Schmetterlinge am geteilten Himmel.
Christa Wolf und das Kino
von Ralf Schenk
Auf der Spurensuche nach Berührungen zwischen der Dichterin Christa Wolf, die am 18. März 75 Jahre alt wird, und dem Kino fällt zuallererst „Der geteilte Himmel“ ein. Die Erzählung war im Mai 1963 erschienen; Konrad Wolf hatte sie schon im Manuskript gelesen und war zur Verfilmung entschlossen, noch ehe sich der literarische Erfolg (eine Auflage von 160.000 Exemplaren bereits im ersten Jahr) abzeichnete. Auch der Film geriet zum Ereignis: Mit einer vorher nie gekannten Offenheit wurden Wunden der DDR-Gesellschaft beleuchtet, wobei als Ursachen für existenzielle Konflikte gerade auch Intoleranz, politischer Opportunismus und Heuchelei in den „eigenen Reihen“ zur Sprache kamen. Auf kunstvoll verschachtelte Weise beschreibt „Der geteilte Himmel“ den Bewusstseinsprozess einer jungen Frau, deren Freund die DDR verlassen hat und die daraufhin physisch und psychisch zusammenbricht. Die subjektive Erzählperspektive aus der Sicht der Hauptfigur Rita bedingte eine Fragmentarisierung der Fabel. Wie in den assoziationsreichen Arbeiten von Alain Resnais („Hiroshima mon amour“) tauchten auch in „Der geteilte Himmel“ Episoden aus dem Gedächtnis der Figur auf, überlagerten und verdrängten sich. Gegenwart und Vergangenheit flossen ineinander über; Spielräume korrespondierten, zum Teil in Parallelmontagen, miteinander, wobei viele Bilder zugleich symbolischen Charakter trugen. „Der geteilte Himmel“, uraufgeführt im September 1964, war ein ästhetisch moderner und politisch mutiger Film, der bei aller Kritik die Hoffnung auf eine Reformierbarkeit des Systems ausdrückte, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ beschwor.
Unvollendete Kapitel
Es war der erste und sollte für längere Zeit der letzte Film bleiben, in dem man den Namen Christa Wolf im Vorspann lesen konnte. Wenig bekannt ist, dass es um „Der geteilte Himmel“ herum weitere Versuche der Autorin gab, als Szenaristin für die DEFA zu arbeiten: an Stoffen, die eine gewisse „Welthaltigkeit“ ins DDR-Kino gebracht hätten. So entstand im Herbst 1960 ein Filmexposé nach ihrer frühen Erzählung „Moskauer Novelle“: die Geschichte einer Liebe zwischen einer ostdeutschen Kinderärztin und einem sowjetischen Dolmetscher, die 1945 in einem mecklenburgischen Dorf beginnt, dann unterbrochen wird und während einer zufälligen Begegnung in Moskau 1959 erneut aufflammt. Konrad Wolf interessierte sich für den Stoff, in dem er die Chance erkannte, den Beginn eines „neuen Verhältnisses“ zwischen Deutschen und Russen zu reflektieren. Die sowjetische Seite, die als Produktionspartner nötig gewesen wäre, lehnte allerdings ab: Die Gestalt des russischen Mannes erschien trotz allen Pathos zu wenig heldisch, zu gebrochen und passiv. Christa Wolf zeigte sich über die Ablehnung enttäuscht; erst 1973, als sie den Text einer kritischen Betrachtung unterzog, mag sie ganz froh gewesen sein, dass der Film nicht zustande kam. Jetzt empfand sie „Moskauer Novelle“ als Traktat mit „hölzerne Dialogen“, „verunglückten Bildern“ und zu viel widerspruchsfreier Idylle, besonders in den Moskau-Episoden.
Auch das nächste Projekt, das Christa Wolf, ihren Mann Gerhard und Konrad Wolf zwischen 1962 und Herbst 1964 beschäftigte, konnte nicht realisiert werden. Es sollte „Ein Mann kehrt heim“ (auch „Heimkehr“) heißen. Hauptfigur war, wie Konrad Wolf, der Sohn politischer Emigranten, der relativ spät und voller Zweifel über die Wandlungsbereitschaft und -fähigkeit der Deutschen zurückkommt und versucht, als Ingenieur in der DDR Fuß zu fassen. „Wir wollten“, erinnerte sich Christa Wolf in den 1980er-Jahren, „einen Verfremdungseffekt benutzen, um einen kritischen, aber nicht nur kritischen Blick auf bestimmte Erscheinungen bei uns zu werfen. Das Szenarium war schon geschrieben, es wurde uns dann bedeutet, dass es keinen Sinn hätte, weiter daran zu arbeiten.“ Vor allem der ehemalige DEFA-Direktor Hans Rodenberg, der als Filmminister und Mitglied des Staatsrates das Sagen hatte, lehnte den Stoff ab: „Unsere DDR mit dem fremden Blick von einem anderen Stern betrachtet, das ist nicht die Perspektive, die wir jetzt brauchen.“ Das 11. Plenum mit seinem Verdikt gegen kritische Gegenwartsfilme warf bereits seine Schatten voraus.
Noch ein Film, über den Christa, Gerhard und Konrad Wolf 1964/65 nachdachten, blieb ungedreht: die Biografie des Physikers Klaus Fuchs, der 1933 nach Großbritannien emigriert war, an der Entwicklung der US-amerikanischen Atombombe mitarbeitete und 1949/50 als „kommunistischer Atomspion“ verhaftet und verurteilt wurde. Fuchs war nach mehrjährigem Gefängnisaufenthalt in die DDR übergesiedelt und wirkte hier als Leiter des Zentralinstituts für Kernforschung in Rossendorf. Ein Film über ihn musste von höchster Stelle genehmigt werden – doch das Zentralkomitee der SED lehnte ab. In seiner Christa-Wolf- Biografie vermerkt Jörg Magenau, was die Autorin an der Vita des Wissenschaftlers interessierte: nicht der Spionage-Plot, sondern „wie eine christliche, bürgerliche Familie nach links driftete und in ein Emigrantenschicksal gezwungen wurde. Konrad Wolf sah die Parallelen zu seiner eigenen Vergangenheit im Exil. Doch Klaus Fuchs, den Christa und Gerhard Wolf aufsuchten, blieb schweigsam. Ein linientreuer, sehr korrekter Mensch sei er gewesen, der nichts erzählen wollte, solange er nicht von seiner Geheimhaltungspflicht entbunden sei. Und Konrad Wolf, der bei Erich Honecker vorsprach, erhielt über ihn das ‚Njet‘ der Sowjetunion. Es war nicht möglich, mitten im Kalten Krieg Spionagefälle zu thematisieren, die es nach offizieller Lesart gar nicht gegeben hatte – auch wenn die Welt es längst besser wusste.“
„Fräulein Schmetterling“
Wenigstens einer jener Stoffe, die Christa Wolf um 1965 bewegten, kam ins Atelier: „Fräulein Schmetterling“, die Alltagsgeschichte einer 18-Jährigen, die nach dem Tod ihres Vaters ihren eigenen Weg ins Leben sucht. Der Film war ein Plädoyer für Individualität und Selbstbestimmung; zugleich polemisierte er gegen die bei politischen Funktionären verbreitete Auffassung, dass die sozialistische Gesellschaft für die in ihr lebenden Menschen sorge und demzufolge Dankbarkeit erwarten dürfe, die vor allem bedeutete, sich bedingungslos den von „oben“ gestellten Forderungen unterzuordnen. Christa und Gerhard Wolf verteidigten dagegen das Recht auf Träume und Irrtümer, auch auf Widerborstigkeit. Gemeinsam mit dem Regiedebütanten Kurt Barthel entwickelten sie eine filmische Form aus realistischen Spielfilmszenen, Dokumentaraufnahmen (teilweise mit versteckter Kamera) und Traumsequenzen. „Fräulein Schmetterling“ geriet mitten in die politischen Auseinandersetzungen um neue DEFA-Filme nach dem 11. Plenum des ZK der SED. Es ist hier nicht der Raum, um die Diskussionen zwischen Drehschluss am 8. Dezember 1965 und dem Abbruch aller Arbeiten am 4. Februar 1966 detailliert darzustellen; hochrangige Kulturpolitiker resümierten nach Ansicht einer Rohschnittfassung jedenfalls, der Film „erziele eine Wirkung, die sich gegen unsere Republik richte und im Wesen unserer Republik feindlich sei ... Es sei eine geistige Haltung, eine Ideologie, die objektiv eine feindliche Wirkung habe“. Wie ein knappes Dutzend anderer DEFA-Filme verschwand auch „Fräulein Schmetterling“ im Tresor.
Zwar hatte Christa Wolf selbst Einwände zur künstlerischen Gestaltung. Aber das Thema des Films – „Man soll nicht vorzeitig seine Sehnsucht aufgeben und sich an eine platte Alltagsvernunft anpassen“ – bestimmte in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre ihre literarische Arbeit wesentlich mit. So fußte „Nachdenken über Christa T.“ (1969), ihr nächster Roman, auch auf den Erfahrungen der jungen Heldin aus „Fräulein Schmetterling“. Trotz aller Enttäuschungen und Niederlagen blieb die Autorin noch eine Weile mit der DEFA in Kontakt. Gemeinsam mit ihrem Mann legte sie Anfang 1967 eine Konzeption zur Verfilmung des Günter-Weisenborn- Buchs „Der Verfolger“ vor, ein Stoff über den einzigen Überlebenden einer Widerstandsgruppe, der in der Bundesrepublik Deutschland vergeblich versucht, einen Ex-Gestapo-Spitzel vor Gericht zu bringen und schließlich nur noch das Mittel der Selbstjustiz sieht. Als Regisseur sollte Wolfgang Staudte gewonnen werden, aber die DEFA-Direktion zeigte kein Interesse. So kam die über einen Zeitraum von sechs Jahren recht intensive Zusammenarbeit zum Ende: Christa Wolf schloss mit einer Drehbuch-Beteiligung an der Adaption des Anna-Seghers-Romans „Die Toten bleiben jung“ (1968) und dem Versuch, in einem zweiteiligen Panorama die Geschichte des „Till Eulenspiegel“ (1973) am Vorabend des Bauernkrieges neu zu erzählen. Unter der Regie von Rainer Simon wurde daraus ein einteiliges, wenngleich noch immer erregendes Torso.
Andere Spuren
Was gehört noch zu den Verbindungslinien zwischen Christa Wolf und dem Kino? Unbedingt einige Dokumentarfilme: 1976 porträ tierten Günter Jordan und Maxie Wander einen Kulturbundklub und seinen rührigen Leiter in Hoyerswerda – Christa Wolf kommentierte dessen Tätigkeit, indem sie ihre eigene Zuversicht artikulierte: „Dass man menschliche Beziehungen durch Kunst herstellen kann, das ist ja etwas, was wir immer behauptet haben. Und die haben das eben gemacht.“ Roland Steiners „Unsere Kinder“ (1988), in dem erstmals im DEFA-Film Neonazis, Punks, Grufties und andere „Außenseiter“ gezeigt wurden, schilderte Christa Wolf im Gespräch mit Skinheads: Signal für „die Hoffnung, dass die Ausgeflippten auf die richtige Bahn zurückfänden, wenn man ihre Gründe ernst nähme und mit ihnen diskutierte“ (Elke Schieber). Neben solch seltenen „Gastauftritten“ dauerte es bis 1990/91, bis Christa Wolf, der die DDR-Führung ihre selbstbewusst kritische Haltung im „Fall Biermann“ nie verzieh, endlich ein langes DEFA-Porträt gewidmet wurde: Karlheinz Munds „Zeitschleifen – Im Dialog mit Christa Wolf“.
Zu den Spuren zählt nicht zuletzt die Reflexion über Kino im literarischen Werk der Dichterin; etwa die Figur eines Filmregisseurs in dem unvollendeten Roman „Das Preisgericht“ (um 1965): ein Held, „der mit einem renommierten Preis ausgezeichnet wurde, der es aber satt hat, ‚Ideale‘ zu verfilmen, und nun lieber Dokumentarfilme drehen will. Zu diesem Sujet“, schreibt Jörg Magenau, „könnte Konrad Wolf animiert haben, der damals (...) entschlossen war, ohne den technischen Apparat zu arbeiten, den man als Filmregisseur braucht. Er wollte am liebsten nur mit einer Handkamera durch die Straßen ziehen und auffangen, was dort wirklich passierte“. Auch in den unlängst publizierten Tagebüchern „Ein Tag im Jahr 1960-2000“ gibt es Verweise auf Kino und Filmkunst, so auf den Eindruck, den Peter Steins „Sommergäste“ oder John Cassavetes’ „Ermordung eines chinesischen Buchmachers“ auf die Autorin machten. Nach Ansicht eines Fernsehporträts über Andrzej Wajda und seinen Film „Der Mann aus Eisen“ schrieb Christa Wolf ins Tagebuch: „Die polnischen Filmleute also endlich einmal Verbündete der Arbeiter. Dies wird es bei uns niemals geben.“ Ein Satz aus einer Zeit, als jeglicher Versuch undenkbar war, gemeinsam mit der DEFA oder dem DDR-Fernsehen einen neuen Anlauf zu gemeinsamer Arbeit zu wagen. Erst im Januar 1990 sendete das DDR-Fernsehen eine im Jahr zuvor gedrehte Adaption der Erzählung „Selbstversuch“ (Regie: Peter Vogel).
Wird man der Filmautorin Christa Wolf noch einmal im Kino begegnen? Derzeit ist zumindest eine Dokumentation der überlieferten Materialien zu „Fräulein Schmetterling“ in greifbare Nähe gerückt. Die DEFA-Stiftung und das Bundesarchiv-Filmarchiv in Berlin haben eine Sichtung und Aufarbeitung der in rund 200 Büchsen aufbewahrten Positiv- und Negativeinstellungen, Töne, Probeaufnahmen und Reste in Auftrag gegeben. Auch wenn aus diesem unvollendeten, vor allem beim Ton sehr lückenhaften Material nie ein „fertiger“ Film entstehen kann, so womöglich doch ein Dokument, das die Intentionen der Autorin und ihrer „Mitstreiter“ in der Aufbruchszeit um 1965 für heutige Zuschauer erfahrbar macht.
Ralf Schenk (filmdienst 5/2004)