Auf Leben und Tod.
Der Filmregisseur Helmut Dziuba
von Ralf Schenk
Im Saal herrschte gespannte Aufmerksamkeit, was nicht unbedingt zu erwarten war. Denn die amerikanische Premiere von Helmut Dziubas Jugendfilm „Jana und Jan“ fand, im Oktober 1997, in einer Kleinstadt in Massachusetts statt, vor Dutzenden von Punks, die im Kino ein durchaus härteres Kaliber gewohnt sind. Doch die Reaktionen während der Vorführung und die Diskussion danach zeigten deutlich, wie ernst sich die Zuschauer genommen fühlten. Das Schicksal deutscher Altersgenossen bewegte sie tief; die spröde Machart des Films, die Arbeit mit ruppigen Laiendarstellern und der Verzicht auf ein Happy End kam, so hatte es den Anschein, ihren Vorstellungen von einem authentischen Kino jenseits von Hollywood ziemlich nahe.
Späte Rehabilitierung für einen in Deutschland weit unterschätzten Film? Wie auch immer: Als „Jana und Jan“ im Mai 1992 in Berlin uraufgeführt worden war, hatte sich kaum jemand dafür interessiert. Dziuba teilte damit das Los seiner Kollegen von der Defa, die das Ost-Publikum weitgehend verloren und ein gesamtdeutsches nicht gewonnen hatten. Die meisten der Babelsberger Nach-Wende-Produktionen verdienten das freilich auch nicht anders; aber Dziubas Arbeit ragte aus der allgemeinen cineastischen Misere doch heraus. Noch einmal bewegte sich der Regisseur auf vertrautem Terrain, erzählte eine ungewöhnliche, auf Existentielles zielende Liebesgeschichte zwischen jungen Menschen: dem 15jährigen Jan, der in ein Heim für straffällig gewordene Jugendliche eingewiesen wird, und Jana, die hier schon länger lebt. Um vor ihren Freundinnen prahlen zu können, will sie ihn verführen, doch wenig später wird aus dem Gaudium Ernst: Jana verliebt sich in den schweigsamen, rauhen Jungen, sie erwarten ein Kind. Eine Chance fürs Leben: Verantwortung als Hoffnung, selbst besser sein zu können als die Generation der Eltern. Jan: „Dann weiß ich endlich, warum ich auf der Welt bin.“
Helmut Dziuba machte aus dieser Geschichte keine bittersüße Romanze, sondern eine nachdenkliche Parabel auf die Unmöglichkeit einer „reinen“ Liebe in einer Umgebung, die auf Härte und Gehorsam ausgerichtet ist. Er inszenierte suggestive, zornige Szenen: Weil Liebe und Schwangerschaft im Ambiente des Jugendwerkhofs unerwünschte Ausnahmen bedeuten, rächen sich die anderen Mädchen mit Sticheleien und Brutalitäten – bis hin zur Rasur von Janas Schamhaaren, die der Film quälend lang vorführt. Als die DDR in den Wirren der Wende zerbröckelt, verlassen Jana und Jan ihr unwirtliches Domizil. Janas Wehen beginnen schließlich in einem Wachturm, die Kamera schwenkt über die öde Grenzlandschaft. Janas Schrei liegt über der nächtlichen Totale des Mauerstreifens. Die Frage, ob Mutter und Kind überleben, bleibt unbeantwortet. Dziuba entläßt seine Helden in eine fremde, kalte Welt, eine gewagte, vielsagende Metapher.
Die Grenzen des Möglichen
Seitdem hat der Regisseur keine Filme mehr drehen können. Diverse Angebote, Serienteile fürs Fernsehen zu machen, den „Bergdoktor“ etwa, schlug er aus: „Ich habe mich früher nicht verbiegen lassen, warum sollte ich es heute tun?“ Im Februar feierte er seinen 65. Geburtstag. Dziubas künstlerische Laufbahn hatte in Moskau begonnen, an der berühmten Filmhochschule WGIK, an der er 1953 immatrikuliert wurde. Zu wichtigen Lehrern wurden ihm Sergej Gerassimow und Michail Romm, der ihm unter anderem den Rat mit auf den Weg gab, immer wieder die Grenzen des Möglichen auszuschreiten und zu erweitern. Schon mit seinem ersten Spielfilm „Mohr und die Raben von London“ (1969) ließ er sich auf ein Wagnis ein: Nach Motiven eines in der DDR sehr bekannten Kinderbuchs erzählte er eine Episode aus dem englischen Alltag von Karl Marx, der eine anarchistische Jungenbande in „geordnete Bahnen“ beim Kampf gegen Kinderarbeit lenkt. Marx, gespielt von Alfred Müller, wurde nicht auf einem Denkmalsockel präsentiert, sondern auf den Boden einer um Authentizität und Spannung bemühten Handlung geholt. Der Versuch eines ambitionierten und zugleich publikumswirksamen Kinder- und Jugendfilms.
Mit wenigen Ausnahmen blieb Helmut Dziuba dieser Art Kino treu. Nach und nach erfüllte er ein ehrgeiziges Credo mit filmischen Inhalten: „Es gibt“, sagte Dziuba in einem Werkstattgespräch, „für Erwachsene und Kinder keine geteilte Welt. Deshalb veranschlage ich die philosophischen, ethischen und politischen Angebote eines Kinderfilms eher höher als niedrig. Ein Film, der jungen Zuschauern wahr und ernsthaft begegnet, kann starke Gefühle für oder gegen etwas wecken. Auf diesem Wege müssen sie lernen, Fragen zu stellen. Ich will zeigen, wie kompliziert es ist, in dieser Welt Zusammenhänge richtig zu erfassen. Und sich zu entscheiden. Denn beileibe nicht alles ist Schwarz und Weiß.“ Seine Geschichten, so Dziuba, sollten die Welt für junge Zuschauer durchschaubarer machen: „Sie können in der Gegenwart spielen, in den 20er Jahren, in der Zeit des Faschismus. Sie könnten auch mit Science-Fiction-Aspekten daherkommen. Es sind für mich immer Geschichten auf Leben und Tod, die aus einer außerordentlichen Situation, einer ungewöhnlichen Konstellation entstehen.“
In Dziubas besten Arbeiten erleben die Helden Augenblicke der Wahrheit, ihren Augenblick der Wahrheit. In „Rotschlipse“ (1978) hilft ein Berliner Junge unter gefahrvollen Umständen, einen Sabotageakt der SA gegen ein „rotes“ Ferienlager zu verhindern. In „Als Unku Edes Freundin war...“ (1981) muß Ede seine Freundschaft zu dem Sintimädchen Unku Ende der 20er Jahre gegen massive Widerstände verteidigen – ein Film gegen Rassismus und Fanatismus, übrigens die einzige Defa-Produktion, der sich mit der in der DDR weitgehend tabuisierten „Zigeuner-Problematik“ befaßt. In „Sabine Kleist, sieben Jahre...“ (1982) verläßt ein kleines Mädchen, das seine Eltern bei einem Autounfall verloren hat, heimlich das Waisenhaus, um draußen Liebe und Geborgenheit zu finden – Beginn einer mehrtägigen Odyssee, die wieder im Heim endet. „Jan auf der Zille“ (1986) beschreibt die Flucht eines 13jährigen vor faschistischen Häschern; ein Verräter, der ein Vertrauensverhältnis zu ihm aufbaut, wird von ihm schließlich getötet. „Verbotene Liebe“ (1989) skizziert die Liebe einer Minderjährigen zu einem nur wenig älteren Jungen, die sich gegen Eltern, Schulkameraden und Lehrer bewährt und noch vor den Schranken des Gerichts ungebrochen bleibt – für Dziuba ein Angebot an die Zuschauer, „Mut zu bewahren, sich gesellschaftlichen Zwängen zu widersetzen, sich untereinander solidarisch zu verhalten“. Zugleich wollte der Regisseur mit diesem Stoff, der im Studio drei Jahre auf eine Produktionsfreigabe wartete, Jugendlichen helfen, „die allein im Selbstmord die Lösung ihrer Konflikte sahen“ – auch das ein Tabuthema in der DDR.
Wert des filmischen Erzählens
Sowohl in seiner „proletarischen Trilogie“ „Rotschlipse“, „Als Unku Edes Freundin war“ und „Jan auf der Zille“ als auch in Gegenwartsarbeiten legte Helmut Dziuba Wert auf filmisches Erzählen. Besonders in seinem langjährigen Kameramann Helmut Bergmann, der vor wenigen Tagen starb (Nachruf folgt), fand er dafür einen kongenialen Partner. Gemeinsam brachen sie die für viele Defa-Produktionen kennzeichnende Dialoglastigkeit auf, suchten nach optischen Metaphern, mit denen sie Stimmungen transportierten – wie in der expressiven Ouvertüre von „Jan auf der Zille“: Hier flieht der Held vor seltsamen Schatten und bedrohlichen Geräuschen in dunklen Hinterhöfen. Von den Titelbildern gleichgeschalteter Nazi-Zeitungen blickt ihn der Steckbrief seines als Mörder gesuchten Vaters an. Später wird Jan in eine braune Uniform gezwängt und vor den Toren der Stadt, in einem Steinbruch, von anderen Hitlerjungen gezüchtigt: „Bei uns vergißt du Vater und Mutter!“
Ähnlich starke Bilder, bei denen kaum ein Wort fällt, finden sich in „Sabine Kleist, sieben Jahre...“ Unvergeßlich etwa die Szene, in der das einsame Mädchen einen polnischen Jungen tröstet, der mitten in Berlin seine Eltern verlor. Als dieser Film in die Kinos kam, hoben Kritiker in Ost und West zu Elogen auf Dziubas Arbeit mit Kinderdarstellern an. Worin lag deren Geheimnis? Abgesehen von einem umfangreichen Casting hatte es sich der Regisseur zum Prinzip gemacht, die Charaktere der jungen Akteure „nicht nach dem Drehbuch umbiegen zu wollen“. Vielmehr sollten sich die Filmfiguren dem Charakter des jeweiligen Darstellers, seiner Persönlichkeit, seinen Auffassungen von der Geschichte unterordnen. Diesem Prinzip folgte Dziuba bereits während der Probeaufnahmen: „Ich mache die jungen Darsteller nur mit Situationen aus dem Buch vertraut, die mir wichtig sind. Diese sollen sie dann in einem Etüdenspiel nachempfinden, auf eine Weise, die nur ihnen eigen ist. So lerne ich auch die Grenzen ihrer Möglichkeiten kennen. Im übrigen werden auch Kinder vom gesamten professionellen Drehstab als vollwertige Partner behandelt. Anders geht es nicht.“
Moralische Defizite aufzeigen
Partnerschaft, Ernsthaftigkeit, Ehrlichkeit und Vertrauen gehören zu den Schlüsselworten des Philanthropen Dziuba. Ehrlich war er immer auch gegenüber der DDR, die er, wie viele Intellektuelle, durchaus als seinen Staat ansah – was für ihn zunehmend einschloß, auf moralische Defizite hinzuweisen. So drehte er 1984 nach der Erzählung von Gerhard Holtz-Baumert den Film „Erscheinen Pflicht“, die Geschichte der 15jährigen Elisabeth, die nach dem frühen Tod ihres Vaters, eines Parteifunktionärs, nach ihrem – nunmehr unbehüteten – Platz in der Gesellschaft suchen muß. Der Film sollte mit zahlreichen Kopien starten, galt über Nacht aber plötzlich als bedrohlich für Partei und Staat. Dziuba hatte sich, trotz eines insgesamt versöhnlichen Gestus, mit einigen Szenen zu weit vorgewagt. So zeigte er unter anderem, wie betrunkene Männer eine Fahne der DDR-Jugendorganisation FDJ aus der Berliner S-Bahn zu werfen drohen. Daß sich unter diesen Rowdys ausgerechnet ein Bauarbeiter und ein Soldat befanden, Mitglieder der „herrschenden Klasse“ also, versetzte einige „führende Genossen“ in helle Aufregung. Von anderen, die sich keine Blöße geben wollen, wurde das geforderte Verbot gerade noch abgebogen. Aber „Erscheinen Pflicht“ kam äußerst schaumgebremst auf die Leinwand: Die Publikumsjury beim Spielfilmfestival in Karl-Marx-Stadt wurde unter massivem Druck gezwungen, Dziubas Arbeit nicht mit dem vorgesehenen Preis zu ehren. Der Verleih setzte den Film fast ohne Werbung und nur in kleinen Kinos ein. Jeder SED-Bezirkssekretär sollte selbst entscheiden – je nach „politischer Lage“ –, ob „Erscheinen Pflicht“ in seinem Territorium gezeigt werden könne. Das Fernsehen der DDR verkniff sich bis 1990 eine Ausstrahlung. Der Chefredakteur der Fachzeitschrift „Film und Fernsehen“ versteckte die vorbereiteten Interview-Seiten und zwei positive Kritiken im Tresor, wo sie bis 1990 wohlverwahrt lagerten. Und die Parteipresse charakterisierte den Film als realitätsfern, resignativ und mit Metaphern behaftet, „die einen Generationskonflikt suggerieren wollen“. Scharfe Geschütze gegen einen Versuch von mehr Wahrhaftigkeit.
Helmut Dziuba litt sehr unter solcher Ignoranz und Borniertheit. „Ich hatte“, sagte er später, „der Gesellschaft einen inneren Reifegrad zugesprochen, den sie nicht bestätigte.“ Trotz eines Herzinfarkts weigerte er sich, klein beizugeben. Zum Glück muß man heute sagen – denn gerade auch die Arbeiten, die er in den späten 80er Jahren inszenierte, gehören heute unzweifelhaft zum „Goldenen Fonds“ der nunmehr gesamtdeutschen Jugendfilm-Historie.
Ralf Schenk (filmdienst 7/1998)