„Ich sage nicht, was es bedeutet...“
Der Dokumentarist Volker Koepp
von Ralf Schenk
In den vergangenen Wochen traf man Volker Koepp fast nur am Schneidetisch. Sein neuer Film „Letztes Jahr in Czernowitz“ war ihm in der ersten Fassung dreieinhalb Stunden lang geraten, also viel zu lang für die co-produzierenden Fernsehanstalten. Jetzt liegt Koepp bei etwas mehr als zwei Stunden; nichts Ungewöhnliches zwar im Alltag eines Filmemachers, und doch ist es gerade in diesem Fall schade um jede gekürzte Szene.
„Letztes Jahr in Czernowitz“ führt, wie schon Koepps Erfolgsfilm „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ (1999), in die Bukowina – und zugleich in die Welt. Denn das einstige k.u.k.-Städtchen, das in der österreichisch-ungarischen Monarchie von einem Völkergemisch aus Polen, Ukrainern, Deutschen und Juden bewohnt war, hat im Laufe des 20. Jahrhunderts viele Verwandlungen und Verwerfungen erlebt. Flucht und Vertreibung, Holocaust und immer wieder neue Grenzziehungen. Koepp suchte mit der Kamera nach Spuren, befragte Leute, die zu unterschiedlichen Zeiten auswanderten, oder deren Nachfahren, die zum Teil noch nie in Czernowitz waren und nun zum ersten Mal hierher aufbrachen. Wie wichtig ist die Vergangenheit für die Zukunft? Was bringt es, nach ausgerissenen Wurzeln zu tasten? Was geschieht, wenn die verlorene Heimat von einem „Ort in der Seele“ zu einem realen Ort wird? Koepp begleitet Menschen aus mehreren Ländern der Erde zurück in die Bukowina, auch den Schauspieler Harvey Keitel, dessen Familie von hier stammte, und der nun, nach einem Besuch in Czernowitz, resümiert: „Ich habe nie hier gelebt und vermisse es doch schon jetzt.“ Mit „Letztes Jahr in Czernowitz“ erschließt Volker Koepp erneut zeitgeschichtliche, philosophische und seelische Dimensionen.
Das feine Geflecht
Koepp, geboren 1944 in Stettin, hatte eine Ausbildung als Maschinenschlosser und ein Studium an der Technischen Universität Dresden absolviert, bevor er 1966 an die Babelsberger Filmhochschule kam. Nach dem Regiediplom arbeitete er zunächst für kurze Zeit in der DEFA-Arbeitsgruppe von Karl Gass, die sich in den frühen 1970er-Jahren an soziologischen Beschreibungen ökonomischgesellschaftlicher Prozesse versuchte. Es waren Filme, die, wie im Fall Koepps, umständliche Titel trugen wie „Die Rolle des Meisters im System der sozialistischen Betriebswirtschaft“ (1970) und zur internen Auswertung und Schulung, nicht zur Veröffentlichung im Kino bestimmt waren. Als Auftraggeber fungierte das Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED. Alle, die damals an diesen mitunter bis zu zwei Stunden langen Produktionen mitwirkten, betonten später, dass dies keine verlorene Zeit war. Man übte zwar nicht unbedingt Sozialkritik, gelangte aber mit der Kamera in Forschungseinrichtungen, Werkhallen und Direktorenbüros, die sonst verschlossen gewesen wären, untersuchte Arbeitsbedingungen, forschte nach Hindernissen für mehr Effektivität. Nicht zuletzt aus dieser „Schule“, in der neben Koepp Regieanfänger wie Eduard Schreiber, Ulrich Weiß, Gitta Nickel und andere wirkten, entwickelte sich jene Sicht auf Arbeitsrealitäten, die zu einem „Markenzeichen“ des DEFA-Dokumentarfilms wurde.
Mit „Grüße aus Sarmatien“ (1973) fand Koepp erstmals zu einem poetischen Ausdruck, der von nun an sein Werk kennzeichnen sollte: Auf den Spuren des aus Tilsit stammenden Dichters Johannes Bobrowski erkundete er die Geschichte eines Menschen in den Strudeln der Zeit und zugleich die Bindung des Individuums an die Landschaften seines Lebens. Schon in dem ebenfalls 1973 entstandenen Porträt „Gustav J.“ setzte er diese Linie fort: Ein alter, einst in Ostpreußen beheimateter Arbeiter erzählt von seinen Erfahrungen in zwei Weltkriegen, vom Grenzland im Osten, aber auch davon, wie er aus Liebe schreiben lernte. Mit diesem Porträt öffnete Koepp den Blick „auf das feine Geflecht verborgener Beziehungen in der Geschichte von Völkern und in der Lebensgeschichte von Menschen“. Ein Blick, den er über die Jahrzehnte, bis hin zu seinen langen Ostpreußen-Filmen „Kalte Heimat“ (1995) oder „Fremde Ufer“ (1996) und bis zu „Kurische Nehrung“ (2001) immer wieder pflegte.
Was Koepps damaliger Kameramann Christian Lehmann in die Filme einbrachte – und was dessen „Schüler“ Thomas Plenert heute einbringt –, ist keinesfalls zu unterschätzen. Die Fotografie basiert auf einem sensiblen Gespür für die Korrespondenz zwischen Menschen, Innenräumen und Landschaften. Für die Erkundung der Lebensumwelt nehmen sie sich Zeit; so wie sie nach einem Interview gern die Kamera laufen lassen und auf diese Weise Gesten, Blicke, Regungen dokumentieren, die das Gesagte unterstreichen, kommentieren, auch konterkarieren. Christian Lehmann umriss schon 1968 sein Credo: „An der Kamera-Einstellung kann man wirklich etwas Moralisches, nämlich das Verhältnis zu den aufzunehmenden Menschen ablesen. Ich liebe die Großaufnahme nicht und bevorzuge die totalere Sicht. Einmal deshalb, weil dann der Mensch in seiner konkreten Umgebung und in seinem sozialen Gestus erlebbar wird. Aber auch darum, weil ich es als Indiskretion empfinde, jemandem zu nahe auf den Leib zu rücken. Mir missfallen auch die der normalen Sicht – Augenhöhe – extrem widersprechenden Blickpunkte, wenn ich einen Menschen aufnehme, den ich nicht karikieren will. Ich bevorzuge immer die einfachste Bildlösung.“ Ein Credo, das auch für Volker Koepp und Thomas Plenert gültig ist.
Frauen vor der Kamera
Neben den Grenzlandschaften Ostpreußens oder der Bukowina wurde vor allem Brandenburg zu einem Fixpunkt in Koepps Schaffen. 1973 kam er zum ersten Mal nach Wittstock, einem Städtchen nördlich von Berlin, in dem eine neue Textilfabrik entstand. Außer einigen männlichen Chefs waren hier überwiegend Frauen tätig: etwa 2000, vor allem junge Mädchen. Aus der Beobachtung der schwierigen Eingewöhnungszeit wurde im Laufe von 22 Jahren und sieben Filmen eine Langzeitstudie über Aufbruch und Erstarrung, Träume, Illusionen und Wahrheiten, Freundschaften und Brüche, die Melancholie des Älterwerdens, den Abschied von Gewissheiten. Dabei führte der lange Kontakt zwischen dem Regisseur und seinen Protagonistinnen zu einer Vertrautheit vor der Kamera, die das technische Gerät oft vergessen ließ. Die Frauen, allen voran Stupsi, Elsbeth und Renate, äußern sich kritisch, ironisch und selbstironisch. Koepp: „Frauen sind eher bereit als Männer, zu sagen, was sie denken. Sie sind die stärkeren Figuren in der Kunst.“ Der Regisseur nähert sich ihnen mit knappen, lakonischen Fragen, niemals insistierend, stattdessen vorsichtig, fast stockend. Nicht nur im Wittstock-Zyklus ist mitzuerleben, wie Koepps vermeintliche oder tatsächliche Schüchternheit dazu beitrug, seine Heldinnen in ihn verliebt zu machen. Er war, wenigstens für die Zeit der Dreharbeiten, zu „ihrem“ Künstler geworden – und zu einem Mann, dem man helfen muss, das Beste zu leisten.
Neben seinen „Stars“ wie den Klöße kochenden Thüringer Frauen in „Hütes“ (1977), der Russlanddeutschen Olga und ihren drei Schwestern in „Fremde Ufer“ (1996) oder der greisen Frau Zuckermann sind Arbeiten wie „Haus und Hof“ (1980), das Porträt einer Agrarwissenschaftlerin, oder „Tag für Tag“ (1979), die Alltagsskizze einer lesbischen Schweißerin in einer LPG, ein wenig in Vergessenheit geraten. Für Koepp waren sie wichtige Stationen zur Ausformung seines Stils. Mit solchen „Arbeiterfilmen“ kam er zu DDR-Zeiten zwar den offiziellen Forderungen nach einer „Gestaltung der führenden Klasse“ nach, unterlief sie aber durch die komplette Absage an Schönfärberei, Didaktik und forcierten Optimismus. Koepps Filme sind langsam und zärtlich. Stets prägen die Denkund Sprechweisen seiner Figuren ihren Rhythmus. Dabei schloss die praktische Umsetzung seiner „subversiven“ Bemerkung, „Dokumentarfilme drehen ist das Herstellen von Dokumenten“, oft sogar den Autorenkommentar aus: Indem er den gefundenen Bildern und Tönen vertraute und nicht auf die im Nachhinein entworfenen verbalen Verdichtungen des Filmemachers baute, machte er sich den Geist des cinéma vérité zu eigen. Oder übersetzte ein Bonmot von Ödön von Horvath für sich selbst: „Ich beschreibe es nur, ich sage nicht, was es bedeutet.“
Der Wilde Osten
Ein anderer filmischer Zyklus Koepps entstand zwischen 1989 und 1991 und holte märkische Ziegeleiarbeiter vor die Kamera. Es wurde ein Sinn-Bild über die Endzeit der DDR und die Umbruchstimmung in den Monaten der deutschen Vereinigung. Koepp, der die dunkle, verfallende Ziegelei als metaphorischen Raum begriff und auch so fotografieren ließ, machte neben der Agonie des untergehenden Systems auch die Atmosphäre von Ungewissheit und Angst transparent, die die „Wende“ mit sich brachte. „Märkische Gesellschaft mbH“ (1991) zeigte, wie neue Abenteurer ins Land fluteten: Was in den USA einst der Wilde Westen, war im vereinigten Deutschland nun der Wilde Osten geworden. Auch „Wittstock, Wittstock“ (1997), die letzte filmische Begegnung mit „seinen“ Wittstockerinnen, wurde für Koepp nicht nur zum „Bild vom Sterben der Textilindustrie in Wittstock, sondern ein Bild vom Osten überhaupt. Wir hören heute Zahlen von Arbeitslosen, die immer noch steigen. Aber man weiß nie, was es bedeutet. In unserem Film ist das einfach konkret, nachvollziehbar“ (Koepp). So, wie es früher, zu DDR-Zeiten, für ihn ein Glückfall war, wenn eine seiner Heldinnen ganz aus dem Bauch den Satz von sich gab: „Man wird geboren, man stirbt wieder. In der Zeit dazwischen qualifiziert man sich weiter“, so verzichtete Koepp im Wittstock-Finale nicht auf jenes „Stück lebenserhaltender Anarchie“ aus dem Mund von Renate: „Nischt wird gut, nischt. Es wird Bürgerkrieg geben. Kannste glauben. Bürgerkrieg wird’s geben.“
Was es dann tatsächlich gab, zeigte Koepp in „Uckermark“ (2002): Hier, rund 60 Kilometer nordöstlich Berlins, etablierte das vereinte Deutschland zwar Nationalparks und Naturreservate, löste damit aber kein einziges Problem. Nach wie vor kümmert sich Koepp um soziale Verwerfungen: 20 Prozent Arbeitslosigkeit; die Landflucht junger Leute; Frauen, die auf Äckern nach archäologischen Überbleibseln suchen. Doch wie lange werden sie noch Scherben finden? Aus konkreten Begegnungen erwächst ein Zeitbild: Einige Männer kurz vor der Frührente reparieren Landmaschinen, aber nicht mehr für den Einsatz auf den Feldern, sondern fürs Museum. Der Film lässt wie unter einem Brennglas deutlich werden, dass sich solche vom Arbeitsamt bezahlten „Strukturanpassungsmaßnahmen“ fast ausschließlich auf Vergangenes richten, Neues dagegen kaum in Sicht ist. Im Schlussbild sieht man einen zugefrorenen See, auf dem junge Leute Schlittschuh laufen – irgendwohin, in eine Zukunft, die niemand zu markieren vermag.
Wie häufig in seinen abendfüllenden Filmen nach 1990 schlug Koepp auch hier einen Bogen übers ganze vergangene Jahrhundert. Er holte dafür erstmals nicht nur die „kleinen Leute“ vor die Kamera, sondern auch Vertreter alter Adelshäuser, die einst in der Uckermark lebten und nun, nach der „Wende“, aus dem Westen auf ihre Güter zurückkehrten. Das Kunststück des Films ist, dass kein einziger von ihnen unsympathisch wirkt – und dennoch ein schaler Beigeschmack einsetzt, wenn die Restauration der alten Besitzverhältnisse vorgeführt wird. Eine grandiose Szene zeigt ein älteres Adelspaar, das ehemalige Bedienstete zu Kaffee und Torte eingeladen hat. Da sitzen sie einträchtig beieinander: die Baronin und ihre früheren Dienstmädchen, Beiköchinnen und Kutscher. Und ganz beiläufig erzählt eine der Frauen, dass ihr Mann „zwischendurch“ viele Jahre LPG-Vorsitzender war. Die DDR als Fußnote der deutschen Geschichte? Koepps „Uckermark“ lässt, wie schon „Sammelsurium“ (1992), ein Essay über das Verschwinden von DDR-Insignien, keinen Zweifel daran, dass das so sein wird. Und wartet zugleich mit zahllosen Details über das gelebte Leben im deutschen Osten hin: Filme gegen das Vergessen, auf der Suche nach verlorenen Zeiten.
Neben „Letztes Jahr in Czernowitz“ drehte Volker Koepp unlängst noch eine weniger aufwändige Videodokumentation fürs Fernsehen: „Frankfurter Tor“ (2003). Begegnungen und Gespräche auf einem Parkplatz nahe Frankfurt an der Oder, auf dem vornehmlich osteuropäische LKW-Fahrer bis zu 20 Stunden auf die Abfertigung durch den deutschen und polnischen Zoll warten. Ein Film, der viel über die Mentalität von Deutschen, Polen, Russen verrät, der, wieder einmal, über Begriffe wie Heimat, Grenze, Sprache philosophiert und sie konkret erfahrbar macht. Bald wird dieser Parkplatz verschwunden sein: Mit dem Beitritt Polens in die EU ist auch „Frankfurter Tor“ ein historisches Dokument. Wie antwortet doch Volker Koepp auf den Satz einer weißrussischen Verkäuferin, sie sei, bevor sie im Shop auf dem Parkplatz zu arbeiten begann, auf einem Bahnhof tätig gewesen: „Da hatten sie immer mit Leuten zu tun, die abfahren.“
Ralf Schenk (filmdienst 3/2004)