Gewalt und Zärtlichkeit.
Zwei deutsche Stars: Angelica Domröse und Hilmar Thate
von Ralf Schenk
Stellen Sie sich vor, Catherine Deneuve oder Michel Piccoli wären im Kino nicht mehr zu sehen. Undenkbar, werden Sie sagen, und tatsächlich scheint diese Idee ziemlich absurd. Zumindest für französische Verhältnisse. In Deutschland hingegen ist es ganz normal, dass älter werdende Stars urplötzlich von der Leinwand verschwinden und keine Chance mehr bekommen, sich im Gedächtnis jüngerer Generationen mit neuen Rollen festzusetzen. Das deutsche Kino ist vergesslich, schnelllebig, jugendkultig und weitgehend ohne Gespür für Traditionen, Wurzeln, die eigene Historie. Diese Haltung, nicht zuletzt ein Zeichen von Ignoranz, rächt sich Jahr für Jahr durch eine Fülle unausgegorener „Neuanfänge“, die sich viel auf ihre „Hippigkeit“ einbilden, aber weitgehend ohne Tiefe und ohne Geist sind. Da schließt sich der Kreis: Für diese Filme stünden Angelica Domröse und ihr Lebenspartner Hilmar Thate, selbst wenn sie gefragt würden, nämlich nicht zur Verfügung.
Dennoch haben Domröse und Thate, die beide in diesem Monat Geburtstag feiern - sie feierte ihren 60. bereits am 4. April, er wird seinen 70. am 17. April begehen - , die Hoffnung auf große Filmrollen nicht begraben. Wer sie unlängst in der Berliner Komödie am Kudamm im Theaterstück „Josef und Maria“ gesehen hat, weiß um ihre ungebremste Kraft und Spiellaune: Mit ein paar Augenaufschlägen, ein paar Gesten vermögen sie ein ganzes Leben zu zeichnen. Hilmar Thate bekam 1999 die Chance, nach langer Pause auch im Kino wieder von sich reden zu machen: In „Wege in die Nacht“ (Regie: Andreas Kleinert) spielte er einen ehemaligen DDR-Betriebsdirektor, der nach dem Mauerfall vorzeitig aufs Altenteil gesetzt und zur Gartenarbeit verdammt wurde. Eine gespaltene, widersprüchliche, harte Figur, die der Darsteller fast wortlos umriss: mit undurchdringlichem Blick, zu keinem Lächeln fähig, ein „Outlaw“ wie im Western. Ein Mann, den der Bruch in seiner Biografie zum Wahnsinn treibt: Er selbst glaubt, Recht und Gesetz zu sein, weil er nur noch an sich selbst glaubt.
Zwiespältig, geheimnisvoll
Thates Charaktere, vor allem die der späteren Zeit, changieren oft zwischen Gewalt und Zärtlichkeit. Viele seiner Figuren bergen Geheimnisse, die nicht auf den ersten Blick zu entschlüsseln sind. In „Engel aus Eisen“ (1979) beispielsweise war er der Gönner eines jungen Kriminellen im Berlin des Jahres 1948: eine doppelbödige Gestalt, energisch in sich gekehrt, ein Nachfahr von Peter Lorre („M“). Sein Völpel, Aktenträger bei der Polizei, war unmittelbar nach dem Krieg als Henker von Nazi-Verbrechern tätig. Jetzt sehnt er sich nach einem wie immer gearteten „Aufstieg“, einem Ausbruch, einem finanziell gepolsterten Abschied von Berlin. In Werner Gladow, dem kindlichen Gangster, findet er sein Medium: Er liefert ihm Tipps, und der Junge nutzt sie gnadenlos aus. Wie später in „Wege in die Nacht“ führt Thate eine geballte Energie vor, die ins Zerstörerische mündet.
Das Zwiespältige, Geheimnisvolle, die nur mühsam im Zaum gehaltene Gewalt hat sich Thate freilich erst im Laufe seiner Filmkarriere erarbeitet; und ohne seine großen Theaterrollen, etwa Aufidius in „Coriolan“ oder Richard III., wäre es nicht denkbar. In seiner Kino-Frühzeit gab Thate dagegen mehr den Aufrechten, Geradlinigen: In Konrad Wolfs DEFA-Debütfilm, der musikalischen Komödie „Einmal ist keinmal“ (1955), agierte er als Mitglied einer singenden FDJ-Jugendgruppe, in Kurt Maetzigs und Günter Reischs „Lied der Matrosen“ (1958) spielte er einen kommunistischen Funker, der sich mit seinen Freunden gegen Kaiser und Krieg auflehnt. Zum wichtigsten Film jener Jahre wurde Gerhard Kleins „Der Fall Gleiwitz“ (1961): Thate war als namenloser KZ-Häftling zu sehen, dem SS-Leute die Hände fesseln und die Augen verbinden, um ihn später in eine falsche – polnische – Uniform zu stecken, zu erschießen und die Leiche an den Eingang des Senders Gleiwitz zu legen (so wurde ein Vorwand für die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs geschaffen). Für Hilmar Thate war diese stumme Figur eine außerordentliche Herausforderung: In seiner Bewegungsfreiheit als Schauspieler eingeschränkt, ohne Blickkontakt zum Publikum, zeigte er die Gefühlswelt seiner Figur mit sparsamsten Mitteln und doch voller Intensität: Würde, Bedrückung, Angst, Schmerz.
Später holte ihn Konrad Wolf für mittlere Aufgaben in „Professor Mamlock“ (1961) und „Der geteilte Himmel“ (1964), aber erst Siegfried Kühn betraute Thate wieder mit zwei Hauptrollen: In „Wahlverwandtschaften“ (1974) spielt er den Adligen Eduard, der seine Frau verlässt, um mit einer Jüngeren zu leben, in einer Mischung aus Sinnlichkeit, Herbheit, Egoismus und Eleganz: ein Mann, verstrickt ins Geflecht zwischen Pflicht und Lust, eine moderne Auslegung der Goethe-Figur. Erotisches Verlangen, Besitzanspruch und das Spiel mit der Liebe wurden dann auch für seinen Opernregisseur Wischnewski zur Obsession: Mit dieser Rolle, einer Paraphrase auf Mozarts „Don Giovanni“, verabschiedete sich Hilmar Thate 1979 von der DEFA und der DDR.
Von seinen späteren Kinoaufgaben bleibt neben den Filmen von Thomas Brasch und Andreas Kleinert vor allem „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ (1982) in Erinnerung: Rainer Werner Fassbinder besetzte Thate als Münchner Sportreporter Robert Krohn, der eine verhängnisvolle Liaison mit einer alternden Schauspielerin beginnt. Wie das gesamte Figurenensemble sah Fassbinder auch Krohn als einen Ausdruck für den Irrweg der westdeutschen Gesellschaft in den 50er-Jahren: Obwohl der Journalist die Machenschaften einer Ärztin entdeckt, die wohlhabende Patienten in den Tod lockt und sich an ihrem Erbe bereichert, erkennt er keine Chance, dagegen vorzugehen. Am Schluss kehrt Krohn, den Thate als weichen, gutwilligen, etwas naiven Mann spielt, ins Sportstadion zurück: die Flucht eines Helden, der seine Machtlosigkeit mehr erfühlt als begreift.
Zart, verletzlich, hochsensibel
Einige Male Mal standen Hilmar Thate und Angelica Domröse gemeinsam vor der Kamera, etwa in Horst Seemanns historischem, von 1918 bis 1945 reichendem Bilderbogen „Fleur Lafontaine“ (1977) oder in Detlef Rönfeldts Kammerspiel „Hurenglück“ (1990). In beiden Filmen prallten diametral entgegengesetzte Welten aufeinander: Domröse als lebensgierige Fleur, die zwischen den Männern umher flattert und existenzielle Untiefen aushalten muss – Thate als stabiler, lauterer Kommunist Philipp, der ihr einen Weg aus der Krise bahnen will, aber ihr viel zu geradlinig erscheint. In „Hurenglück“ dringt er als egoistischer, brutaler Zuhälter in ihre Wohnung ein, verlangt Geld und droht, ihren behinderten Sohn zu quälen. Mit teuflischem Grinsen rückt er der ehemaligen Prostituierten zu Leibe, bis sich – in der kalten, winterlichen Landschaft – Schuld und Sühne verflechten: Die Gegenwehr der trotz alter Narben und neuer Verletzungen durchaus nicht hilflosen Frau erfordert schließlich mehr Opfer als gedacht. Während sie sich in einer Großaufnahme vor dem Spiegel abschminkt (ein typisches Domröse-Motiv), geschieht das Unfassbare.
Angelica Domröse trat 1959 zum ersten Mal im Kino auf. Als Siebzehnjährige geriet sie über eine Zeitungsannonce zur DEFA und wurde von Regisseur Slatan Dudow mit einer Hauptrolle in der Gegenwartskomödie „Verwirrung der Liebe“ betraut: Zu spielen hatte sie einen Backfisch namens Siegi, der sich nicht zwischen zwei Männern, einem handfesten Maurer und einem etwas flatterhaften Medizinstudenten, entscheiden kann. Die Domröse, damals noch vor dem Studium, absolvierte diese Rolle mit naiver Natürlichkeit. Ihre filmische Reifeprüfung legte die inzwischen ans Berliner Ensemble engagierte Darstellerin freilich fünf Jahre später ab: In „Chronik eines Mordes“ (Regie: Joachim Hasler) nach dem Roman „Die Jünger Jesu“ von Leonhard Frank gestaltete sie die Lebens- und Leidensgeschichte einer jungen Jüdin, die in ein Wehrmachtsbordell verschleppt wird und nach ihrer Rückkehr miterlebt, wie der Mörder ihrer Eltern zum neuen Bürgermeister der westdeutschen Kleinstadt aufsteigt. Die Domröse – zart, verletzlich, hochsensibel – verweigert ihrer Figur jede Art von Triumphgefühl, wenn sie den Emporkömmling in einem Akt der Selbstjustiz erschießt. Stattdessen wird die Verzweiflung einer durch die Hölle gegangenen Frau deutlich, die nicht mit ansehen kann, wie sich der alte Antisemitismus unter dem Mantel des Schweigens neu erhebt. Mord als einziger Ausweg, um Gerechtigkeit durchzusetzen und der inneren Starre zu begegnen – eine bis heute ebenso streitbare wie sehenswerte Figur.
Kein Zweifel aber, dass die Kinokarriere von Angelica Domröse und ihr Erfolg beim großen Publikum vor allem mit dem Namen des Regisseurs Heiner Carow verbunden ist. Sein Film „Die Legende von Paul und Paula“ (1973) avancierte zum Film ihres Lebens. Erzählt wird von der Liebe einer ledigen Verkäuferin zu einem verheirateten, saturierten Staatsangestellten. Paula, von zwei Männern enttäuscht und mit zwei Kindern allein, kämpft um ihr Glück. Als sie Paul kennen lernt, der in einem Neubaublock gegenüber ihrem Altbau wohnt, brechen ihre Verkrustungen auf. Angelica Domröse führt das in prallen, burlesken Szenen vor: Plötzlich bedient sie ihre Kunden in der Kaufhalle nicht mehr mürrisch und verbissen, sondern mit jener natürlichen Freundlichkeit, die sie unter einer Abwehrschale versteckt gehalten hatte. Sie träumt von sich und ihrem Geliebten, sieht beide in einem Boot auf der Spree, eine Flussfahrt der Seligkeit. Dann pellt sie ihn, auf dem Bett knieend und mit Blumen im Haar, aus der Kampfgruppen-Uniform: eine Szene, in der der prüde, bisweilen militärisch organisierte „reale Sozialismus“ gleichsam auf die Hippie-Bewegung trifft – und von ihr besiegt wird. Faszinierend der rigorose Glücksanspruch der Heldin, ihr vehement vorgetragenes Plädoyer für die Selbstbestimmung des Einzelnen.
An diese Figur knüpften Carow und Angelica Domröse 1991 noch einmal an, als sie in Babelsberg „Verfehlung“ drehten, einen lauten, zornigen, bisweilen grotesken Abschied sowohl von der DDR als auch von eigenen politischen Illusionen. Carow besetzte Angelica Domröse als Elisabeth, allein stehende Mutter und Putzfrau beim Bürgermeister eines Dorfes, das der Braunkohle weichen muss. Eine unwirtliche Gegend, eine Landschaft in der Agonie, ein allegorischer Schauplatz. Auch die Handlung war gleichnishaft: Elisabeth, die sich politisch nicht engagiert und sich ganz auf ihre Familie konzentriert, kommt mit dem Staat in Konflikt, als sie sich in einen Hafenarbeiter aus Hamburg verliebt. Die Domröse, eine „Paula mit fünfzig“ (Carow), überzeugt besonders in den leisen Momenten: den langen Blicken in den Spiegel, dem Warten auf den Mann von „drüben“, dem Grübeln über vertane Chancen und über die Möglichkeit, doch noch einmal das Glück festzuhalten.
Für „Verfehlung“, der tragisch endet, war die Darstellerin nach über einem Jahrzehnt in den Osten, zur DEFA zurückgekehrt. Das Aufbrechen alter Wunden und die persönlichen Irritationen, die damit verbunden waren, kamen der Rolle zugute: Der Abstand von der DDR und die plötzliche neue Nähe trugen zu spröder Distanz und zugleich tiefer innerer Beteiligung bei. Und obwohl der Film damals kaum wahrgenommen wurde, dürfte er als künstlerisch verdichtetes Zeugnis einer Umbruchszeit von bleibendem Wert sein.
Ralf Schenk (filmdienst 8/2001)