DEFA-Film-Library an der Universität Amherst/Massachusetts, das Forschungszentrum für DEFA-Film in den USA und der Progress Film-Verleih halfen bei den Vorbereitungen; die Max-Kade-Stiftung für deutsch-amerikanischen Kulturaustausch sponserte die Herstellung komplett neuer Kopien und englischer Untertitel. Als spannend erwies sich während der dreiwöchigen Veranstaltung auch eine Diskussionsrunde zum Thema „Lost in Unification? – Placing East German Film in World Cinema“. Mit Spielfilmen wie „Jahrgang 45“ (1966) von Jürgen Böttcher oder Dokumentarfilmen wie Helke Misselwitz’ Studie über Berliner Kohlenträger, „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“ (1989), seien, so hieß es, herausragende Beispiele für künstlerisches Kino gezeigt worden. Diese und andere Produktionen gehörten ohne Zweifel in den (gesamt-)deutschen Filmkanon. Wer zu bequem sei, die artifiziellen Qualitäten zu erkennen oder generelle Vorurteile gegenüber der DEFA habe, sei nicht auf der Höhe der Zeit. Mit einer solchen Bemerkung wurde unter anderem auf die Tatsache angespielt, dass die Kuratoren der vorletzten deutschen Filmreihe im MoMA, einer Schau zu den Jahren 1946 bis 1962, außer „Die Mörder sind unter uns“ keinen einzigen DEFA-Film für würdig befunden hatten, in New York gezeigt zu werden.
Mit der jetzigen Retrospektive wurde freilich auch der noch aus DDR-Zeiten überlieferte ostdeutsche Kanon erweitert: Eine Arbeit wie Ulrich Weiß’ „Dein unbekannter Bruder“ (1981) hätte bis zum Ende der DDR kaum die Chance gehabt, in eine solche Auswahl zu gelangen: Die in diesem Film vorgeführte Sicht auf den antifaschistischen Widerstand, die Gleichnishaftigkeit des Themas Verrat, Bespitzelung und Angst war der politischen Obrigkeit suspekt. Diesen Film, aber auch Frank Beyers von ideologischen Scheuklappen freie Nachkriegskomödie „Karbid und Sauerampfer“ (1963) oder Gerhard Kleins „Der Fall Gleiwitz“ (1961) ausgewählt zu haben, ist ein Verdienst, der über die Veranstaltung in New York hinausgeht. Er signalisiert eine neue Sicht auf die deutsche Filmgeschichte, setzt Zeichen für die Zukunft filmhistorischer Forschung, die nicht mehr Ost und West getrennt, sondern vergleichend und im Zusammenhang mit internationalen Entwicklungen betrachten sollte.
Während die „MoMA-Collection“ inzwischen durch mehrere Städte der USA und Deutschlands tourt, denkt das Museum of Modern Art bereits über eine Fortsetzung der Retrospektive nach. Für das New Yorker Publikum, so meinen die Kuratorinnen, sei es interessant, nun auch eine Reihe von Propagandafilmen zu sehen. Aber auch eine Schau mit Genrefilmen – Komödien, Musicals und Western – könne man sich gut vorstellen.
Ralf Schenk (filmdienst 25/2005)
Hinweis
Nachspielorte der „MoMA-Collection“ sind u.a. die Kinos Blow up und Urania in Berlin, die Schauburg Dresden, das Filmmuseum Frankfurt, das Lux-Kino Halle, das Abaton Hamburg, die Schauburg Karlsruhe, das Filmmuseum München, das Filmhaus Nürnberg. Die „MoMA-Collection“ wird bei Icestorm demnächst auch als DVD-Box erscheinen.