„Ich war immer ein Spieler“
Die Wege des Filmemachers und Schriftstellers Egon Günther
von Michael Hanisch
Reminiszenz: Im März 1972 lief Egon Günthers Film "Der Dritte" in der DDR an. Schon Wochen zuvor hatte es sich herumgesprochen, daß dieser DEFA-Film ungewöhnlich sein solle. Das Interesse war deshalb auch bei den Journalisten sehr groß. Da eröffnete der damalige Chefdramaturg der DEFA die Pressekonferenz mit den Worten: "Also damit wir uns richtig verstehen: Wir haben kein Interesse daran, lauter kleine Egon Günthers heranzuziehen." Das Dilemma eines Kulturfunktionärs der DDR auf den Punkt gebracht. Da gab es nun endlich einen Film, der wahrscheinlich sowohl bei Kritik als auch Publikum starke Aufmerksamkeit erzielen würde, mit dem man vielleicht sogar auf einem wichtigen Filmfestival einen Preis erringen könnte, einen Film, der nicht verboten worden war - und dann sogleich den Dämpfer, damit der Jubel ja nicht allzu groß ausfalle...
Eigentlich paßt er sogar nicht in das Bild, das man gemeinhin vom Kino der DDR hat. Günthers Filme sind nicht betulich, nicht vordergründig aufklärerisch, der Moralist Günther versteckt sich gern hinter den vielfältigen, bunten Masken des Gauklers. Er liebt hin und wieder das Schrille, Unangepaßte, das Happening - Disparates, Gegensätzliches und Unvereinbares wird bei ihm immer wieder nebeneinander gestellt. Das mag ab und an die Grenze zum Manierismus überschreiten, doch diese ganz bewußten, gemeinhin Grenzüberschreitungen genannten Konfrontationen verstören den Zuschauer mitunter, regen ihn auf, provozieren zur Reflexion. Günther sucht die Unruhe, immer wieder versuchte er mit seiner Arbeit gegen die lähmende Friedhofsruhe des Landes DDR anzugehen. Permanente Verunsicherung der Adressaten seiner Filme, die Zerstörung von Selbszufriedenheit und Selbstgewißheit waren für ihn genauso Programm wie der ständige Versuch, sein Publikum zu spalten: "Ich will versuchen, Filme zu machen, die auffallen. Die sollen ruhig Fehler haben, aber nicht unaufrichtig, lau oder mittelmäßig sein."
Eigentlich scheinen die schrillen Filme Egon Günthers mit ihrer bunten Verspieltheit dem heutigen Zeitgeist mehr zu entsprechen als der vertrauten Tradition der DEFA. Nicht ohne Grund bekannte er später einmal, daß er mit Wolfgang Staudtes Filmen nicht so viel anfangen könne. Für ihn ist da noch viel zu viel Ufa-Ästhetik drin. Oder auch die Filme des italienischen Neorealismus, die eine ganze Generation ostdeutscher Filmemacher prägte. Für Günther bedeuteten die Arbeiten eines De Sica und Cesare Zavattini nicht die Offenbarung, die sie für die Kollegen einst ausmachten. Der allein mitleidsvolle Blick auf die Welt schien ihm suspekt. Allenfalls die Filme des Prager Frühlings gaben ihm später Anregungen, wenn überhaupt. Die meisten Anregungen bekam und bekommt er ohnehin weniger vom Kino als von der Literatur. Günther macht primär literarisches Kino - einerseits bedient er sich immer wieder großer literarischer Stoffe als Ausgangsbasis (immer und immer wieder kreisen Filme von ihm um den "großen Bescheidwisser aus Weimar"), andererseits übernimmt er auch bei seinen Originalstoffen mit Vorliebe literarische Strukturen und Formelemente. "Meinen Büchern merkt man an, daß der Autor Filme macht; und in meine Filme versuche ich Stilmittel zu übernehmen, die der Roman hervorgebracht hat." (1976). Eine Doppelbegabung - ähnlich dem Maler und Filmemacher Jürgen Böttcher/Strawalde - wie sie im deutschen Film so häufig nicht auftritt. Daß dieses Kino trotzdem der Kopflastigkeit deutscher Literaturadaptionen entbehrt, gehört zum Wunder dieser Filme.
Er paßt scheinbar so wenig in das vertraute Bild vom Kino der DDR. Auf der anderen Seite fühlt er sich dem mehr oder weniger aufdringlich vorgebrachten ethischen Anspruch dieser Filme, mit beizutragen an der Veränderung, der Verbesserung der Welt durchaus verbunden. Wie ein Motto haben Fred Gehler und Ullrich Kasten ihrem Fernsehporträt des Regisseurs "Rückkehr aus großer Entfernung" die von Günther selbst zitierten Worte aus seinem gleichnamigen Buch vorangestellt: "Oh, Film, du großer Entschleierer, gepriesen sei, daß du erfunden bist. Kannst ja mehr als die Leute unterhalten und ablenken. Oh, Film, du große Hure, die du die nicht sein müßtest." Rainer Werner Fassbinder nannte seinen Film über das Kino "Warnung vor einer heiligen Nutte". Gibt es Berührungspunkte zwischen Fassbinder und Egon Günther? Er paßt eigentlich so gar nicht in das etablierte, vertraute DEFA-Bild und leidet heute doch wie nur wenige seiner ehemaligen Kollegen unter dem Verschwinden dieses Studios.
Noch eine Reminiszenz: 1990 im Februar war's, während des Internationalen Forums des Jungen Films, wo ein ganzes Paket von Filmen der DEFA zu sehen war, die einst vom berüchtigten 11. Plenum der SED verboten worden waren - darunter Günthers Film "Wenn du groß bis, lieber Adam", seine zweite Regiearbeit. Der zweite eigene Film, die Stunde der Wahrheit für jeden Regisseur. Die DEFA und die Macher dieser Filme standen damals noch einmal im Zentrum der Aufmerksamkeit, sie fühlten sich zum ersten und letzten Mal als Gruppe mit gemeinsamen Erfahrungen, gemeinsamen Leid. Die Veranstalter des Forums betonten damals, daß es wohl das letzte Mal sei, daß man Filme aus der DDR zeige... Und in der Stunde der Euphorie war es Egon Günther, der an die Kollegen fast appellierte, die DEFA zu retten, so was wie eine Menschenkette um das Studio zu bilden. Die fast rührend zu nennende Illusion eines Filmemachers, seine berufliche Heimat vor den Realitäten des Kapitals zu schützen. Die Illusionen eines Unvernünftigen, der sich aufbäumt, der nicht bereit ist, sich den sogenannten Sachzwängen wehrlos zu beugen. Er dachte das für uns alle Unvorstell-, Unrealisierbare: Warum sollte es mitten im immer noch ungemein reichen Deutschland nicht möglich sein, daß Filmemacher in einem Studio über einen bestimmten Zeitraum hin unabhängig von ökonomischen Zwängen arbeiten und für das Land, die Gesellschaft etwas Nützliches, Wesentliches herstellen können, das sich nicht sogleich in Heller und Pfennig auszahlt? Die Träume eines deutschen Filmemachers in der hoffnungsvollen Wendezeit. Heute noch mehr als früher nennt Egon Günther den aus der DDR verjagten Philosophen Ernst Bloch seinen Lehrer.
Günter kam 1958 zur DEFA. Da hatte er bereits zwei Romane, ein Theaterstück und Gedichte veröffentlicht. In Babelsberg bekam er einen Vertrag als Dramaturg und Drehbuchautor. Doch in den frühen 60er Jahren fiel selbst denen, die nicht mit allen Personalia des DEFA-Studios für Spielfilme eng vertraut waren, sehr häufig jener Mann auf, der bei verschiedenen Produktionen ständig ganz dicht neben der Kamera hockte, und der nicht der Regisseur der entstehenden Filme war: Es war "nur" der Autor, der sich intensiv dafür interessierte, was aus seinem Buch wurde. Und so war es eigentlich nicht weiter verwunderlich, daß er - eigentlich Autodidakt der Regie - 1964 erstmals selbst für einen Film verantwortlich war: "Lots Weib", der Geschichte einer Frau, die nicht bereit war, Lüge und Heuchelei in ihrem privaten Leben einen Platz zu überlassen. Fünf Jahre hatte er zugeschaut, jetzt machte er es selbst. Und wie das Ergebnis bewies: Er machte es nicht schlecht. Schon "Lots Weib" ließ aufhorchen, da war ein neuer Ton zu vernehmen. Ein parteilicher Film - parteilich natürlich für die Frauen -, der viel sagte über die gar nicht so anderen Beziehungen zwischen Mann und Frau in dieser angeblich "neuen" DDR-Welt.
Günther kam von Brecht, Hemingway und Faulkner hatten ihn beeinflußt. Doch als er selbst Filme zu inszenieren begann, hatte er sich von Brechts theoretischen Ideen schon entfernt - ohne freilich so eine Brecht-Maxime wie "Macht doch aus einem kleinen Kreis von Kennern einen großen Kreis von Kennern" je wieder zu vergessen. Nach "Lots Weib" dann der Versuch, einmal etwas ganz anders zu machen, eine märchenhafte Parabel über den schwierigen Umgang mit der Wahrheit. Ein Märchen über die Abhängigkeit des privaten Glücks von der Haltung zu Lüge und Wahrheit im Leben sehr verschiedener Menschen. Das Verdikt der Kulturbürokratie folgte auf dem Fuße.
Und dieses aus heutiger Perspektive fast nur noch lächerliche Spiel zwischen den ängstlichen Kultur-Bestimmern im Lande und einem Regisseur, der sich einmischen wollte, der seine Sicht über die Verhältnisse im Lande kundtun wollte, begann. Man ließ es ihn schnell wissen: Entgegen allen öffentlichen Bekundungen war man nicht an derartigen Meinungsäußerungen interessiert. Im Gegenteil: Man hatte Angst vor ihnen. Drei Jahre lang mußte Günther auf einen neuen Regieauftrag warten, und dann dirigierte man ihn auf ein scheinbar "sicheres" Terrain: "Abschied", ein Film nach Johannes R. Bechers Roman, schien unverfänglich. Ein historischer Film nach einem Drehbuch von Günter Kunert. "Wir hatten uns redlich gemüht, unseren Kunstverstand zu beweisen und so wenig wie möglich Frechheiten zu vermeiden, als da waren: Liebesszenen als solche zu gestalten, an Obrigkeiten kein gutes Haar zu lassen, Wehrhaftigkeit zu veralbern, Lehrer als schnöde darzustellen, Schule überhaupt." (1996)
Das Unerwartete geschah: Auch dieser Film über den Abschied eines Bürgersohns im wilhelmischen Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg verletzte. Sogar die Frau des Allerobersten, Lotte Ulbricht, soll zur Besichtigung einiger Filmfotos schon gesagt haben: "Das soll unser Hans (Johannes R. Becher) sein?" "'Abschied' wurde nach einer Woche Laufzeit verboten, aus den Kinos gerissen, alle Standbilder wurden von den Kinos zurückbeordert, aus allen DEFA-Büros entfernt." (1996) Der Film hatte aber zuvor bereits das auch mit viel Geld verbundene Prädikat "Besonders wertvoll" erhalten - was den verantwortlichen Direktor der DEFA nicht daran hinderte, seinen eigenen, angenommenen Vorschlag der Prädikatisierung ein paar Tage später wieder zurückzunehmen und dem Film das Prädikat zu entziehen! Das lächerliche, Nerven und viele Kräfte aufzehrende Auf und Ab der Kulturpolitik, ein Spiel, bitter und verbissen geführt wie fast alles in dieser Republik.
Für die DEFA war Günther nach dieser Affäre zunächst einmal erledigt. Ein weiteres lächerliches Spiel - der unter der Oberfläche stets wogende Kampf DEFA contra Fernsehen - ermöglichte Günther jedoch ein Weiterarbeiten. Für das Fernsehen drehte er "Junge Frau von 1914" nach Arnold Zweig. Erstmals arbeitete er hier mit Jutta Hoffmann zusammen, eine außerordentlich fruchtbare Zusammenarbeit begann. Später folgte eine weitere Zweig-Adaption für das Fernsehen, "Erziehung vor Verdun". Man wollte ihn abdrängen auf das "historische Feld", nutzte seine Vorliebe für gute Literatur, um ihn von der Gegenwart fernzuhalten. Welch ein groteskes Vorgehen von Kulturfunktionären, die der Kunst in ihren Postulaten doch stets eine derart wichtige Rolle bei der Weiterentwicklung ihrer Gesellschaft einräumten! Egon Günther betonte jedoch immer wieder, daß Kino für ihn vor allem Gegenwart bedeute, er wollte etwas Nützliches über seine Gegenwart sagen, sich einmischen. Trotzdem sah er die ihm angebotenen historischen Stoffe dann nicht als Verlegenheitslösungen an, drehte keine "kostümierten Gegenwartsfilme", sondern versuchte fast immer mit Erfolg, diese Stoffe aus vergangenen Tagen ganz nah an den Zuschauer heranzuholen. Es mag nicht jedermann gefallen, manche mögen es als aufgesetzt empfinden, wenn der Schauspieler Klaus Piontek, Hauptdarsteller in "Erziehung vor Verdun", plötzlich in der Gegenwart durch die Reihen der Soldatengräber in Verdun schreitet, doch Günther versuchte u.a. auch auf diese Weise, diese Geschichte aus vergangenen Tagen so nah wie möglich in die Gegenwart zu ziehen.
"Kino ist für mich immer vor allem Gegenwart", bekennt der Regisseur in dem Porträt von Gehler/Kasten. Bedenkt man diese von ihm immer wieder betonte Maxime, so ist die relativ geringe Zahl seiner Gegenwartsfilme um so bezeichnender. Bezeichnend für die Situation des Filmemachers in der DDR und auch im neuen Deutschland. 1972 bzw. 1973 dann der Triumph mit den beiden Gegenwartsfilmen "Der Dritte" (wo die Partei schon wieder Angst hatte, daß Günther bei der DEFA "Schule" macht) und "Die Schlüssel". Letzterer, die Erfahrung eines jungen Paares aus der DDR im Krakau des Jahres 1972, wurde erst nach zahlreichen Zensurschnitten für die Aufführung in der DDR freigegeben. Das Exportverbot (d.h. auch Kündigung bereits unterschriebener Exportverträge und Rückzug von Festivals) blieb bestehen. (Zur Resonanz des Films in der DDR und den Zensurvorgängen vgl. "Kann denn Lüge Wahrheit sein? - Stereotypen im polnischen und deutschen Film", Kinemathek, Heft 87, Berlin 1995) Heute wird diese Sympathieerklärung an das "Anderssein" der Polen zu den besten Gegenwartsfilmen der DEFA gezählt.
Für Egon Günther bedeuteten die Vorgänge um "Die Schlüssel" das Ende des Themas Gegenwart für die DEFA. In Babelsberg entstanden in der Folgezeit "Lotte in Weimar" und "Die Leiden des jungen Werther". Danach bedeutete die Co-Produktion mit der Schweiz ("Ursula") den Abschied Günthers von seiner künstlerischen Heimat. Seit 1978 arbeitete der Regisseur im Westen. Daß er dort in diesen zwölf Jahren nie vollkommen zu Hause war, zeigen seine in Köln, Hamburg und München gedrehten Filme. Fernsehserien nach literarischen Vorlagen wie "Exil" (1978) und "Heimatmuseum" (1987) waren solide Arbeiten, die sich durchaus aus dem bundesdeutschen Fernsehalltag heraushoben, doch die Fernsehproduktionen "Mamas Geburtstag" (1984) und vor allem "Hanna von acht bis acht" (1983) zeigen, daß die bundesdeutsche Wirklichkeit für diesen Regisseur eine terra incognita war. Seine Filme waren "Draufsichten", blieben an der Oberfläche der Realität Bundesrepublik Deutschland. Egon Günthers Abschied von der DDR vollzog sich langsam, seine wirkliche Ankunft im Westen erfolgte nie. Auch wenn er später diese Filme als Happenings für große Schauspieler (Helmut Lohner bzw. Angelica Domröse) bezeichnete, die Entäuschung über diese Arbeiten war bei seinen Anhängern riesengroß.
Und dann kam die Wende. Noch einmal kehrte Günther in seinen alten, vertrauten Wirkungskreis zurück und drehte mit vielen seiner früheren Mitarbeiter in Babelsberg den "Post-DDR-Film" "Stein", einen sehr persönlichen, wehmütigen Abschied von der DDR, der allerdings nur noch auf wenig Resonanz bei den Menschen stieß, für die er vor allem gemacht war. Die, die ansonsten so lautstark ihre Identität zu schützen vorgeben, die gegen Straßenumbenennungen oder das Ende von Zeitschriften aufbegehren, die plötzlich Denkmäler und Paläste der DDR als Teil ihrer Identität ausgeben, ignorierten eine späte DEFA-Produktion wie Egon Günthers "Stein" fast völlig - wie alle in der Nachwendezeit gedrehten Babelsberger Produktionen.
1992 entstand Egon Günthers letzte Arbeit, "Lenz", eine deutsche Biografie des Scheiterns, ein historischer Film. Seit vielen Jahren trägt er sich mit dem Plan für einen Film über Nietzsche. Wer hat Interesse im neuen Deutschland an einem Film über den deutschen Philosophen? Ein Gegenwartsfilm von Egon Günther scheint nicht geplant. Das Schweigen eines Filmemachers, der sich immer wieder an den deutschen Verhältnissen reibt, der daran leidet, schmerzt.
Doch das bedeutet keinesfalls den Rückzug des Filmemachers und Schriftstellers Egon Günther aus der Öffentlichkeit. Er nimmt auf seine Weise teil an den Diskussionen, mischt sich ein, schreibt Artikel in verschiedenen Zeitschriften, reflektiert über das Scheitern der DDR - und geht viel ins Kino. Seine Haupttätigkeit aber ist seit Jahren schon die Arbeit an den Filmhochschulen in München und Babelsberg, wo "ich heute als Professor mit Lust lehre". (1996)
Egon Günther wurde am 30. März 70 Jahre. In dem Porträt des ORB sieht man ihn in seinem Haus bei Babelsberg hinter einer großen Fensterscheibe auf und ab gehend, voller Unruhe, wie einen unruhigen Tiger kurz vor dem Sprung...
Michael Hanisch (filmdienst 7/1997)