Filmstill zu "Lotte in Weimar"

Alltag, Aufbruch, Abschied.

Ostdeutsche Dokumentarfilme

von Ralf Schenk

Über zehn Jahre nach dem Ende der DEFA wagt sich der Pay-TV-Dokumentationskanal Planet, ein deutscher Spross des französischen Unternehmens MultiThématiques, an die bisher größte Retrospektive ostdeutscher Dokumentarfilme, die es im Fernsehen jemals gab: „Alltag, Aufbruch, Abschied“. Aus einem Gesamtvolumen von rund 5.200 Dokumentationen, populärwissenschaftlichen Arbeiten und Wochenschauen, die zwischen 1946 und 1990 entstanden, wurden rund 70 Produktionen ausgewählt und zu verschiedenen Kapiteln gebündelt: „Ferne Freunde“ und „Unruhevolle Jugend“, „Landschaften“ und „Scheiden tut weh“, Kinder-, Frauen-, Feindbilder. Damit erinnert die Retrospektive an die Lebenswirklichkeit in einem Staat, der von Dabeigewesenen wie von Außenstehenden zunehmend pauschal und undifferenziert gewertet wird. Die DDR geistert als eine Art Zombie, als Halbtote durch die Gegenwart: Für die einen ist sie das Schreckgespenst par excellence, von Anfang an verdorben und verrucht, während die anderen sie zur verloren gegangenen Hoffnung verklären. Hass wie Nostalgie trüben den Blick auf damalige Zustände und Befindlichkeiten. Vielleicht gestatten die Filme der Auswahl nun eine klarere Sicht – wenngleich die DEFA-Dokumentaristen bekanntermaßen nicht alle Facetten der DDR spiegeln durften und wollten. Auch über Tabus und Selbstzensur gibt das überlieferte Material Aufschluss.

Aufmerksamkeit, Neugier, Toleranz

Die Retrospektive folgt, wenn man so will, einer Anregung von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der schon vor Jahren dazu aufrief, sich gegenseitig die Biografien zu erzählen. Eine Aufforderung, die innere Einheit Deutschlands durch Aufmerksamkeit für das Leben des jeweils „anderen“, Neugier und Toleranz voran zu bringen. Leider ließ sich Planet die Chance entgehen, auch ein Teil jener DEFA-Filme auszuwählen, die der heutige SPD-Politiker einst als Autor mitgestaltet hat. Nur zur Erinnerung, und vielleicht, um irgendwann ein entsprechendes „P.S.“ unter die Reihe zu setzen: Thierse arbeitete mit wichtigen Regisseuren wie Richard Cohn-Vossen und Karlheinz Mund; zu seinen schönsten Arbeiten gehören das Porträt „W.M.L. – Steiger oder Maler“ (1976) über einen alten Bergmann, dessen Hobby großformatige Ölbilder sind, oder „Abgeordnete in Rostock“ (1974), eine melancholisch-kritische Lehrstunde in Sachen „sozialistischer Demokratie“, deren Vertreter sich im Kleinkram verzetteln.

Die Retrospektive, die aus rund 20 abendfüllenden, zwölf mittellangen und 35 kürzeren Dokumentarfilmen besteht, setzt ihren Schwerpunkt in den 80er-Jahren. Trotz staatlicher Bevormundung, die nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns teilweise groteske Züge annahm, gelang es einigen Dokumentaristen, gerade im letzten Jahrzehnt der DDR die erregendsten Filme zu produzieren, die das Studio überhaupt hervorbrachte. Im Widerspruch zu offiziellen Wünschen hatte sich ihre Sicht auf die Wirklichkeit extrem verdunkelt. Zum Jubeln wollte sich kaum noch jemand einspannen lassen – bis auf die wenigen nach wie vor „Überzeugten“, deren Propaganda-Produktionen zwar von anderen Kollegen naserümpfend zur Kenntnis genommen wurden, ihnen aber auch Freiräume verschafften: Hinter dem Rücken eines Mannes wie des langjährigen SED-Parteisekretärs Rolf Schnabel und mit dessen Duldung, mitunter sogar Hilfe, vermochte beispielsweise Jürgen Böttcher seine politisch und ästhetisch so ganz anderen Filme zu realisieren. Es bleibt zu hoffen, dass solche Zusammenhänge in den kurzen Einführungen zu den jeweiligen Programmblöcken eine Rolle spielen werden: Planet hat jedenfalls Regisseure und Kameraleute gebeten, sich an ihre DEFA-Zeit zu erinnern.

Der Geist von Glasnost und Perestroika

Zu den ausgewählten „dunklen“ Filmen der 80er-Jahre gehören u.a. Böttchers kommentarloser Film „Rangierer“ (1984), Hans Wintgens „Geschieden“ (1987), Volker Koepps „Leben in Wittstock“ (1984) oder Lew Hohmanns „Aschermittwoch“ (1989), das Porträt einer allein erziehenden Verkäuferin, die sich für Politik nicht interessiert. Gegen viele Widerstände war es Kurt Tetzlaff gelungen, seine Langzeitstudie „Erinnerung an eine Landschaft – für Manuela“ (1983) ins Kino zu bringen: Zum ersten Mal, mit unübersehbarer Nachdenklichkeit und Trauer, reflektierte ein DEFA-Film die Umsiedlung eines mitteldeutschen Dorfs, das einem Braunkohlentagebau weichen muss: zweifelhafter industrieller Fortschritt gegen Natur und Tradition. In „Schmerzen der Lausitz“ (1990) und „Wer hat dich, du schöner Wald“ (1988) wiesen Peter Rocha und Günther Lippmann auf Umweltsünden hin, wobei von Lippmanns Film nach diversen Einsprüchen und Verzögerungen nur noch ein Torso übrigblieb. Jochen Kraußer näherte sich dem Zustand des Landes dagegen auf grotesk-verspielte Weise: „Leuchtkraft der Ziege – eine Naturerscheinung“ (1988) war der erste surrealistische Beitrag aus dem DEFA-Dokumentarfilmstudio. „...und freitags in die Grüne Hölle“ (1989, Regie: Ernst Cantzler) porträtierte Fußballfans und -rowdys in Ost-Berlin, „Unsere Kinder“ (1989, Regie: Roland Steiner) holte Punks, Grufties und junge Neonazis vor die Kamera und beging damit einen gezielten Tabubruch.

Diese Filme, vor allem aber Helke Misselwitz’ legendäres Frauenporträt „Winter ade“ (1987), atmeten den Geist von Glasnost und Perestroika – ein Geist, der in Arbeiten der unmittelbaren Wendezeit vollends zum Tragen kam. Hinter gleichnishaften Titeln wie „Leipzig im Herbst“ (1989, Regie: Andreas Voigt, Gerd Kroske), „Ich sehe hier noch nicht die Sonne“ (1990, Regie: Heinz Brinkmann) oder „Ich war ein glücklicher Mensch“ (1990, Regie: Eduard Schreiber) verbargen sich Beschreibungen von zornigen Aufbrüchen und vom Bewusstwerden lebenslanger Irrtümer. Petra Tschörtner konfrontierte in „Unseren alten Tage“ (1990) die offiziellen Phrasen von der Geborgenheit greiser Menschen im Sozialismus mit dem tatsächlichen Alltag in Alters- und Pflegeheimen. Thomas Heise verdichtete triste Bilder aus einem „Imbiss spezial“ (1990) am Berliner Bahnhof Lichtenberg zu einer Metapher für die Agonie der DDR. Mit solchen Filmen hatten sich die ostdeutschen Dokumentaristen – kurz vor ihrer eigenen „Abwicklung“ – selbst aus den Fesseln des heute oft so genannten Propagandainstituts DEFA befreit.

Entdeckungen

Natürlich greift die Reihe auch auf einige bekannte Titel der 60er- und 70er-Jahre zurück: Eine Retrospektive ohne Karl Gass’ realistische Studie „Feierabend“ (1964) über Arbeiter, die in ihrer Freizeit lieber saufen als sich weiterbilden, Winfried Junges dritten und wohl besten Golzow-Kurzfilm „Elf Jahre alt“ (1965) oder Jürgen Böttchers Klassiker „Stars“ (1963), „Barfuß und ohne Hut“ (1965) und „Wäscherinnen“ (1972) ist schlechterdings auch kaum möglich. Aber Planet verlässt auch die Gleise des Vertrauten, wagt sich an seltener Gezeigtes, Vergessenes, Verdrängtes. So werden zwei wesentliche Werke von Richard Cohn-Vossen wieder entdeckt, der nach seiner Unterschrift gegen die Biermann-Ausbürgerung beruflich kalt gestellt wurde und die DDR verließ. In „Versuch über Schober“ (1972) plädierte er für eine subjektive, nach Wahrheit suchende Filmkunst: Seinem Helden, einem in Funk, Fernsehen und in der Presse gefeierten Parteifunktionär, begegnet er eher distanziert und ohne agitatorischen Pomp. Noch erregender geriet Cohn-Vossens „In Sachen H. und acht anderer“ (1972), Bilder von einem Gerichtsprozess gegen jugendliche Rowdys in Berlin, in denen die Hilflosigkeit von Eltern, Lehrern und Staat wie in keinem anderen damaligen DEFA-Film gespiegelt wurde. Cohn-Vossen verweigerte sich schnellen Antworten, ließ Probleme offen, ohne sie einer gefälligen Lösung zuzuführen; das machte ihn zu einem singulären, herausragenden Künstler. Bei späterer Gelegenheit sollte unbedingt auch sein Film „Paul Dessau“ (1967) nachgetragen werden: ein Porträt, das den Komponisten nicht nur bei Proben und als Gastlehrer im Schulunterricht zeigt, sondern auch darauf verweist, wie schön und notwendig „schwierige“ Kunst ist.

Andere Entdeckungen aus früheren DEFA-Jahren sind die abendfüllenden pathetischen Kulturfilme „Ludwig van Beethoven“ (1954) und „Friedrich Schiller“ (1955), beide von Max Jaap, der gemeinsam mit seinem Autor Stephan Hermlin eine direkte Linie von den Klassikern der deutschen Kultur zur Gegenwart in der DDR zog. Der tschechische Gastregisseur Jiri Jahn ist mit „Parlamentarier“ (1958) vertreten, einem auf Lithografien Honoré Daumiers basierenden Kurzfilm über den Aufstand Lyoner Seidenarbeiter und dessen blutige Niederschlagung. Obwohl die stilistisch bemerkenswerte Produktion damals in Frankreich ausgezeichnet wurde, durfte sie nach einem Einspruch des Bonner Interministeriellen Ausschusses nicht auf dem Mannheimer Festival gezeigt werden: eine von vielen unterbundenen und verpassten Gelegenheiten für westdeutsche Interessenten, einen Einblick in die DEFA-Produktion zu nehmen.

Erwünschte Nachträge

Trotz der vielfältigen Auswahl ist bedauerlich, dass einige Etappen und Regisseure der DEFA-Dokumentarfilmgeschichte nahezu ganz ausgeblendet sind. Die Retrospektive setzt erst 1954 ein; dabei wären vor allem aus der Frühzeit, der relativ freien Filmproduktion bis 1948, einige Entdeckungen zu machen gewesen. Ein wesentlicher antifaschistischer Film wie „Todeslager Sachsenhausen“ (1947, Regie: Richard Brandt) fehlt leider ebenso wie dokumentarische Arbeiten späterer Spielfilmmacher: Kurt Maetzigs „Berlin baut auf“ (1946), Richard Groschopps „Dresden“ (1946) oder Wolfgang Schleifs erst vor kurzem wieder gefundener „Glück auf“ (1948), der zeitgleich zu seinem ersten Spielfilm „Grube Morgenrot“ in den Stollen des sächsischen Steinkohlebergbaus entstand. Ebenso unbekannt wie diese veristische Studie blieb bisher auch ein kurzer Werbefilm von Peter Pewas, den er 1946 für die DEFA drehte: „Wohin, Johanna“: Eine junge Frau, deren Mann im Krieg gefallen ist, entscheidet sich hier für den Aufbau einer neuen Gesellschaft: „Nimm Partei. Wähle. Kämpf dich frei.“

In der Retrospektive unberücksichtigt bleiben Beispiele des staatstragenden „politischen Dokumentarfilms“ zwischen 1948 und 1953, als die SED die DEFA unbarmherzig an die Kandare nahm. Vor allem Andrew Thorndike, konvertierter Sohn aus großbürgerlichem Hause, feierte damals die junge DDR mit abendfüllenden propagandistischen Produktionen wie „Der Weg nach oben“ (1950). Ab Mitte der 50er-Jahre gestaltete Thorndike dann wirkungsvolle Kompilationsfilme, in denen er die deutsche Geschichte, vor allem die Ursachen der beiden Weltkriege, parteilich darzustellen versuchte. Bedauerlich ist der Verzicht auf einen Regisseur wie Hugo Hermann, der aus Österreich in die DDR gekommen war und mit „Träumt für morgen“ (1956) und „Stahl und Menschen“ (1957) eine Art Gegenpol zu Thorndike bildete. Er brach die eingefahrene, hölzerne DEFA-Stilistik auf, ließ Kinder und Arbeiter mit ihren Hoffnungen, Wünschen und Sorgen direkt zu Wort kommen. Das war Dogmatikern inner- und außerhalb des Studios schnell suspekt: Hermann wurde kalt gestellt und zum DDR-Fernsehen abgeschoben; später erkoren ihn jüngere Regisseure wie Jürgen Böttcher, die ihn und seine Arbeit lange Zeit gar nicht kannten, erklärtermaßen zum Vorbild.

Schließlich sollte Planet auch in einer umfangreicheren Retrospektive nachtragen, was das Regieteam Gerhard Scheumann und Walter Heynowski für den ostdeutschen und internationalen Dokumentarfilm leistete. Zwischen 1969 und 1982 betrieben die Beiden ihr – zwar vom Staat finanziertes, aber offiziell gesellschaftsrechtliches, unabhängig von der DEFA existierendes – Studio H&S. Die Gunst, sich ein „eigenes“ Filmunternehmen gönnen zu dürfen, hatten sie u.a. durch den Film „Der lachende Mann“ (1966) erworben, in dem sie einen westdeutschen Major vor die Kamera holten, der von seinem Dasein als Söldner in Afrika prahlte. Auch spätere Produktionen wollten H&S als Waffe im „weltweiten Klassenkampf“ verstanden wissen: etwa ihre Filmzyklen über Chile und Vietnam. Trotz – oder wegen – ihrer strikten Parteilichkeit, aber auch dank ihrer filmtechnischen Brillanz wurden sie international gefeiert; Festivals auf allen Erdteilen zeigten ihre Arbeiten gern. Erst 1981/82 stoppte die SED unter bisher noch nicht vollständig geklärten Umständen die Erfolgsgeschichte: Nach einer kritischen Rede Scheumanns, der die Informationspolitik der DDR scharf attackierte, wurde das Studio aufgelöst, die Regisseure kehrten zur DEFA zurück. Die Retro zeigt ihren Film „Kamerad Krüger“ (1989), ein Pamphlet über die Lebendigkeit faschistischer Ideale in den SS-Kameradschaftsverbänden der Bundesrepublik Deutschland. Das ist, verglichen mit der Bedeutung, die H&S in der deutschen Filmgeschichte zukommen sollte, freilich zu wenig.

Ralf Schenk (filmdienst 26/2001)

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