DER KLEINE PRINZ von Konrad Wolf
Im Auftrag des Fernsehens
von Thomas Beutelschmidt
Das 3. Filmerbe-Festival „Film:ReStored“ wurde von der Stiftung Deutsche Kinemathek vom 25.-28. Oktober 2018 veranstaltet und verwies auf die Bedeutung des Fernsehens für die Filmgeschichte. Da das Programm mit Konrad Wolfs DER KLEINE PRINZ eine ostdeutsche Produktion mit aufgenommen hatte, konnte in einem Einführungsvortrag am 28.10.2018 im Filmhaus am Potsdamer Platz Berlin auch auf das Film-Fernseh-Verhältnis in der DDR eingegangen werden.
Die Verfilmung des Kleinen Prinzen entstand 1965/66 nach der poetischen Erzählung „Le Petit Prince“ von Antoine de Saint-Exupéry. Das existenzialistische „Märchen für Erwachsene“ war zu diesem Zeitpunkt im Belletristik-Verlag „Volk und Welt“ erstmals in der DDR veröffentlicht worden.
Die Literaturadaption ist der erste Farbfilm für das Fernsehen und steht für eine der vielen Auftragproduktionen für das DEFA-Studio für Spielfilme. Sie haben mit zur Etablierung, Konsolidierung und gewissermaßen zu einer ‚Filmisierung’ des neuen Leitmediums beigetragen. Nach Beginn des öffentlichen Programmbetriebs hatten sich die Sendezeiten und Reichweiten bis 1956 ständig erweitert. Spätestens Ende 1960 konnte dann mit über einer Million angemeldeter Geräte endgültig von einem Massenmedium gesprochen werden.
Der damit gestiegene Bedarf an fiktionalen Genres ließ sich nun nicht mehr durch die Ausstrahlung von Fremdfilmen des Progress-Verleihs, dem Staatlichen Filmarchiv und ausländischen Distributeuren oder durch die damals üblichen elektronischen Live-Fernsehspiele decken. Der Adlershofer Fernsehfunk musste also die eigene Filmproduktion für seine sogenannte „Dramatische Kunst“ forcieren. Auf höchsten Beschluss überließ ihm das SED-Politbüro hierfür 1961 die Nutzung des Studiokomplexes der DEFA im benachbarten Johannisthal. Er war ursprünglich für die Johannisthaler Film-Anstalten GmbH (JOFA) bzw. die Ton-Bild-Syndikat AG (TOBIS) aufgebaut worden. Nach 1945 übernahm die sowjetische Aktiengesellschaft LINSA das Areal im Rahmen der Reparationsleistungen, bevor es dann im 1950 an die DEFA rückübertragen wurde.[1]
Doch auch diese Anstrengungen reichten nicht aus, genügend qualitativ hochwertige Programmangebote zu generieren. Das gewachsene Bedürfnis nach größeren Handlungsbögen, nach opulenteren Bildern und Trickaufnahmen, nach mehr Originalschauplätzen, Aktionsreichtum und Massenszenen verlangte eine weitere produktionstechnische und gestalterische Ausweitung. Deshalb wandte sich der Sender an die DEFA-Betriebe als den kompetenten Dienstleister, um seine Zielgruppen mit attraktiveren Angeboten binden und auch dem konkurrierenden Westfernsehen etwas Adäquates entgegensetzen zu können.
Für gemeinschaftliche Koproduktionen entschieden sich die Akteure allerdings nur in sieben Fällen – darunter JAKOB DER LÜGNER von Frank Beyer, DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS von Egon Günther oder DIE VERLOBTE von Günther Rücker und Günter Reisch. Unterschiedliche Arbeitsmethoden, Auswertungsinteressen oder Differenzen bei den inhaltlichen und künstlerischen Vorstellungen erschwerten eine gleichberechtigte Zusammenarbeit.
Bei den wesentlich zahlreicheren Auftragsproduktionen hingegen ließen sich derartige Probleme durch eine strikte Arbeitsteilung reduzieren. Auf dieser bewährten Vertragsbasis hatte das Spielfilmstudio im Zeitraum von 1959 bis 90 rund 470 Einzelfilme, Mehrteiler oder Serien für das Telemedium hergestellt. Ein immenses Volumen, das in Längen oder Stunden berechnet oftmals über dem der jährlichen Kinoproduktion lag und durchschnittlich 55% der DEFA-Kapazitäten gebunden hat.
Insgesamt dürfen die Kooperationsformen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die organisatorischen, personellen und kulturpolitischen Beziehungen durchaus widersprüchlich darstellten. Die offiziell geforderte „Partnerschaft im Wettbewerb“ war von Konkurrenzverhalten, von Profilierungs- und Abgrenzungsversuchen geprägt. Denn dem Kino war nicht nur ein gleichwertiger Mitstreiter, sondern gleichsam ein harter Widersacher erwachsen.[2] Die beiden Medien ignorierten die Aufrufe zur Gemeinschaftlichkeit immer wieder und räumten ihren eigenen Interessen oberste Priorität ein. Das schlug sich im getrennten Bemühen um bekannte Autoren, namhafte Stoffe, qualifizierte Mitarbeiter – und natürlich um die Gunst des Publikums nieder.
Warum nun hatte sich der eindeutig cinephile Konrad Wolf überhaupt auf das Fernsehen eingelassen? Hatten doch intellektuelle und künstlerische Kreise eher Abstand von der ‚Flimmerkiste’ genommen, weil sie tradierte Werte der Hochkultur mit der Tendenz zu Nivellierung und Trivialisierung latent infrage stellen würde. So stand der Regisseur selbst später noch als Präsident der Akademie der Künste dem Telemedium skeptisch gegenüber:
Sein eigenes TV-Engagement hatte er jedoch schon auf der II. Bitterfelder Konferenz 1964 damit gerechtfertigt, dass es „nur eine Filmkunst gibt, die dann erst durch zwei technisch-organisatorische Verbreitungsmöglichkeiten (die wiederum zwei Wirkungsarten ergeben) an das Publikum herangebracht werden“.[4]
Insgesamt sind über 70 Inszenierungen von 25 DEFA-Regisseuren für das Fernsehen nachgewiesen – unter ihnen sogar mehrfach Egon Günther, Günter Reisch, Horst Seemann oder Werner W. Wallroth. Zumindest für sie galt die Feststellung der Deutschen Filmkunst von 1962,
Offensichtlich haben die Filmemacher – und das mag dann auch für Konrad Wolf gelten – neben finanziellen Vorteilen die sich bietenden Spielräume gereizt. Eröffnete sich doch die Chance, einmal DEFA-untaugliche Projekte umsetzen, mit anderen Gestaltungsformen experimentieren, neue Erzählweisen austesten und ein Millionenpublikum direkt erreichen zu können – also kreative Freiräume, die nicht nur Drehbuchautor Hans Oliva-Hagen in der Wochenpost überzeugten:
Dem Fernsehen wiederum galten die interessierten DEFA-Regisseure durch ihre Kompetenz und Reputation als Garant für eine gelungene Auftragsproduktion. Sie wurden von der Leitung gern hofiert, die ihnen – sehr zum Leidwesen ihrer Kollegen – einige Privilegien einräumte. Davon profitierte auch Konrad Wolf bei seiner Arbeit am KLEINEN PRINZEN:
– so die Beschwerde der Parteiabteilung Agitation.
Die Dreharbeiten für den Kleinen Prinzen nach dem Szenarium des bulgarischen Autors und Wolf-Partners Angel Wagenstein hatten im November 1965 begonnen. Der mit fast einer Million Mark durchaus kostspielige Film entstand also im Kontext des 11. Verbots-Plenums, von dem er aber nicht betroffen war. So konnte die Produktion in ORWO -Color als ein mögliches Programm-Highlight für das 1967 geplante, aber erst 1969 eingeführte Farbfernsehen fertiggestellt werden.
Wolf hatte sich mit einem hoch motivierten Starensemble in das Atelier zurückgezogen und ein artifizielles Kammerspiel realisiert. Christel Bodenstein spielte unter anderem neben Inge Keller (als Schlange), Eberhard Esche (als Pilot), Fred Düren (als Lampenanzünder) und Klaus Piontek (als Fuchs) die Titelfigur. Sie erinnerte sich retrospektiv gerne an den Dreh:
Die Geschichte vom in der Wüste abgestürzten Piloten und dem kleinen Prinzen siedelte Wolf in einer betont stilisierten Studiolandschaft an. Die phantasievoll-naiven Kulissen von Szenenbildner Alfred Hirschmeier und die Kostüme von Dorit Gründel orientieren sich dicht an den eigenen Buch-Illustrationen von Saint-Exupéry.
Es scheint, als ob Wolf damit eine kreative Auszeit genommen hat. Laut dem Kritiker Hans-Dieter Tok hätte er sich in bislang ungewohntem Terrain behaupten und seine Ausdrucksmöglichkeiten erweitern können.[10] Im Gesamtœuvre ist das entschleunigte und melancholische TV-Experiment als Interludium zwischen der Bearbeitung der deutschen Teilung in DER GETEILTE HIMMEL und der autobiografischen Rückkehr in die Geschichte in ICH WAR NEUNZEHN einzuordnen. Statt der lebenslangen Auseinandersetzung über Sozialismus und Faschismus kommt hier ein eher entideologisierter Humanismus zum tragen, der Empathie und Toleranz verpflichtet ist. Galt doch schon das adaptierte Kunstmärchen als ein moralisches Plädoyer für Menschlichkeit sowie gegen Besitzdenken und einen ethischen Werteverfall. Mit dem Schriftsteller und Luftwaffenflieger Saint-Exupéry verband Wolf nach vergleichbaren Weltkriegserfahrungen vielleicht auch eine Art Seelenverwandtschaft auf einer Suche nach dem Sinn des Lebens getreu der Maxime: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“
So hält sich das idealistische Filmgleichnis nah an den Text und erweist Saint-Exupéry im Prolog zusätzlich eine Referenz: Vorangestellt sind eine zeitgenössische Fotocollage und eine Ballade des Lyrikers Paul Wiens , intoniert von Manfred Krug. Damit wird auf den historischen und biografischen Kontext der 1943 erschienen Erzählung und das tragische Lebensende des Autors nur ein Jahr später verwiesen.
Der nur knapp 75-minütige Film erlebte seine erste und einzige Ausstrahlung allerdings erst Jahre später am Pfingstsonntag 1972 auf dem zweiten Kanal – und das ohne große Ankündigung und Werbung. Die verspätete Uraufführung ohne großes Aufsehen ist auf urheberrechtliche Gründe zurückzuführen. Der Deutsche Fernsehfunk hatte vom französischen Verlag Editions Gallimard keine Nutzungslizenz erworben.[11] Die unautorisierte Sendung hatte zwar kein juristisches Nachspiel, aber an eine weitere Auswertung war für die DDR als Vollmitglied der Weltorganisation für geistiges Eigentum (World Intellectual Property Organization/ WIPO) nicht zu denken.
Die Resonanz auf das formal wie inhaltlich durchaus ungewöhnliche Stück fiel zwiespältig aus. Das Katholische Filminstitut hat es in seinen bekannten „Kritischen Notizen“ als „sehr konventionell und wenig phantasievoll inszeniertes Märchen“ abgewertet.[12] Das „Lexikon des internationalen Films“ hingegen lobte den Ansatz, „mit dem sich Konrad Wolf auf die Spuren eines existentialistischen Klassikers begibt und zu einer dichten, von ausgezeichneten Darstellern getragenen Annäherung findet. Stilistisch ein Ausnahmewerk im Schaffen des Regisseurs“.[13]
Das Werk blieb nach seiner Uraufführung im Archiv verbannt und wurde nach heutigem Stand wohl nur zwei Mal mit einer Ausnahmegenehmigung gezeigt. Zum einen organisierte Wim Wenders eine Vorführung 1995 für den Verein „Die ersten hundert Jahre Kino in Berlin“. Zum anderen konnte ich das Fundstück 2003 in die Reihe „LITERATUR auf CELLULOID“ für das 3. „internationale literaturfestival berlin“ aufnehmen, weil Frédéric d’Agay – der Großneffe und stellvertretende Rechteinhaber von „Saint -Ex“ – persönlich sein Einverständnis gegeben hatte.
Ansonsten aber wurden keine Freigaben erteilt. Selbst die internationale Würdigung zum 80. Geburtstag von Konrad Wolf mit Retrospektive, Symposium und Ausstellung in der Babelsberger Filmhochschule und im Potsdamer Filmmuseum musste 2005 auf den Kleinen Prinzen verzichten. Erst nach Ablauf der urheberrechtlichen Schutzfrist erwachte die Studioproduktion dann 2015 aus ihrem Dornröschenschlaf. Nun ließen sich die Aufführungsrechte für Fernsehen und Kino zwischen dem Deutschen Rundfunkarchiv, der DEFA-Stiftung und dem Verleihpartner Deutsche Kinemathek einvernehmlich regeln.
Mit der Freigabe setzte ein regelrechter Boom ein. Der Film wurde im gleichen Jahr mehrfach auf die Leinwand gebracht. Erinnert sei nur an das Programm „Open Scene“ im Münchner Filmmuseum, an die Reihe „Wiederentdeckt“ im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums, die Retrospektive der Friedrich-Wolf-Gesellschaft zum 90. Geburtstag von Konrad Wolf oder die Veranstaltung KLASSIKER & RARITÄTEN des Deutschen-Filminstituts im Filmmuseum Frankfurt.
Darüber hinaus wurde der Streifen 2017 als DVD in der Reihe „DDR TV-Archiv“ der Studio Hamburg-Enterprises vermarktet. Und jüngst präsentierte die Akademie der Künste am 17.10.2018 die DVD-Box
„Konrad Wolf - Alle Spielfilme 1955-1980“ .
Die Edition umfasst neben den 13 DEFA-Filmen nun auch den Sonderfall DER KLEINE PRINZ. Sie entstand in Kooperation der DEFA-Stiftung, Icestorm Entertainment und dem Vertriebspartner Studio Hamburg.
Fußnoten
[1] Zu dieser Entwicklung siehe ausführlicher in der Schriftenreihe der DEFA-Stiftung Thomas Beutelschmidt: Kooperation oder Konkurrenz? Das Verhältnis zwischen Film und Fernsehen in der DDR. Berlin 2009.
[2] Die zunehmende Stellung des Fernsehens trug wesentlich dazu bei, dass die Besucherzahlen des Kinos in der DDR seit ihrem Maximum von 316 Millionen Zuschauer 1957 sukzessive bis auf 65 Millionen 1989 zurückgegangen waren – siehe Elizabeth Prommer: Kinobesuch im Lebenslauf. Eine historische und medienbiografische Studie. Konstanz 1999, S. 352.
[3] Konrad Wolf: Wir Sozialisten sind mit jedem Atemzug, mit jedem Herzschlag Antifaschisten. In: Neues Deutschland vom 23./24.6.1979.
[4] Konrad Wolf: Diskussionsbeitrag. In: Zweite Bitterfelder Konferenz 1964. Berlin (DDR) 1964, S. 280–285, hier S. 283.
[5] Renate Seydel: Politisches Kriminalstück und Märchenkomödie. In: Deutsche Filmkunst 2/1962, S. 74-75, hier S. 75.
[6] Nützlicher Aufruhr. Zwischenbericht vom Wettbewerb Film – Fernsehen. In: Die Wochenpost vom 14.10.1961.
[7] Es handelt sich hier um den fünfteiligen „Fernsehroman“ Ohne Kampf kein Sieg nach der Autobiografie des Rennfahrers Manfred von Brauchitsch; Buch und Regie: Rudi Kurz; ESD: 28.8.-6.9.1966.
[8] Sektor Rundfunk/Fernsehen: Protokoll der Beratung mit Intendanz und ZPL des Deutschen Fernsehfunks beim Genossen Albert Norden über die Aufgaben nach dem 11. Plenum am 22.12.1965. Berlin (DDR) 27.12.1965 (SAPMO-BArch DY 30/IV A2/2.028/60), S. 20.
[9] Christel Bodenstein: Einmal Prinzessin, immer Prinzessin! Berlin 2006, S. 86, zitiert nach Jan Gympel: Einführung Der Kleine Prinz, Reihe „Wiederentdeckt“ Nr. 221, Zeughauskino DHM 3.4.2015.
[10] In: Leipziger Volkszeitung vom 25.5.1972.
[11] Zur rechtlichen Situation und den Produktionsbedingungen siehe Julia Weber / Uwe Bräuner: "Der kleine Prinz" von Konrad Wolf – ein Schatz wird aus dem Archiv gehoben. Das besondere Dokument 2015/1, www.dra.de
[12] Katholisches Filminstitut: Filme in der DDR 1945-86. Dülmen 1986, S. 235.
[13] Filmlexikon Zweitausendeins, Eintrag Der kleine Prinz, https://www.zweitausendeins.de/filmlexikon/?sucheNach=titel&wert=62805