Metamorphosen des Unscheinbaren.
Der Dokumentarfilmregisseur Jochen Kraußer
von Ralf Schenk
Mitte der 70er Jahre plante Jochen Kraußer einen Film „Des Knaben Wunderhorn“. Um sich ein durchsichtiges Horn herstellen zu lassen, fuhr er nach Thüringen und suchte nach Kunstglasbläsern, die ihm diesen ausgefallenen Wunsch erfüllen sollten. Er lernt Bruno Greiner-Petter kennen, einen alten Mann, der die Geschichten seiner Landschaft, seines Menschenschlags wie kein anderer zu erzählen vermag. Wahrlich ein Original, immer den Schalk im Nacken, vom Hundertsten ins Tausendste schweifend. Seine Legenden, oft mit grotesken Pointen versehen, treffen ins Zentrum des Existentiellen: Leben und Tod, Krieg und Frieden, Liebe und Haß. Ein dreiviertel Jahrhundert, beleuchtet aus der weisen Sicht „kleiner Leute“. In „Bruno Greiner-Petter, genannt der Bimmel“ (1976) läßt Jochen Kraußer seinen Helden einfach nur reden. Die Kamera begleitet ihn, wie er durch die Straßen seines Heimatdorfes wandert, in seiner Küche palavert oder in der Werkstatt sitzt, wo er mit Frau und Tochter Christbaumschmuck fertigt. Einmal kommt Bruno auch auf Karl Valentin zu sprechen: Beide sind sich nicht nur äußerlich ähnlich, sondern Brüder im Geiste.
Bruno Greiner-Petter wird zu einer Schlüsselfigur im Werk von Jochen Kraußer: „Ein Mensch, der mich motiviert hat, mehr Mut zu haben. Mut, sich zu sich selbst zu bekennen. Zur eigenen Art, die Welt zu sehen.“ Der Regisseur, seit 1969 im DEFA-Dokumentarfilmstudio fest angestellt, forscht konsequent nach Freiräumen abseits offiziell gewünschter Themen; ihn interessiere es nicht, ein von der Obrigkeit vorgegebenes Zentrum filmisch zu fassen, er orientiert sich lieber an der vermeintlichen Peripherie. Sein Blick gilt Menschen „Am Rande“: jenen Stillen, Unscheinbaren, die nie in die Schlagzeilen drängen. Sie werden für ihn zur Quelle von Kunst-und Lebenserfahrung. Mit ihnen erfüllt sich das, was er bereits in seinem Debütfilm „Schmetterling“ (1976) gleichnishaft beschrieben hatte: Hier beobachtete er eine Kindergartengruppe, die auf einer Lichtung Raupen sammelt, sie füttert und deren Metamorphose zu Schmetterlingen verfolgt. Als die Tiere ihren Kokon abstreifen und ihre „innere“ Schönheit entfalten, suggeriert auch die Kreisbewegung der Kamera ein Erheben in die Lüfte. Die Enge des Städtchens wird aufgebrochen, die Perspektive ist plötzliche weit und frei. Noch eine andere Szene, diesmal aus „Lerchenlieder“ (1980), läßt sich als Schlüssel zum Gesamtwerk des Regisseurs begreifen: Ein dicklicher, vermutlich oft verlachter Bauernjunge, der sich leidenschaftlich für Drehorgeln interessiert, führt in seiner Schule einen Leierkasten vor. Während die Marseillaise erklingt, schwenkt die Kamera über die Porträts von Marx, Engels, Lenin und Wilhelm Pieck an der Wand des Klassenraumes und – nach einem Schnitt – in umgekehrter Richtung über den Lehrer zu dem Jungen zurück. Eine Sequenz, die sinnfällig macht, wen Jochen Kraußer als „seine“ Helden auserkoren hat und nicht mehr loszulassen bereit ist.
Die Speisung der Hungrigen
Kraußers Refugium innerhalb des DEFA-Dokumentarfilms ist die Kinderfilmgruppe, in der unter anderem auch Konrad Weiß, Günter Meyer, Günter Jordan oder Roland Steiner arbeiten. Von Anfang an sucht er nach ungewöhnlichen Formen, nach einer unverbrauchten Stilistik. Die konventionelle Reportage interessiert ihn kaum; er verknüpft statt dessen Dokumentarisches mit Inszeniertem, lädt Kinder als Mitspieler zu seinen filmischen Experimenten ein. In „Über die Berge“ (1981) konfrontiert er Schüler mit einem Gedicht von Brecht, in dem dieser über die schöpferische Kraft des Menschen und zugleich über Bedrohungen durch Not und Krieg reflektiert. Die Kinder malen, was ihnen zu den Versen einfällt, lassen ihre eigenen Wünsche einfließen. Am Ende tragen sie ihre Bilder ebenso wie Transparente mit einzelnen Worten des Gedichts („zueinander“, „satt“, „alle“) vor sich her – eine spielerische Demonstration. In einigen Szenen zitiert Kraußer biblische Motive: wenn ein Mädchen einen Napfkuchen durch ein Getreidefeld trägt, dann Originalfotos von Kindern aus Afrika und Asien eingeschnitten werden und das Mädchen schließlich an einer langen Tafel den Kuchen verteilt, gleichsam die Speisung der Hungrigen vornimmt.
„Die Geburt der Königin“ (1984) vermittelte jungen DDR-Zuschauern, die weitgehend einer atheistischen Erziehung ausgesetzt waren und das Innere von Kirchen oft nur vom Hörensagen kannten, die Bekanntschaft mit der „Königin der Instrumente“, der Orgel. Kraußer, selbst passionierter Organist, läßt in der Ouvertüre des Films Bilder zahlreicher historischer Orgeln in Dorf- und Stadtkirchen Thüringens und Sachsens Revue passieren, um sich dann, ohne Kommentar, in die Klangwelt des Orgelbaus hineinzubegeben: vom Zuschneiden des Holzes in einem Sägewerk über das Herstellen der Orgelpfeifen bis zum Erklingen einer Fantasie von Bach. Ein Jahr später, in „Des-Ce-Es-De“, porträtiert Kraußer den jungen Keramiker Kristian Körting, der sich im Dachzimmer seines verwinkelten alten Fachwerkhauses eine eigene Keramikorgel baut und, auf der Suche nach dem „wirklichen Klang“, das für ihn größte Thema der Musik „B-a-c-h“ intoniert. Wie viele seiner Filme beginnt Kraußer diese Arbeit mit dem Motiv eines durch die Landschaft rollenden Zuges: Es ist wie eine Reise in ein fernes Land, ein Land der Märchen und Legenden, in dem jeder Mensch etwas ganz Besonderes ist und seine Individualität entfalten und ausleben kann.
Leuchtkraft der Ziege
Eine Lokomotive, allerdings ohne Wagen, eröffnet auch Kraußers „opus magnum“: „Leuchtkraft der Ziege – eine Naturerscheinung“ (1988). Wie dieses Bild hält sich der gesamte Film offen für Interpretationen. Der DEFA-Studiodirektor etwa faßte die alleinfahrende Lok als Metapher für Gorbatschow auf, dessen Politik von keinem anderen realsozialistischen Land mitgetragen wurde. Man muß derartig waghalsigen Auslegungen nicht folgen, um auch heute noch seinen Spaß an „Leuchtkraft der Ziege“, einer cineastischen Verbeugung vor Christian Morgenstern und Ernst Jandl, zu haben: Ein solches Maß an absurdem Humor ist im DEFA-Dokumentarfilm einmalig geblieben. Ohne dem genehmigten Drehbuch zu folgen, verknüpft Kraußer Partikel einer in einem thüringischen Dorf vorgefundenen Realität: eine Kindergartengruppe, die mal von links nach rechts, mal von rechts nach links durchs Bild zieht und einen immer wiederkehrenden Reim singt, Signal für Gleichmaß und Stillstand trotz Bewegung. Ein Streckenläufer, der die Gleise prüft und dabei merkwürdige Verse murmelt: „Ein Mann, zwei Bein, viel Schritt, tausendschnell, mehrgleis, zweispur, einsam.“ Ein Landvermesser mit seinem Gehilfen, um Zentimeter ringend. Amateure, die eine wüste Entführungsstory in Stummfilmmanier drehen. Und ein junger Schmalfilmer, der das Team dabei beobachtete. Einmal gleiten der Junge und der Amateurregisseur in einer Windwanne übers Feld, wobei sich folgendes Gespräch entspinnt: „Glaubst du, daß dieses Interview für uns beide gefährlich werden könnte?“ – „Ja, sehr.“ – Glaubst Du, daß dieser Spaß von allen Leuten verstanden wird?“ – „Nein.“
Solche Texte mußten in DDR-Abnahmeprozeduren, bei denen vor allem auf politische Opportunität und verbale Eindeutigkeit Wert gelegt wurde, auf äußerstes Mißtrauen stoßen. Machte sich hier ein Regisseur über den sozialistischen Realismus lustig? Später bezeichnete Kraußer den Film und seine Anfangsworte – „Ist es oder ist es nicht/Ist es Täuschung“ – als „Antwort auf den Realismus überhaupt: Es ist nicht sicher, was ich sehe, und es ist nicht sicher, wie ich es interpretiere, es hat auf keinen Fall Wahrheit in dem Sinne, wie man Wahrheit definiert.“ – „Leuchtkraft der Ziege“ wurde, nachdem das Fernsehen der DDR ihn abgelehnt hatte, in den DDR-Kinos lanciert und gilt bis heute als Kultobjekt ostdeutscher Filmclubs.
Dem Vater des jungen Interviewers aus „Leuchtkraft der Ziege“, dem Maler und Bildhauer Horst Sakulowski, begegnet man noch in zwei anderen Arbeiten Kraußers. In „Bilder einer Ausstellung“ (1988) werden seine und die fantasievollen Installationen von vier Freunden vorgestellt, wobei die Dramaturgie des Films die biblische Schöpfungsgeschichte paraphrasiert: Die Künstler holen Autoteile, alte Schaufensterpuppen, Uhren und Fahrradgestelle von einer Müllhalde und basteln daraus neue, originäre Gegenstände – etwa das „erste Fahrrad der Welt“, das von Sakulowski, wie in „Leuchtkraft der Ziege“, so beschrieben wird: „Die Leuchtkraft der Vorderradspeichen steht in umgekehrtem Verhältnis zur Schweigepflicht des Sattels, allerdings nur während der Fahrt.“ In „Wind sei stark“ (1990) ist Sakulowski dann einer von drei Männern, die sich dem Bau von Windrädern verschrieben haben. Das Tüfteln und Basteln als Ausdruck innerer Freiheit, als Akt des Widerstands gegen die Belastungen der Zeit, als Lebenshilfe. Am Schluß des Films erhebt sich ein Windrad mitsamt dem Turm, an dem es befestigt ist, wie von magischen Kräften gehoben in die Lüfte. Alles ist möglich.
Betonung des Individuellen
Auch in Filmen, die auf den ersten Blick nicht zu ihm zu passen scheinen, betont Jochen Kraußer das Besondere, Individuelle. „Die Demonstration“ (1983) beispielsweise entsteht im Widerspruch zur Lethargie jener weitgehend gesichtslos wirkenden Menge, die jeweils im Januar in Ostberlin zum Gedenken an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg aufmarschiert. „Es ist nicht toter Stein, auf dem ich gehe“, lautet ein mehrfach wiederkehrender Kommentarsatz, mit dem der Regisseur dazu auffordert, sich der geschichtlichen Hintergründe wieder bewußt zu werden – und zwar durch persönliche Annäherung, durch aktives Befragen der Historie, des eigenen Erlebens und Empfindens. „Herbstblätter“ (1985) erinnert dann an den kommunistischen Arbeiterführer Ernst Thälmann, der 1944 im KZ Buchenwald ermordet wurde und in der DDR zum unnahbaren Monument versteinerte. Kraußer läßt ihn als Menschen wiederauferstehen. Er zitiert aus Briefen Thälmanns an dessen Frau und Tochter, hebt Worte wie Alleinsein, Sehnsucht, Liebe, Leid hervor und macht sie zu Ausgangspunkten einer Entdeckungsreise in die Seele des auf seinem Podest vereinsamten Heroen.
Dabei ist „Herbstblätter“ in seiner jetzigen Form nur der Torso eines größeren Entwurfs: Kraußer hatte die Absicht, Thälmanns in der DDR lebende Tochter und deren Enkelkind vor die Kamera zu holen, „das mit einem schweren Nierenschaden geboren wurde, hochintelligent ist, lange im Krankenhaus gelegen hat und dadurch so ein Individualist ist. Im Kindergarten, der „Rosa Thälmann“ hieß, wo das große Bild der Urgroßmutter am Eingang hing, hat der Junge jeden Morgen davor gestanden und war nicht zu bändigen. Ein herrlicher Typ. Ich wollte das alles mit hineinbringen. Als Hoffnung auf Thälmanns Hoffnungen, von denen er in seinen Kerkerbriefen schreibt, daß die anderen nun das machen könnten, was er nicht mehr machen kann, und was dazu für Leute nötig sind und was es für eine Last ist, den Namen Thälmann zu tragen. Und plötzlich kam das Aus...“ – Drei Jahre später dreht Kraußer, möglicherweise auch als Antwort auf die noch immer verordnete Unberührbarkeit der kommunistischen „Klassiker“, den nur fünf Minuten langen „Auftrag“: Ein Töpfer bei der Arbeit, Gießmasse fließt in einen Hohlraum, eine Zwinge hält die Form zusammen. Als sie sich öffnet, kommt eine kleine Marx-Büste zum Vorschein, die mit Dutzenden gleichaussehenden Köpfen in den Brennofen wandert. „Der Auftrag“ hat keinen Kommentar; man hört nur die begleitenden Worte des Meisters: „Auf Wunsch des Bestsellers werden die Köpfe jetzt schwarz gespritzt“, heißt es am Schluß, und man sieht die Büsten auf einer Palette aufgereiht wie Hühner auf einer Stange. Der Film wird, wenn auch nur für wenige Wochen, verboten.
In den letzten Monaten der DDR träumt Jochen Kraußer von einer Mischung aus Spiel- und Animationsfilm: „Die Stunde des Schweins“. Zwei Schweine fliehen vom Viehhof; das eine wird, auf einer Art „Farm der Tiere“, wohlhabend und selbstherrlich, das andere gerät in einen Zoo und genießt, wenn auch hinter Gittern, ein abgeschirmtes, von Wärtern gehütetes Leben. Irgendwann stoßen sie erneut aufeinander... – Die grandiose Parabel kommt aufgrund fehlenden Geldes nicht zustande.
Kraußers Helden bleiben eigenwillig. In „Der Gordische Knoten“ (1991) porträtiert er Mitglieder einer Ostberliner Theatergruppe, die schon zu DDR-Zeiten alten Formen entgleiten, ohne Intendant und Regisseur arbeiten wollten, immer auf der Spur der eigenen Persönlichkeit: „Wer bin ich überhaupt?“ Ein Modell, das aus vielen Gründen scheiterte, unter anderem auch, weil der Staat mit Repressalien reagierte. In „Tisa und Jens-Peter“ (1994) skizziert Kraußer die ungewöhnliche Freundschaft eines jungen Malers und Polizistensohnes aus der DDR und einer westdeutschen Ordensschwester: erneut ein Gleichnis über die Schmerzen und das Glück der Selbstfindung. „Freiheit ist ein anderes Wort“ (1998), ein Film zum Reformationstag, setzt diese thematische Linie fort und stellt zwei Menschen vor, die wiederum schnell mit dem Stigma „Außenseiter“ oder „Sonderling“ versehen werden könnten. Beide wuchsen in atheistischen DDR-Familien auf und sahen sich plötzlich mit spirituellen Erfahrungen konfrontiert. Kraußer läßt sie darüber nachdenken, folgt ihnen an ihre neuen Ufer: Der Mann etwa legte die Mönchskutte der Franziskaner an und kümmert sich, in einem Hof nahe Berlin, um Obdachlose, Alkoholabhängige und Einsame. „Cinquillo Cubano“ (1998) schließlich, Jochen Kraußers bisher letzte Arbeit, entwirft das bestechende Fresko einer weit verzweigten kubanischen Musikantenfamilie und ein facettenreiches, sensibles, ungeschminktes Bild des heutigen Kuba.
Mit solchen Filmen stellt sich Kraußer, wie schon zu DDR-Zeiten, gegen das Gängige, Gefällige, Opportune, das schnelle politische Urteil, den reißerischen Duktus. Er hat sich seine innere Unabhängigkeit bewahrt, ist jener leise, freundliche Idealist und Mahner geblieben, dessen christlich geprägter Wertekanon sich selbst in kleinen Auftragsarbeiten fürs Fernsehen widerspiegelt. Für ein Magazinsujet interviewte er unlängst den Schriftsteller Günter de Bruyn – und fand in ihm einen Geistesverwandten, der wie er Kunst als moralische Instanz begreift. Als Mittel, Vertrauen zu gewinnen.
Ralf Schenk (filmdienst 3/1999)