Frühzeitig vergriffen.
Dokumentation „Babelsberg – Ein Filmstudio 1912-1992“
von Martin Fuchs
Das gab es bisher noch während keiner der Retrospektiven der Berliner Filmfestspiele, daß die zu den filmhistorischen Rückblicken vorgelegten Dokumentationen bereits während des Festivals vergriffen sind. 1992 war dies - zur Überraschung wie zur Freude der Herausgeber, der Stiftung Deutsche Kinemathek, wie wohl auch des Verlags - zu konstatieren. Zwar waren auch in früheren Jahren - die Deutsche Kinemathek betreut die Retrospektiven der Berliner Filmfestspiele seit 1977 - schon Neuauflagen nötig (so bei den Publikationen über die "Special Effects", über "3 D" sowie über die Themen "Zensur" und "Kalter Krieg"), daß jedoch alle 2.000 Bände bereits während des Festivals verkauft und vergeben waren, das war für alle Beteiligten eine neue Erfahrung. Weitere 2.000 Bücher sollen nun die Bestände der Buchhandlungen wie auch der DEFA, die die Dokumentation an die Besucher ihres Studiogeländes verkauft, auffrischen. Das ist insgesamt ein beachtlicher Erfolg, den viele, auch gute und preiswerte Filmpublikationen zur Zeit nur selten aufzuweisen haben. Woran mag dieses unerwartet positive Echo der interesssierten Leser liegen, die sich auch von dem relativ hohen Preis nicht haben abschrecken lassen?
Zum einen, ohne Zweifel, an der Seriosität der Dokumentation, die jeglichen Kulissenklatsch vermieden hat, zum anderen wohl aber auch am Thema selbst: Durch die politische Wende in der ehemaligen DDR waren auch die DEFA und ihre Studios in dem Potsdamer Vorort Babelsberg nicht nur ins Gerede, sondern vor allem auch wieder ins allgemeine Bewußtsein gelangt. Die Entlassungen unter den einstigen Mitarbeitern der DEFA, die Mutmaßungen über Privatisierung und Verkauf der einstmals staatlichen Filmgesellschaft der DDR und des dazugehörigen Areals, die bis zur Stunde ja immer noch keine Lösung gefunden haben, erregten eben nicht nur bei Filminteressierten Aufmerksamkeit. Darüber bietet die Dokumentation - was eine ihrer größten Vorzüge ist - nicht allein die Geschichte einer Produktionsstätte und eine Übersicht über die dort entstandenen Filme, sondern vermittelt gleichzeitig einen Einblick in Zeitgeschichte und Kulturpolitik, in wirtschaftliche Zusammenhänge und politische Zwänge unter zwei Diktaturen, die die Babelsberger Ateliers und deren Produktionen in nicht geringem Maße als Aushängeschild (und, nicht ganz nebenbei, als Mittel ihrer Propaganda) nutzten. Um die Filmstadt Babelsberg hat sich ein Mythos gebildet.
Und diesen Mythos zu entkräften, ließen sich die Herausgeber und ihre Autoren angelegen sein: Mit akribischer Nüchternheit und historischer Unbestechlichkeit gingen sie zu Werke, als sie - in chronologischer Folge - sich die Geschichte des Studios in weitestem Sinne erarbeiteten und sie unter verschiedenen Aspekten interpretierten. Die frühen Jahre zwischen 1912 und 1920, die bedeutsame Entwicklung der Studios bis hin zur Entwicklung des Tonfilms, die Zeit der NS-Diktatur wie die Epoche der DEFA-Filmstadt werden insgesamt lebendig, wobei die technischen Voraussetzungen, die architektonischen und ästhetischen Entwicklungen, die dramaturgischen Gesichtspunkte, die politischen Einflüsse erkennbar werden, erkennbar in zeitgenössischen Beiträgen (etwa von Polgar und Kracauer, Haas und Muschg), in historischen Dokumenten (aus den Beständen des Bundesarchivs, des ehemaligen Staatlichen Filmarchivs der DDR, aus den Protokollen der Ufa-Vorstandssitzungen wie auch aus dem Betriebsarchiv der DEFA) und in kritischen Auseinandersetzungen aus heutiger Sicht, zu deren Autoren Filmhistoriker aus den alten wie den neuen Bundesländern gehören. Ihre Essays werden durch Randbemerkungen mit historischen Informationen ergänzt und durch eine Fülle von Fotos illustriert, wobei die Bilder nicht Selbstzweck sind, sondern als zeitgeschichtliche Beweisstücke gelten müssen. 19 Autoren schufen eine Dokumentation, die über das Porträt einer Filmstadt hinausreichen, die ein Stück deutscher Filmgeschichte in all ihren Zusammenhängen, Verwicklungen, Verhinderungen und Hoffnungen zum Thema hat, ergänzt durch eine, chronologisch zusammengestellte Titelliste aller in Babelsberg realisierter Produktionen - und das sind, will man den Historikern vertrauen, seit dem Auftakt am 12. Februar 1912 mit Urban Gads "Totentanz" bis zum Frühjahr 1992 immerhin nicht weniger als rund 1700 Filme. Der kritische Blick der Autoren, die Fülle des historischen Materials, die themenübergreifende Darstellung von 80 Jahren deutscher Filmgeschichte mag in nicht geringem Maße den Erfolg dieser Dokumentation erklären.
Martin Fuchs (filmdienst 9/1992)