Filmstill zu "Lotte in Weimar"

Mit ganzer Leidenschaft.

Der Schauspieler Kurt Böwe

von Ralf Schenk


Sein Einkaufsbeutel ist aus einem Material, das man im Westen nicht kennt. „Dederon“ nannten es die Erfinder, die ostdeutsche Variante des westdeutschen Perlon – ein Kunstwort, in dem das Kürzel des Staats verarbeitet worden war: DDR. Noch heute sieht man den Schauspieler Kurt Böwe gelegentlich mit einem solchen Beutel durch die Straßen von Berlin schlurfen. Auch im Film trägt er das gute Stück mit sich herum: als Groth in der Fernsehreihe „Polizeiruf 110“. Der Beutel als Symbol und Bekenntnis: Ich komme aus dem Osten, und ich will, daß ihr das wißt.

Böwe wurde vor 70 Jahren in einem Landstrich geboren, der ihm solche Direktheit, Hartnäckigkeit, ja Sturheit geradezu in die Wiege legte: Mark Brandenburg, Kreis Perleberg. Er stammt aus einer Bauernfamilie, ist eins von sieben Kindern. Der Deutschlehrer brachte ihm Literatur und Theater nahe. Mit 20 Jahren – die Geschwister schüttelten den Kopf – stand Böwe vor der Prüfungskommission des Deutschen Theaters Berlin und wurde zur Ausbildung zugelassen. Nach einem Umweg über die Wissenschaft spielte er dann tatsächlich, ab 1961 auf der Bühne und im Fernsehen, ab 1963 auch im Kinofilm. Dort ließen die großen Rollen zunächst auf sich warten. Knapp 30 Jahre später, als die DEFA abgewickelt wurde, gehörte Kurt Böwe längst zu ihren Konstanten, ihren Stars. Seinetwegen ist man in der DDR ins Kino gegangen; wo Böwe drauf stand, konnte nichts Schlechtes drin sein.

Herztöne

Dabei hatte sein erster großer Film durchaus nicht den Erfolg, der ihm zu wünschen gewesen wäre: „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“ (1974), Regie: Konrad Wolf. Der Held, Bildhauer Kemmel, von Böwe gespielt: ein Künstler in einer Schaffens- und Lebenskrise. Die Porträtplastik eines Arbeiters, der ihm Modell sitzt, mißlingt. Das Relief für ein Dorf wird in einer Scheune abgestellt; man will es nicht. Alte Freunde aus dem Heimatort blicken die Figur des nackten Läufers, die er für ihren Sportplatz geschaffen hat, hilflos an. Auch die Ehe gerät in eine schwierige Phase; da ist eine Geliebte, die Frau spürt die zunehmende Entfernung. Überhaupt scheint alles enger zu werden: der Alltag wirft seine langen, grauen Schatten; die Langeweile, die den Künstler umgibt, bedroht seine Kreativität. Woher die Kraft nehmen, um schöpferisch tätig zu sein? „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“ bot Kurt Böwe kaum Gelegenheit zu forcierten Auftritten; statt dessen dominiert eine nachdenkliche Stille. Böwe kroch förmlich in sich hinein, lauschte den Tönen seines Herzens, seines Gewissens nach. Während der Dreharbeiten führte er Tagebuch: „In meinem Spiel immer noch Zeichen von Grobheit, die diese doch eher zarte Kemmel-Figur beeinträchtigen. Es muß mir gelingen, meine Seele weich zu machen.“

Andere Rollen sind deftiger, derber, polternder. Böwe als bildfüllender Komödiant, Freund von Slapstick, Gags und großen Worten. In der satirischen Posse „Zünd an, es kommt die Feuerwehr“ (1978) spielt er einen Wirt, dessen Gasthaus von befreundeten Brandschützern angezündet werden soll; sie wollen ihm helfen, eine fehlende Versicherungspolice zu kaschieren. In „Automärchen“ (1983) ist er in einer Doppelrolle zu sehen: als Kraftfahrzeugschlosser und als Gespenst namens „Autounglück“, das Unfälle herbeiführt. Böwe gibt die irdische Figur schnauzbärtig, bieder, arbeitsam und mürrisch über das Auftauchen eines leibhaftigen Gespenstes. Der geisterhaft bleiche Widerpart erscheint dagegen quirlig, mit Raffzähnen und schmuddeligem Charme. Ihren Kampf ums Auto macht der Schauspieler zu einem absurden Wettlauf mit kabarettistischen Zügen: Das Gespenst muß „den Plan“ erfüllen, der im „von oben“ diktiert wurde, während der ehrliche Kraftfahrzeugschlosser sich gegen sein Portemonnaie entscheidet und die Unfälle zu verhindern versucht.

Mehr als Kunst

Als das „Automärchen“ entstand, war ein anderer Böwe-Film gerade verboten worden: „Jadup und Boel“ (Regie: Rainer Simon). 1980/81 gedreht, wurde er erst sieben Jahre später freigegeben, und wer an der denkwürdigen Premiere im Berliner Filmkunsthaus „Babylon“ teilgenommen hat, dürfte den Auftritt Kurt Böwes während der nachfolgenden Diskussion nicht vergessen haben. Der Akteur war von einer Vorstellung des Deutschen Theaters direkt ins Kino geeilt, stiefelte schnurstracks auf die Bühne und hielt eine minutenlange improvisierte Rede. Darin ging es um viel mehr als nur um Kunst: um Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, die Borniertheiten der Politik und die von Gorbatschow eröffnete Chance, auch die DDR zu reformieren. Tosender Beifall, in dem sich Böwe sichtlich sonnte. Er hatte aber auch allen Grund, denn „Jadup und Boel“ gehörte zu den mutigsten gegenwartskritischen Arbeiten, die je bei der DEFA entstanden. Böwe ist darin als Jadup zu sehen, als Bürgermeister einer kleinen ostdeutschen Stadt, der über sein Leben nachzudenken beginnt: kleine und große Lügen, Bequemlichkeit und Opportunismus, Dummheit und Egoismus. Der Film stellt ihn in ein Geflecht gesellschaftlicher Beziehungen: Zu Beginn turnt er an deren Oberfläche, doch zunehmend brechen die Gräben in seinem Inneren auf. Er blickt hinter die Masken seiner Mitmenschen – und hinter die eigene. Böwe spielt, wie immer, mit ganzer Leidenschaft. Aber es scheint, als habe der Stoff ihn bewogen, völlig in dieser Rolle aufzugehen, das eigene politische Erwachen mit Hilfe dieser Figur transparent zu machen, gleichsam eine Art autobiografisches Bekenntnis abzulegen. Vom gutwillig-naiven Mitläufer zum engagierten Kritiker. Wieder, wie in „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“, darf Böwe im Film ausgiebig grübeln. Doch das Ergebnis seines Nachdenkens mündet hier in starke, offene Worte. Zu den wichtigsten Szenen gehört die Rede, die Jadup vor Jugendlichen hält. Böwe beginnt leise, fast wie in einem Zwiegespräch mit sich selbst, dann hebt seine voluminöse Stimme zu einem mahnenden Appell an: „Hütet euch davor, alle Fragen endgültig lösen zu wollen. Es bliebe ja dann nur Stillstand und Tod. Ich glaube, daß unser aller Schicksal mit Menschen verknüpft ist, für die man bürgen kann, daß sie kein Wort auf Treu und Glauben hinnehmen, kein Wort gegen ihr Gewissen sagen werden.“ Nach dieser Rede gab es in den Kinos der DDR Szenenbeifall; ostdeutsche Zeitschriften druckten sie ab.

Kurt Böwe steht dank seiner Statur und Physiognomie in der Nachfolge großer deutscher Schauspielerpatriarchen: Heinrich George, Eugen Klöpfer oder Willy A. Kleinau. Auch im Film ist er ein Meister des Ambivalenten, Zwiespältigen, verkörperte joviale Herrscher mit pechschwarzen Flecken auf den Westen. In Roland Gräfs „Märkische Forschungen“ (1982) nutzte Böwe die Chance, einem solchen Typus neues Profil zu geben. Seine Figur: Professor Winfried Menzel, betuchter Chef eines Literaturinstituts, ausgewiesener Kenner eines märkisch-jakobinischen Dichters. Sein Gegenpart: ein Landlehrer, der sich ebenfalls auf die Spuren des Dichters begeben und herausgefunden hat, daß dieser sich in seinem Alter von den früheren revolutionären Gesinnungen lossagte. Der Lehrer bleibt bei dieser Wahrheit, auch als der Professor ihn bedroht, weil er sein 600 Seiten starkes Jubelwerk in Gefahr sieht. Schon der Habitus der Figuren assoziiert einen Kampf zwischen David und Goliath: Hermann Beyer als Lehrer ist schmächtig, wuselig, geduckt – und dennoch sehr viel aufrechter als der besitzergreifende Menzel. Böwe verkörpert gleichsam die Generation der etablierten 50jährigen: „Hinter allem Wortgebraus“, hieß es in einer Kritik enthusiastisch, „hinter allem Schwall gepflegter Phrasen verbirgt sich der karrieregeile Egoist, der macht- und einflußlüsterne Kleinbürger. Die Maske fällt nur dann, wenn wissentlich oder unwissentlich die so sorgsam ausgeschrittenen Machtzonen verletzt werden, wenn Gefahr am Horizont für Titel, Stellung, Karriere. Einer, der die Spielregeln kennt und sie zu gebrauchen weiß. Er weiß den Eindruck zu vermitteln, er folge und diene einer Idee, einer Weltanschauung, einem politisch-sozialen oder geistigen Impetus, und betet doch letztlich nur einen an: Professor Menzel.“ Es gehört zu den kulturpolitischen Seltsamkeiten, daß „Märkische Forschungen“, die bitterböse Verfilmung einer Erzählung von Günter de Bruyn, ohne Schwierigkeiten in den Kinos der DDR lief – während der im Grunde doch auf Hoffnung beharrende „Jadup und Boel“ auf Eis gelegt wurde.

Agonie einer Gesellschaft

Noch einmal, zehn Jahre später, kehrte Kurt Böwe auch filmisch ins Ambiente der DDR zurück. In „Stilles Land“ (1992) verwandelte er sich in einen mecklenburgischen Provinztheaterintendanten, der im Sommer ’89 zwischen allen Fronten lavieren muß. Meist ruht sein Held, der nicht von ungefähr den Namen Walz trägt, in seiner Masse: Mein Haus ist meine Festung. Sein Gesicht aber spricht Bände: Muffigkeit, Tristesse und Le-thargie haben tiefe Furchen hinterlassen; Striese ist ihm inzwischen allemal lieber als Heiner Müller. Böwes Spiel erinnert an das Wechselbad der Gefühle, in das sich die „leitende Intelligenz“ der DDR in den Wendemonaten getaucht sah. Der Film beginnt mit der Begrüßung des Ensembles nach den Sommerferien; keine Silbe über die Massenfluchten, statt dessen das übliche Referat über die Besucherzahlen der letzten Saison. Böwe reproduziert genußvoll die einstigen Rituale. Zugleich macht er spürbar, wie hinter der Stirn seines Intendanten die Unruhe wächst: Sollte man den jungen, fordernden Leuten nicht doch ein paar Freiräume zugestehen, vielleicht auch deshalb, weil einem das später, wenn es „andersrum“ kommt, Pluspunkte bringen könnte? Den Zwiespalt der Figur drückt besonders jene Szene aus, in der der Intendant eine Resolution für mehr Demokratie, die er selbst mit unterzeichnet hatte, in seinem Schreibtisch verschwinden läßt; erst nach Honeckers Sturz schleicht er damit verstohlen zum Briefkasten. Wie bei seinem Menzel in „Märkische Forschungen“ spiegelt Böwe die Agonie einer Gesellschaft und ihrer Funktionsträger. Aber der Zorn des Akteurs hat sich zu verflüchtigen begonnen: ein Abschied mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

Seitdem hat das deutsche Kino auf Kurt Böwe weitgehend verzichtet, eine nicht wieder gut zu machende Ignoranz. Im Fernsehen darf er dafür regelmäßig den Kommissar spielen. Zunächst vom Dienst suspendiert, weil er Volkspolizist und SED-Mitglieder war. Dann zurückgeholt, weil man ihm nichts Schlechtes nachweisen konnte und weil man Menschenkenner braucht. Ein ehrgeiziger, computerbesessener junger Mann wird sein Vorgesetzter – der sich pausenlos an dem altersweisen, verschmitzten, bauernschlauen Kerl reibt. Kurt Böwe über die Konstellation: „Mein lieber Aufsteiger, vergiß mich nicht; du stiegst auf meine Schultern, aber zertrample sie nicht. Ich brauche die Schultern noch, und du brauchst mich noch. Und ihr, die ihr da zuschaut, euch möchte ich sagen: Nun habt mal keine Angst. Laßt euch nicht zu blöden Werkzeugen stempeln. Ihr müßt 40 Jahre eures Lebens nicht wegwerfen.“ Sagt Böwe, der hartschädlige Bauernsohn.

Böwes Bücher

  • Kurt Böwe/Hans-Dieter Schütt: „Der lange kurze Atem. Autobiographie“, Verlag Das Neue Berlin, 1995, 420 Seiten, zahlr. Fotos
  • Kurt Böwe/Hans-Dieter Schütt: „Der Unfugladen oder: Endlich Schluß mit dem Theater? Heiter-besinnliche Gedanken eines Schauspielers“, Verlag Das Neue Berlin, 1999, 128 Seiten
  • Kurt Böwe: „Böwes Fontane“, Verlag Das Neue Berlin, 1998, 360 Seiten
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