Der verzauberte Film.
Erinnerungen an den Regisseur Peter Pewas
von Ralf Schenk
Christine, noch im Unterrock, hängt am Morgen den Vogelkäfig ins Fenster, in die Frühlingssonne. Ein metaphorisches Bild. So wie der kleine Zimmergenosse möchte auch sie die Wärme der Natur spüren, die zu neuem Leben erwacht. Aber die Realität ist trist. Nicht nur die enge mütterliche Wohnung, auch der Arbeitsplatz wirkt wie ein Gefängnis: Christine steht tagaus, tagein hinter der schmalen Luke eines Zeitungsladens; das Warten auf ein Wunder dauert hier schon eine halbe Ewigkeit. Der Kiosk freilich ist nicht irgendwo platziert, sondern auf einem Bahnsteig. Die Schienenstränge signalisieren Weite und Freiheit, und nicht von ungefähr scheint die Erfüllung der Träume mit einem Zug zu kommen: Ein Mann, der die junge Frau gedankenverloren anblickt und dessen Bild sie nicht mehr aus ihrem Gedächtnis streichen kann. „Der verzauberte Tag“ (1944), der erste lange Spielfilm von Peter Pewas, fasst die Hoffnungen seiner jungen Hauptfigur in lyrische, sinnliche Szenen: die Liebe als Möglichkeit, den vorgegebenen Gleisen zu entkommen. Ein schwieriges Unterfangen, denn ringsum sind Schranken, Mauern, Zäune – real und ideell. Als deren Personifizierung brachte Pewas die Figur von Christines Verlobtem ins Spiel, einem pedantischen Buchhalter mit dem bezeichnenden Namen Krummholz. Bei ihm ist alles genau berechnet, ja er entwirft für seine künftige Frau sogar einen Stundenplan, an den sie sich strikt zu halten habe. Erst der unbekannte Fremde vom Bahnsteig, ein Kunstmaler, dessen Einladung zum Sonntagsausflug, das Picknick in freier Natur, die Liebesnacht verheißen dem Mädchen ein neues Leben.
Hergestellt in den Studios der Terra, erwies sich „Der verzauberte Tag“ als erstaunliches Debüt. Die Atmosphäre, der grafische Stil des Films erinnerten an den poetischen Realismus von Marcel Carné und Jacques Prévert. Pewas experimentierte auf den Spuren der berühmten Franzosen mit Bildern, Tönen, Stimmungen, Empfindungen. Ein Kompendium audiovisueller Einfälle, etwa Christines Flucht, nachdem sie entdeckt zu haben glaubt, dass der Maler sie nur, wie viele Frauen vor ihr, verführen wollte: Ihr Bild wird von fallenden Bäumen überblendet, der Brandung des Meeres; ein Gitterzaun, in den sich ihre Finger krallen; eine Brücke über die Gleise; der aufsteigende Dampf einer Lokomotive; Schienen und Räder, die einen Menschen zermalmen können. Und dann: der wartende Bräutigam, der Beamte als wild gewordener, durch Alkohol enthemmter Tyrann, der seiner Verlobten vor der Haustür auflauert, sie im Flur niederschießt. Pewas: „Solche Abfolgen hatte ich sehr bewusst kalkuliert.“
Vogel im Käfig
Der bravouröse Einstand des Regisseurs stieß im Propagandaministerium auf entschiedene Ablehnung. Um sein schon vorher feststehendes Urteil noch zu „untermauern“, setzte Goebbels eine Sondervorführung vor der „Luftschutzgemeinschaft“ seines Hauses an. Ein Protokoll hielt die „überwiegend negative“ Reaktion fest: „Vor allem die männlichen Besucher lehnten den Film scharf ab, weil ihnen der Verlobte zu trottelhaft gezeichnet war.“ Die „gefährliche Tendenz“ des Films ergebe sich „aus dem Halbweltmilieu, der unerfreulichen Zeichnung der biederen Beamten (...) und überhaupt der sehr eindeutig geführten Regie.“ Pewas, so verlautete aus dem Ministerium, verbreite eine fatalistische Grundstimmung und „heimlichen Kulturbolschewismus“; der Film mit seinen halbdunklen Bildern sei eine „einzige Verhöhnung des deutschen Bürgers, der in diesen Bombennächten die Hauptlast des Krieges“ trage. Befohlen wurden Schnitte und Änderungen, die einem Verbot gleichkamen. Erst im Herbst 1947 wurde „Der verzauberte Tag“ in Zürich uraufgeführt, eine von der Öffentlichkeit relativ unbemerkte Premiere. Es sollte ein für Pewas’ Leben symptomatischer Vorgang werden: Der Regisseur, wie kaum ein anderer seiner Generation „getrieben von einer Sucht nach Bildern“, wurde schon zu Lebzeiten zu einem der großen Vergessenen des deutschen Kinos. Sein dritter und letzter abendfüllender Spielfilm entstand 1955; danach drehte er, im Abstand von Jahren, bis 1971 noch einige Werbefilme und kurze Essays. In den unendlichen Zeiträumen der Arbeitslosigkeit kehrte Pewas wieder in seinen „alten“ Beruf zurück und malte, wobei seine Sujets Bände sprachen: ein Vogel im Käfig, der seine Flügel verzweifelt durch das Gitter nach draußen schiebt; eine zerbrochene Puppe mit leeren Augenhöhlen auf einer Halde hinter Filmateliers; ein Mann mit hoch geschlagenem Kragen in einer windigen, grauen Herbstlandschaft. Gemälde, beherrscht von „Phantomen der Angst und der Depressionen“ (Fred Gehler).
Es ist heute nur zu ahnen, wie bewegt Peter Pewas gewesen sein muss, als westdeutsche Cinephile ihn Ende der 1970er-Jahre wiederentdeckten und ihm 1981 innerhalb der „Berlinale“ eine Retrospektive und ein Buch widmeten. Klaus Kreimeier nahm in tagelangen Sitzungen seine Biografie zu Protokoll – und charakterisierte ihn später als einen Mann, der „vom sympathischen Mangel“ geprägt gewesen sei, „sich mit den Ellenbogen durchzusetzen“, der sich aber nie korrumpieren und deformieren ließ. Kurz bevor Pewas am 13. September 1984 in Hamburg starb, erhielt er noch ein „Filmband in Gold“ „für langjähriges und erfolgreiches Wirken im deutschen Film“ – fast ein Hohn für einen Regisseur, dessen Kunst sich niemals vollenden konnte.
Stationen einer Biografie
Peter Pewas, geboren als Walter Emil Hermann Schulz, kam am 22. März 1904 als Sohn eines Schuhmachers in Berlin zur Welt – in einer Kellerwohnung, wie er später gern berichtete. Er begann eine Schlosserlehre, arbeitete als Kesselflicker und suchte den Weg zum Weimarer Bauhaus, zu Moholy-Nagy, Klee, Kandinsky. Dort begann er zu fotografieren und Buchumschläge sowie Plakate zu entwerfen. Erste Aufträge kamen aus dem Umfeld des kommunistischen Zeitungs- und Filmimperiums von Willi Münzenberg: Für deutsche und sowjetische „proletarische“ Filme wie „Der blaue Expreß“ und „Jenseits der Straße“ schuf Pewas farbige Plakate, in denen er Fotos, Grafiken und Schriften überblendete und zur gleichsam filmischen Gesamtwirkung brachte. Zugleich wirkte er als Statist an Erwin Piscators Bühne und lernte den Regisseur Slatan Dudow kennen, der ihm, nachdem er sich eine Handkamera zugelegt hatte und mit ihr den Alltag auf dem Berliner Alexanderplatz „einfangen“ wollte, eine erste Lehrstunde über den Unterschied zwischen „Stoff“ und „Thema“ gab. Aus welcher Perspektive, so lautete die Frage Dudows, wolle Pewas den Platz denn filmen? Jeder der Passanten hätte schließlich seine eigene Sicht auf die Wirklichkeit: Der Bettler würde sie anders sehen als der Kaufmann oder die Prostituierte. Einen „objektiven“ Blick gäbe es nicht – und auch der Filmemacher müsse sich entscheiden. Das Material zu „Alexanderplatz überrumpelt“, den Pewas 1932 zu drehen begann, gilt als verschollen, nachdem es die Gestapo zwei Jahre später beschlagnahmte.
In der NS-Zeit zeichnete Pewas zwar nach eigenen Angaben gelegentlich auch für antifaschistische „Publikationen, die im Ausland produziert und illegal wieder hereingeschleust wurden“; offiziell und hauptsächlich verdiente er sein Geld aber durch Filmplakate, die ihm in der Branche einen guten Ruf einbrachten. Mit dieser Tätigkeit finanzierte er sich das 1938 begonnene Studium an der „Deutschen Filmakademie“, an der Wolfgang Liebeneiner sein Meister wurde. Schon die Titel der ersten szenischen Versuche deuten an, worauf es Pewas ankam: „Zwischen Abend und Morgen“, „Zweiklang“, „Eine Stunde“ – kleine, eher im Dämmerlicht angesiedelte Alltagsstudien ohne „glatte, gelackte Fassaden. Dafür suchte ich mir Leute von der Straße, von der Komparserie, alles Namenlose.“ Schon „Eine Stunde“ (1941), der einzige bis heute erhaltene dieser Versuchsfilme, wurde dem Propagandaminister nicht gezeigt: Die an Originalschauplätzen, in extrem engen Dekors gedrehten „schwarzen Bilder“ standen dem offiziell gewünschten Gute-Laune-Kino diametral entgegen – so wie später „Der verzauberte Tag“ nichts mit heiterer Kriegsertüchtigung im Sinn hatte, sondern die abgrundtiefe Traurigkeit der Zeit transparent machte.
Das Kriegsende überlebte Pewas als unfreiwilliges Mitglied des Volkssturms. Freiwillig nahm er dagegen in den ersten Friedenswochen die Berufung zum Unterbürgermeister von Berlin-Wilmersdorf an; er sah es als seine Pflicht an, praktische Hilfe zu leisten. Aber das Kino ließ ihn nicht los – schon Ende 1945 hielt er in der Volkshochschule Wilmersdorf den Vortrag „Über das Gesicht des kommenden Films“, in dem er seine Visionen darlegte: „Eine neue Ära des Films beginnt. Die junge freie Filmkunst sieht hier ihre große Aufgabe: den ideologischen Unterbau, auf dem der Wahnsinn der vergangenen Jahre wachsen konnte, mit neuen und starken Ideen umzubrechen, im Rahmen einer echten Demokratie tätig zu sein, um den deutschen Dünkel, den Untertanengeist, den Militarismus auszulöschen! (...) Der junge deutsche Film soll sich mit einem klaren Antlitz der Welt zeigen, eine völkerverbindende Gesinnung dokumentieren! (...) Den Treck und das Konzentrationslager, das Wirken der illegalen Kämpfer, (...) den Umbruch und Aufbau eines ganzen Volkes mit seinen Millionen Verflechtungen und Schicksalen wird er in sein Stoffgebiet einbeziehen. (...) Die junge Demokratie braucht das Bekenntnis der Staatsbürger, der neue Film den politischen Künstler. (...) Die Wirklichkeit, neu gesehen und gestaltet, wird die erregendsten Dramen offenbaren! (...) Der junge deutsche Film (...) wird den Völkern Zeugnis eines anderen Deutschlands geben.“ Ein Pamphlet, das sich wie der Gründungsaufruf zu einer antifaschistischen, demokratischen deutschen Filmgesellschaft las.
Filme in Ost und West
Als erste Filmarbeit nach dem Krieg schuf Pewas die 17-minütige Dokumentation „Befreite Musik“ (Uraufführung: Januar 1946), produziert von der Demo-Film unter der Leitung eines anderen, von Goebbels gemaßregelten Solitärs: Werner Hochbaum. Dann fand er, durch Vermittlung seines aus dem Exil heimgekehrten alten Bekannten Slatan Dudow, den Weg zur DEFA. Das erste Projekt, ein von DEFA-Direktor Alfred Lindemann vorgeschlagener Stoff über den deutschen Widerstand, scheiterte. Pewas: „Während die DEFA sich ausschließlich um die Rolle der Arbeiterschaft im Widerstand kümmern wollte, war es meine Absicht, auch bürgerliche und kirchliche Kreise einzubeziehen. Wir konnten uns in diesem Punkt nicht einigen.“ Statt dessen wurde ihm das Drehbuch „Straßenbekanntschaft“ angeboten, ein Zeitstoff mit aufklärerischem Impetus, der sein didaktisches Prinzip gerade auch in den Dialogen nie verleugnete. In der Geschichte um eine junge Berliner Wäscherin, die das ärmliche Leben satt hat und in die Gesellschaft von Schiebern und Zuhältern gerät, mussten Auflagen der Berliner Ärztekammer berücksichtigt werden. So findet mitten in der Handlung die Begegnung eines jungen Reporters mit einem Frauenarzt statt, bei der direkt – mit entsprechenden Schutzhinweisen – in die Kamera agitiert wird. Doch obwohl für den Tag gedreht, wurde „Straßenbekanntschaft“ kein alltäglicher DEFA-Film. Pewas führte die Ängste, Irrwege und Abgründe einer um ihre Jugend betrogenen Generation, ihren Vertrauens- und Moralverlust nicht in glatten naturalistischen Bildern vor. Vielmehr experimentierte er mit Hell-Dunkel-Kontrasten, Raumtiefe und optischen Metaphern. Zu sehen sind finstere, scheinbar endlose Straßen, S-Bahn-Gleise, Brücken. Dazu erklingt, faszinierend und bedrohlich zugleich, eine Musik, die anfangs auf einem Leierkasten gespielt wird und den Film bis zum Finale begleitet.
Es blieb – neben dem kurzen, 1946 gedrehten SED-Wahlwerbefilm „Wohin, Johanna“ – seine einzige Arbeit im Osten. Vielleicht weil er ahnte, dass der kurze Traum der Freiheit bei der DEFA bald vorbei sein würde; sicher auch, weil er für seine im Westen lebende Familie „harte“ Währung verdienen musste. Pewas hoffte, in München mit einer US-Lizenz eine eigene Produktionsfirma gründen zu können. Doch für einen Stoff über einen Kindermörder, verfasst für den jungen Klaus Kinski, fand sich kein Geldgeber – und der aus den USA zurückgekehrte Erich Pommer machte kein Hehl daraus, warum: „Heute müssen Sie kleinbürgerliche Filme drehen, um den Leuten überhaupt erst einmal wieder Lust zu machen, am Leben teilzunehmen. In einer Zeit, wo alles zerstört ist, möchte man schöne Räume auf der Leinwand sehen.“ Statt eines Spielfilms drehte Pewas nun Werbefilme wie „Menschen – Städte – Schienen“ (1949) im Auftrag der Deutschen Bundesbahn oder „Der Modespiegel“ (1954) für den Hamburger Produzenten Walter Knoop. Kurzfilme wie „Herbstgedanken“ (1950) oder „Der nackte Morgen“ (1956) zeigten die ungebrochene Lust des Regisseurs an Milieu, Atmosphäre, unkonventionellen Kamerablicken, faszinierenden Bild-Erfindungen. Pewas’ Filme, gerade die kurzen, blieben formal etwas Singuläres – bis hin zu „Der Vormittag eines alten Herrn“ (1961), in dem er seinen eigenen Lebensabend vorausahnte: das melancholischherbstliche Flanieren eines Pensionärs, den niemand mehr braucht.
Nur einen langen Spielfilm konnte Pewas in der Bundesrepublik Deutschland drehen: „Viele kamen vorbei“ (1955), die Geschichte eines Autobahnmörders, eines Mädchens und eines Polizeikommissars. Hans Hellmut Kirst urteilte nach der Premiere, der Film sei „wunderbar und fürchterlich, kindisch und klug, schrecklich grausam und erschreckend banal – es ist die merkwürdigste Mischung aus künstlerischer Ambition und geschäftigem Krämergeist, die seit langem zu sehen war“. Wie selten im Kino ließen sich in diesem Fall Tadel und Lob säuberlich trennen: Die gravierenden Schwächen des Films lagen vor allem im Drehbuch und in den Dialogen des Produzenten Gerhard T. Buchholz begründet, der keine Änderungen gestattete und dem Ganzen noch einen unsäglichen Kommentar aufdrückte. Die Stärken gingen eindeutig aufs Konto der Regie. Wieder überzeugten die symbolischen Motive, die suggestiven Montagen: die Autobahnbrücke, die endlose Treppe, die Schatten, der Morgennebel. Hauptdarsteller Harald Maresch reihte sich wirkungsvoll in die Galerie jener verlorenen Männer ein, die wurzel- und glücklos durch die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft trieben.
Ralf Schenk (filmdienst 9/2004)