Der sozialistische Regisseur
Konrad Wolf und seine Filme
von Detlef Kannapin
Die politischen und zivilisatorischen Verwerfungen der letzten dreißig Jahre, die sich inzwischen massiv in Form von digitaler Demagogie, Datenprostitution und kaum für möglich gehaltener kulturindustrieller Konformität äußern, sollten durch ein Werk verhindert werden, das Antifaschismus, Sozialismus und Humanismus verpflichtet war. Ein solches Werk schuf der Filmregisseur Konrad Wolf (1925-1982), und zwar kontinuierlich, von seinem ersten bis zu seinem letzten Film. Was heute oftmals von einer durch Wissensvernichtung gebeutelten Schar halbwegs sozialer Mediennutzer und Serienkonsumenten als heilloser Anachronismus denunziert wird, wonach, mehr behauptet als bewiesen, die Filme des Sozialismus doch einer untergegangenen Welt angehörten und deshalb ohne Bedeutung für die Gegenwart seien, das stellt sich natürlich bei genauer Betrachtung als ziemlich ungebildeter Trugschluss heraus. Es ist nicht nur die Tatsache von Belang, dass die Epoche von 1917 bis 1990 durchgängig filmisch begleitet wurde und man sich somit über alle Phasen der sozialistischen Entwicklung ein eigenes Bild machen kann. Der Trugschluss liegt ja auch im Wesen der Sache begründet: Die Fragen, die Konrad Wolf an Leben und Gesellschaft stellte, sind die unerledigten zur Erringung einer menschlichen Gesellschaft und daher die brennenden Fragen unserer Zeit.
Die beiden wesentlichen Fragen, die Konrad Wolf zeitlebens beschäftigten, ja durchaus quälten, waren die folgenden: Wie wird man Nazi? Und: Wie kann es gelingen, eine Gesellschaft vernünftig nach sozialistischen Kriterien zu organisieren? Diese Fragen gehörten für Wolf zusammen und sind in all seinen Filmen präsent. Als er sich Anfang der 1950er Jahre für die Filmregie entschied und sein Studium am „Staatlichen Institut für Kinematografie“ (WGIK) in Moskau absolvierte, hatte er für einen 25-Jährigen schon übergenug erlebt. Als Sohn des kommunistischen Dramatikers Friedrich Wolf (1888-1953) früh politisiert, ab 1934 im sowjetischen Exil lebend, dort vom Revolutionsfilm beeindruckt und selbst mit einem kurzen Auftritt in dem antifaschistischen Emigrantenfilm „Kämpfer“ (1936, Regie: Gustav von Wangenheim) vor der Kamera, leistete er dann seinen Beitrag zur Niederringung des deutschen Faschismus als Sowjetbürger und Angehöriger der Roten Armee. Die Kriegserfahrungen und die „doppelte Identität“ als sowjetischer Internationalist und deutscher Kommunist mit der neu zu erringenden und gegen Anfeindungen zu verteidigenden Heimat DDR waren die wichtigsten biographischen Marksteine im Leben Konrad Wolfs. Ohne Akzeptanz der Prämisse, dass für Wolf die DDR die einzig gangbare Alternative zum verhängnisvollen deutschen Irrweg mit der Auslösung zweier Weltkriege darstellte, wird man Leben und Werk Konrad Wolfs bei allen Widersprüchlichkeiten und Schwierigkeiten nicht gerecht werden können. Sein Credo als aktiver Mensch formulierte er im Februar 1981 in einem Brief an den Schriftsteller Peter Weiss: „Wir haben uns einiges vorgenommen, manche halten uns für hoffnungslose Utopisten, Idealisten, weltfremde Spinner. Aber Utopie ist Hoffnung, Hoffnung verlangt Arbeit, Arbeit / Sinnvolle! / setzt Denken voraus – gerade in dieser jetzt aus allen Fugen geratenden Welt. Unvernunft und blanker Schwachsinn dröhnt durch die Welt – da sollen wir uns in die Ecken verkriechen? Ich kann es nicht, sogar wenn sich Bemühungen um mehr Vernunft und Solidarität der Vernünftigen zeitweilig als Niederlage herausstellen sollten.“ Ein Aufruf an die Lebenden.
EINMAL IST KEINMAL (1955)
Die Aussage: „Ein guter Film ist zuerst einmal ein Zeitdokument“, stammt ebenfalls von Konrad Wolf. Damit setzte er die produktive Tradition derjenigen Filmemacher, Filmenthusiasten und Filmkritiker fort, die das Medium Film gleichermaßen als Kunstwerk und Ausdruck der Mentalitätsgeschichte betrachteten. Ob er seinen Erstling, die musikalische Komödie „Einmal ist keinmal“ als einen guten Film bezeichnet hätte, darf bezweifelt werden. Er selbst meinte, sich hier im Genre vergriffen und eher der allgemeinen Forderung der Zeit nach heiteren Stoffen nachgegeben zu haben. Im Verhältnis zu vielen seiner späteren Filme stimmt das auch, nicht jedoch im Hinblick auf das Dokumentarische des Zeitbezuges. Denn auch wenn es sich inhaltlich wie formal um ein herkömmliches Unterhaltungsprodukt handelt, ist die Nähe zum berüchtigten „Heimatfilm“ westdeutscher und österreichischer Prägung eher äußerlich. Die recht harmlose Geschichte des West-Komponisten Peter Weselin (Horst Drinda), der während seines Urlaubs in Klingenthal/DDR in den Konflikt zwischen ernster Orchester- und heiterer Tanzmusik gerät, enthält neben den genretypischen Albernheiten und zwischenmenschlichen Liebesverwicklungen auch satirische Momente in befreiender Art und Weise über das gesellschaftliche Leben in der Bergprovinz der DDR. Unser Hauptheld sucht die Instrumentenfabrik am Ort auf und fragt nach einem „Herrn Veb“, der doch der Chef sein müsse, während der Pförtner am Eingang die Sachlage mit der Erklärung richtigstellt, dass „VEB“ tatsächlich auf Chef verweist, allerdings im Sinne dessen, wonach in einem Volkseigenen Betrieb (VEB) alle die Chefs sind. In Konfrontation mit dem „vereinigten Klangkörper“ wird Peter davon überzeugt, dass sich E- und U-Musik nicht ausschließen müssen und jede gute Musik zum gesamten Repertoire der Kultur für alle zu zählen ist. Insbesondere fehlen dem Film die für viele westliche „Heimatfilm“-Produktionen gängigen Volksgemeinschaftsphantasien der verfolgten Unschuld, die auf dem Ausschluss „ortsfremder Eindringlinge“ in die Berg- und Talidylle beruhen. Am Ende gelingt Konrad Wolf sogar noch eine durchaus bewegende Abschlusschoreographie, die sich sinnvoll in die geschlossene Dramaturgie des Films einfügt.
GENESUNG (1956)
Hier ist das Thema bereits gefunden und zum Teil auch entschlüsselt: Wie verhält sich wer unter welchen Umständen in Deutschland nach 1933, in der Ausnahmesituation des Krieges und in der Zeit des Aufbaus einer neuen Gesellschaft? Vier Personen sind in ihren Motivlagen zu verstehen: der kommunistische Funktionär Mehlin (Wolfgang Langhoff), die Widerstandskämpfer Irene (Karla Runkehl) und Max Kerster (Wilhelm Koch-Hooge) sowie schließlich die Hauptfigur, der Medizinstudent Friedel Walter (Wolfgang Kieling). Dem politischen Leben eher gleichgültig gegenüber hilft Walter 1941 Mehlin aus einer Zwangslage. Am Ende des Krieges hat er durch Zufall die falsche Identität eines Arztes angenommen, und diese vorgetäuschte Autorität sorgt später beim versehrten Kerster für die titelgebende Genesung, die aber nicht nur rein subjektiv gemeint, sondern allegorisch auf das Ganze der Gesellschaft gemünzt ist. Der Film nimmt sich für Abwägungen Zeit und dafür einige Längen in der Dialogführung in Kauf. Auch das Aufbaupathos, besonders in den Gerichtsszenen am Ende, als Walter des Betruges wegen der falschen Arztidentität angeklagt ist, durch Fürsprache Mehlins und eigener Willensbekundung zur Beteiligung am Aufbau aber freigesprochen wird, ist kein rein aufgesetztes, sondern der Versuch, eine indirekte Variante des sozialistischen Realismus mit melodramatischen Mitteln zu etablieren. Der noch experimentelle Charakter auf der Suche nach filmischen Lösungen wird besonders daran deutlich, dass es keine elaborierte Auflösung der Handlung gibt und der Schluss etwas abrupt und unvermittelt erscheint.
LISSY (1957)
Entstanden nach dem 1937 in der Emigration geschriebenen Roman „Die Versuchung“ von Franz Carl Weiskopf (1900-1955) wird die Filmsprache in diesem frühen Meisterwerk von Konrad Wolf konzentrierter, dichter, intensiver. Dafür zeichnen sich der Dialog und der Kommentartext durch Sparsamkeit und Lakonie aus, die nur die wesentlichsten Informationen vermitteln und stattdessen die Bildebene sprechen lassen. Elisabeth „Lissy“ Schröder (Sonja Sutter) und Alfred Frohmeyer (Horst Drinda) leben als junges Paar in Deutschland zu Beginn der 1930er Jahre. Anfängliche Hoffnungen, sich eine kleinbürgerliche Existenz aufzubauen, scheitern an den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise. Während Lissy sich um die kleinen Sorgen des Alltags kümmert, driftet Alfred immer mehr in die „großen Sorgen“ um das „Weltjudentum“ ab und schließt sich der SA an. Tatsächlich verbessert sich nach der Machtübergabe an die NSDAP und dem Reichstagsbrand die soziale Lage der Eheleute, wenn auch auf Kosten jüdischer Nachbarn, kommunistischer Freunde und sogar dem Bruder von Lissy, der zur SA gewechselt ist, weil er der sozialen Demagogie der Nazis geglaubt hat. Er wird von ihnen als unliebsamer Quertreiber beseitigt. Auf dessen Beerdigung entscheidet sich Alfred endgültig für die Nazipartei, während Lissy ihn und das dazugehörige soziale Milieu verlässt.
Der Film ist ein hellsichtiger Beitrag zum Thema Klassenbewusstsein und beantwortet die Frage, wie man Nazi wird, vorläufig damit, dass alleingelassene Proletarier und Kleinbürger ohne angemessene Ansprache ihrer Sorgen und Nöte keine Einsicht in die fatale Entwicklung der politischen Dinge werden nehmen können. Diese Auffassung besitzt einen gewissen paternalistischen Zug, ist aber keineswegs abwertend gemeint. Ohne ihn zu kennen, hat Konrad Wolf hier Thesen des Psychoanalytikers Wilhelm Reich in Filmbilder übersetzt, die jener 1934 in seiner Broschüre „Was ist Klassenbewusstsein?“ formulierte: nötig sei die sinnvolle Vermittlung von objektiven Verhältnissen und subjektiver Existenz, wobei eben die Verzweiflung Alfreds über seine Arbeitslosigkeit oder Lissys Wunsch nach neuen Schuhen nicht mit Plattitüden oder Dogmen zu begegnen sind. Die Worte Ernst Blochs von 1935, dass Nazis betrügend sprechen, aber zu Menschen, die Kommunisten völlig wahr, aber von Sachen, gehen hier ein in eine organische Filmstruktur, die zur Aufklärung über Anpassungsmechanismen nach wie vor eine Menge beizutragen hat.
SONNENSUCHER (1958/1972)
Dass dieser Film kurz vor seiner Premiere aus außenpolitischen Gründen unter Einfluss sowjetischer Stellen nicht in die Kinos kam, bezeichnete Konrad Wolf rückblickend als äußerst hemmend für die Entwicklung des DEFA-Gegenwartsfilms. Wenn es nämlich einen realitätsnahen Eindruck von dem oft zum Schlagwort gerinnenden „schweren Anfang“ gegeben hat, dann durch den Film „Sonnensucher“, der gleich auf mehreren Ebenen die Widersprüche der Geburtswehen sozialistischer Gesellschaftsorganisation thematisiert: auf der Ebene der Arbeitsbeziehungen und der internationalen Bedingungen (Abbau von Uran unter Tage durch die sowjetische Aktiengesellschaft „Wismut“ im Erzgebirge für die Atomwaffenproduktion), auf der Ebene der bewusstseinsmäßigen Gewinnung von engagierten Staatsbürgern, die in der Praxis bemerken, dass sie für ihre eigene Zukunft tätig sind, und auf der Ebene der progressiven Integration ehemaliger Mitläufer des NS-Systems. Die Filmhandlung ist zum Teil so verworren, wie die gesellschaftliche Lage im Jahre 1950, in dem der Film spielt, tatsächlich war. Die Frauenfiguren Lutz (Ulrike Germer) und Emmi (Manja Behrens) sind zur „Wismut“ zwangsrekrutiert, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen; der Schichtleiter Beier (Günther Simon) war früher Mitglied der Waffen-SS und ist genauso misstrauisch, wie ihm Misstrauen entgegenschlägt; es gibt echte Kommunisten wie Jupp König (Erwin Geschonneck) und falsche wie den Parteisekretär (Erich Franz); und es gibt die sowjetische Besatzungsmacht, die über allem steht, aber oft nicht recht weiß, wie die Deutschen auf den Pfad der Zivilisation zurückzuführen sind.
Als der Film 1958 nicht aufgeführt wurde, sprach niemand der Beteiligten von einem Verbot, auch später nicht. Als er 1972 erstmals im Fernsehen und im Kino der DDR gezeigt wurde, war er schon veraltet. Frische gewinnt er heute wieder durch die Erinnerung an die Leistungsfähigkeit einer Generation, die aus dem materiellen und ideellen Nichts ihre Selbstachtung als Verpflichtung für sich und die Nachkommenden wiederzugewinnen trachtete.
STERNE (1959)
Der nach einem Originalstoff von Wolfs Moskauer Studienkollegen Angel Wagenstein (geb. 1922) als Koproduktion mit Bulgarien entstandene Film ist nicht allein dadurch bemerkenswert, dass er die Vernichtung der europäischen Juden durch das Deutsche Reich ins Zentrum der Handlung stellt, sondern dass er dieses zentrale Anliegen nur vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Besatzung fremder Länder artikuliert. Oder kurz gesagt: Ohne Weltkrieg kein Judenmord. Fast wie nebenbei gerät das kriegsferne Refugium des Unteroffiziers Walter (Jürgen Frohriep) in einer bulgarischen Stadt ins Wanken, als eine große Gruppe griechischer Juden vor ihrem Abtransport nach Auschwitz dort Zwangsstation macht. Walters Vorgesetzter Kurt (Erik S. Klein) ist der Besatzungsoffizier, der kein Pardon kennt, den Juden eingeschmuggelte Medizin wegnimmt und mit Essensentzug bestraft. Sein lapidares „Schneller, schneller, schneller“ beim Einstieg der Todgeweihten in die Güterwagen bleibt den Zuschauern lange im Gedächtnis. Walter beginnt, zu der Lehrerin Ruth (Sascha Kruscharska) aus dem Lager eine Zuneigung zu entwickeln und möchte zumindest sie befreien, was misslingt, da er zu spät am Verladebahnhof eintrifft. Er wird aber zukünftig den bulgarischen Partisanen helfen.
Dieser Glücksfall der DEFA, inneres Bedürfnis und antifaschistisches Bekenntnis zugleich, wurde zu einem Zeitpunkt produziert, als überwiegende Teile der Bonner Ministerialbürokratie noch darüber nachdachten, wie man die „sogenannten Kriegsverbrecher“, also kriminelle Mörder von Wehrmacht und SS, möglichst schnell wieder frei und straffrei bekommt und wie peinlich genau die Hallstein-Doktrin, also die völkerrechtswidrige Alleinvertretung der BRD für alle Deutschen einzuhalten ist. Dementsprechend redete „Der Spiegel“ am 27. Mai 1959 von einem zum Festival nach Cannes „erschmuggelten“ Film (er war als bulgarischer Beitrag eingereicht worden), der „zum Entsetzen der bundesdeutschen Cannes-Fahrer“ dort „mit einem Sonderpreis entlohnt“ wurde. Der in der Illustrierten als „KZ-Film“ bewusst völlig fehlinterpretierte Inhalt von „Sterne“ spielte hier keine Rolle, das Thema sei sogar nach Meinung eines zitierten westdeutschen Rezensenten „unwürdig verfilmt worden“. Wie danach eine „würdige“ Verfilmung hätte aussehen sollen, mag man sich ausmalen, wenn man die BRD-Stoffe zum Nazi-Thema der 1950er Jahre zu Rate zieht, die nahezu alle konkreten Herrschaftsverantwortungen weiträumig umschifften.
LEUTE MIT FLÜGELN (1960)
Hier konnte sich Konrad Wolf offenbar nicht entscheiden, welche Stoßrichtung der Film haben sollte. Er schwankt inhaltlich und formal gleichermaßen zwischen Zeitchronik, Generationenkonflikt, Läuterungsgeschichte und Aufbaufilm hin und her, was sich auch in den ästhetischen Mitteln niederschlägt. Immer wieder werden die Zeitebenen gewechselt, die Anstrengungen um die Entwicklung einer eigenständigen Flugzeugbauindustrie (die die DDR-Wirtschaft überforderte) in Konfrontation mit der kapitalistischen Produktion und der Vergangenheit der Protagonisten verwoben, wobei die häufigen Rückblenden in Schwarz-Weiß, die Gegenwartspassagen in Farbe abgefilmt sind. Der Regisseur hielt diesen Zwitter für missglückt, was sicherlich an der Unentschiedenheit des Themenschwerpunkts liegt: Mal geht es um den Verlust der Vater-Generation in Krieg und Widerstand, dann wieder um die gegenwärtigen Auseinandersetzungen über die beste technologische Vorgehensweise und die Personalausstattung des neuen Industriezweiges. Ludwig Bartuschek (Erwin Geschonneck) hat 1933 seine Familie verlassen müssen, um im Untergrund gegen die Nazis Widerstand zu leisten. Sein Sohn Hans (Hilmar Thate) wächst bei Pflegeeltern auf und sieht seinen Vater erst bei der Befreiung 1945 wieder. Die Unbändigkeit der Jugend im Aufbau kollidiert mit der Abgeklärtheit der Erfahrungen der Älteren. Hätte man den Stoff etwas kleiner arrangiert (z.B. ausschließlich in der Gegenwart), wäre sicherlich ein stringenterer Film daraus geworden.
Aber eine Richterschaft aus heutiger Sicht ist leicht zu haben, und zu leicht ignoriert man dabei den Zeitkern des Filmdokuments. Denn immerhin vermittelt „Leute mit Flügeln“ eine geistige Haltung, die der Wolfschen Empfindung entspricht. Auch wenn sich der Flugzeugbau in der Realität als „Luftnummer“ erwiesen hat, besteht der Sinn des Films in der Zusammenführung von Geschichtsbewusstsein und Leistungsprinzip, ein Element, das dem kapitalistischen Motto „Geschichte ist Quatsch.“ (Henry Ford) eindeutig zuwiderläuft, damit man gezwungen wird, darüber nachzudenken, was sich hinter Kennziffern eigentlich verbirgt und wofür produziert wird.
PROFESSOR MAMLOCK (1960)
Sein Vater Friedrich Wolf hatte eine Zeitlang gehofft, in seinem Sohn Konrad den adäquaten Filmbearbeiter der eigenen Theaterstoffe gefunden zu haben. Der frühe Tod des Vaters 1953 und das noch nicht abgeschlossene Studium des Sohnes verhinderten eine derartige Zusammenarbeit, aber auch unterschiedliche Auffassungen über die richtigen ästhetischen Zugangsweisen zum Material waren ein Hindernis. Eine erste Verfilmung von „Professor Mamlock“ in der Sowjetunion (1938, Regie: Herbert Rappaport) wurde von höchsten NS-Stellen als so wirkmächtig eingestuft, dass sie für das „Großdeutsche Reich“ auf alle Zeit verboten war.
Konrad Wolf erfüllte mit dem Film ein Vermächtnis. Das humanistische Lebensideal des Chefarztes Hans Mamlock (Wolfgang Heinz), das er seiner Familie, den Freunden und den Arbeitskollegen weitergeben möchte, wird durch die Politik in Deutschland 1933 jäh zerstört. Sein Sohn (Hilmar Thate) ist kommunistisch aktiv und alsbald in die Illegalität gezwungen, seine Tochter (Doris Abeßer) wird in der Schule mit „Juden raus!“-Rufen attackiert, selbst seine Frau (Ursula Burg) verdächtigt ihn aufgrund seiner angeblichen „Rasse“. Der klarste Kommentar zum Thema stammt von einem Kollegen Mamlocks (Peter Sturm): „Ich bin Jude, die (die Nazis – D.K.) haben’s mir beigebracht.“ Die inhaltliche Hauptlehre des Stücks wird im Film deutlich benannt, dass es nämlich kein größeres Verbrechen gibt, als nicht kämpfen zu wollen, wo man kämpfen muss. Reihenweise fallen die ehemaligen Mitstreiter um und lassen Mamlock verzweifelt zurück, der keinen anderen Ausweg als den Selbstmord sieht.
Die filmische Lösung umgeht die Fallstricke eines einfach nur bebilderten Theaters. Obwohl häufig auf die zweidimensionale Enge der Innenräume beschränkt, nutzt Konrad Wolf die in seinen früheren Filmen eingeübte Technik der Kombination von Halbtotalen und Großaufnahmen, die hier stimmig verwendet wird. Der Perspektivwechsel der Kameraführung ist der jeweiligen Handlungssituation angemessen. Zweifellos lebt der Film von der hervorragenden Schauspielerführung und der textlichen Genauigkeit, die jedoch ohne die Exaktheit des Bildarrangements leicht hätten verpuffen können. Umso unverständlicher erscheint aus heutiger Sicht, dass die zeitgenössische Kritik dem Film gerade die formale Beschränktheit auf rein theatralische Methoden vorwarf. „Professor Mamlock“ war in der DDR Schulstoff und gehörte in Drama- und Filmfassung zur Allgemeinbildung.
DER GETEILTE HIMMEl (1964)
Die eigenwillige Verfilmung des gleichnamigen Romans von Christa Wolf (1929-2011) erscheint in mehrerer Hinsicht als Kompromiss: Nicht weltanschaulich oder inhaltlich, da ist die Aussage eindeutig. Die Liebesbeziehung zwischen Rita (Renate Blume) und Manfred (Eberhard Esche) scheitert an seinem Weggang aus der DDR in die BRD, der vermeidbar war. Kompromisshaft sind eher die Auswahl des Stoffes, seine nicht ganz durchgehaltene asynchrone Umsetzung und die gewissermaßen erst „verspätet“ eintretende Zielstellung.
Aus der eher ausufernden Erzählweise der Literaturvorlage ist ein Film entstanden, dem die Diskrepanzen und Ungereimtheiten des Textes noch anhaften. Zwar gelingt hier eine Abschwächung durch den kühlen Ton der Erzählstimme (Lissy Tempelhof), nicht immer jedoch wird das Verbleiben auf weniger wichtigen Nebenschauplätzen (z.B. beim Elternhaus Manfreds) verhindert, während die eigentlichen Hauptpersonen, der Pädagogikdozent Schwarzenbach (Günter Grabbert) und der ehemalige Brigadier Meternagel mit der „rückläufigen Kaderentwicklung“ (Hans Hardt-Hardtloff), charakterlich unscharf bleiben. Hinzu kommt, dass Manfreds Argumentation für seine Abkehr vom Sozialismus mit zunehmender Film-Zeit einen plakativ misanthropischen Zug aufweist, der unmotiviert von seiner prinzipiellen Kränkung, als Ingenieur in seinem Habitus zu wenig gewürdigt worden zu sein (was nicht die Aufgabe der von ihm verlassenen Staatsordnung war), ablenkt.
Durch die Grenzschließung vom 13. August 1961 in Berlin war eine Ausreise per S-Bahn-Fahrt, ebenso wie die von Rita praktizierte Rückkehr, nicht mehr möglich. Damit war der Film in seinem faktischen Eingriffspotential für die damalige Diskussion etwas beschnitten. Der Vorwurf allerdings, den vor allem westdeutsche Rezensenten im Nachhinein erhoben, die Szenen mit Rita und Manfred in Westberlin seien misslungen, überzeugt nicht, denn gerade aus Ritas Perspektive ist man im Westen „auf schreckliche Weise allein“, wenn man nämlich, in der Umgebung einer kapitalistischen Gesellschaft, den Idealen des Sozialismus weiter folgt. Auf andere Weise kam der Film wiederum auch etwas verfrüht, denn er war Konrad Wolfs Beitrag zur Forcierung der angestrebten Debatte in der DDR, wie Anpassung, Misstrauen und eine elternlose Gesellschaft innerhalb des Sozialismus zu thematisieren wären. Auf dem XI. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 wurde dieser Debattenstrang für das DEFA-Schaffen vorerst abgebrochen – Wolf nahm ihn in einigen seiner kommenden Filme auf verschiedene Weise wieder auf und präzisierte damit seine Stellung zur Innensicht auf die DDR.
DER KLEINE PRINZ (1966/1972)
Das ist weit mehr als eine Fingerübung. Gleich Erich Kästners (1899-1974) Grundsatz, dass nur, wer Kind bleibt, auch Mensch sein kann, ist Konrad Wolfs Version des Buches von Antoine de Saint-Exupéry (1900-1944) eine konsequente Fortführung seiner humanistischen Position. In stark stilisierten und genau komponierten Bildern entwirft der Film die Phantasiewelt des Prinzen (Christel Bodenstein) im Dialog mit dem in der Wüste gestrandeten Piloten (Eberhard Esche), die nun beide zu der Erkenntnis kommen, dass man sich miteinander vertraut machen muss, um zueinander zu finden, und man nur mit dem Herzen gut sieht. Die Beschreibungen des Königs (Wolfgang Heinz), des Eitlen (Horst Schulze), des Geschäftsmannes (Jürgen Holtz) und des Laternenanzünders (Fred Düren) erreichen immer noch die Strahlkraft der Entlarvung einer völlig entfremdeten Gesellschaft, sofern die Metaphorik ernstgenommen wird, die zu Gebote steht: Die Absurdität menschlicher Verhaltensweisen beruht auf dem Zwang der Verhältnisse und nicht auf einer vermeintlich „angeborenen“ Wesens-DNA der Spezies, wie es Existenzialismus und Fundamentalontologie bis dato behaupten. Schlange (Inge Keller) und Fuchs (Klaus Piontek) dienen als Medien der Wahrheit: Gefahr und Zähmung verschaffen in vernunftgemäßer Ausbalancierung einen sozialen Ausgleich, der freilich ständiger Pflege bedarf, so wie die einzigartige Rose, die der kleine Prinz akribisch zu versorgen hat.
In einem Prolog und einem Epitaph auf den Autoren unter Verwendung einer Ballade, gesungen von Manfred Krug, wird auf die gesellschaftliche Brisanz des Stoffes anhand von Standfotos zu Krieg und Frieden aufmerksam gemacht. Das ist alles andere als überflüssig, denn die Betonung der damals aktuellen Diskrepanz zwischen dem sozialistischen Friedenswillen und eines wenig friedlichen globalen Weltzustandes verstärkt souverän die Botschaft der Fabel mit Hilfe einer realitätsgerechten Rahmung. Weil die Urheberrechte für eine Verfilmung nicht erworben worden waren, hatte der Fernsehfilm erst im Mai 1972 seine Premiere und konnte bis 2015 nur selten gezeigt werden.
ICH WAR NEUNZEHN (1968)
Hauptheld Gregor Hecker (Jaecki Schwarz) kommt ursprünglich aus Köln, aber der sowjetische Befehlshaber kann ihm seine Heimatstadt nicht bieten, sondern nur Bernau. Hier ist er nun für zwei Tage Stadtkommandant, der Ort ist im April 1945 fast leer, nur das Bürgermeisterpaar hat eine rote Fahne aus dem Fenster gehängt, in der der weiße Kreis und das schwarze Hakenkreuz mit rotem Stoff zugenäht sind. Das ist die Lage in Deutschland am Ende des Zweiten Weltkrieges.
Es ist auch die Lage für den Deutschen Hecker in der Uniform eines Leutnants der Roten Armee und damit Wolfs kaum verfremdete eigene Geschichte.
Wie wird man Nazi? Hier ist die Frage aus dem Blickwinkel des Antifaschisten, Exilanten, Wiederkehrenden und Heimat-Suchenden gestellt. Und die Antworten können keine anderen sein als die der Befreier, Sieger und Besatzer. Es sind, angesichts der Abgründe durch imperialistischen Eroberungskrieg, demagogischer Überwältigung und aktiver Selbstgleichschaltung der deutschen Gesellschaft, die richtigen, wenn auch noch unfertigen. Der Film ist nach einer tagebuchartigen Chronik der letzten Tage vor der deutschen Kapitulation aufgebaut und nimmt möglichst viele typische Endzeitsituationen dieser Zeit in den Blick: die Ohnmacht der Zivilbevölkerung, die Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen – unter Verwendung von Ausschnitten aus dem Dokumentarfilm „Todeslager Sachsenhausen“ (1946, Regie: Richard Brandt) –, die verbrämte Rechtfertigung der NS-Ideologie durch Repräsentanten des deutschen Bürgertums, die Wut der befreiten Antifaschisten sowie die sinnlose Opferung von Menschen, längst nachdem der Ausgang des Krieges entschieden ist.
Ursprünglich unter dem Arbeitstitel „Heimkehr 45“ konzipiert, besticht der Film durch seinen graduellen Wechsel aus objektivem Anspruch und subjektiver Sichtweise der Hauptfigur. Wesentliche Informationen des Frontverlaufes, seiner Ursachen und Folgen im Kampf um Berlin werden realitätsgerecht aufbereitet und immer wieder durch die individuellen Reaktionen reflektiert, dabei teilweise bestätigt wie auch teilweise gebrochen. Einiges ist nur angedeutet (Vergewaltigungen, Selbstjustiz), anderes wiederum ausführlich dargelegt; vor allem zeigt sich dabei eine Nachdenklichkeit, die sich zwingend auf das Publikum überträgt. Das gilt z.B. gleichermaßen für die Wahrnehmung des als Dorfbürgermeister eingesetzten alten Kommunisten (Walter Bechstein) wie für den sich aus der Zitadelle Spandau absetzenden jungen Wehrmachtsoffizier (Jürgen Hentsch), deren Wege sich im Abstand der Jahre mit Sicherheit in höchst unterschiedlichen Nachkriegswelten wiedergefunden haben werden. Die vielen gewissenhaften „Denkanstöße“ des Films fanden daher zu Recht in der DDR große Resonanz. Einzelne westdeutsche Rezensenten sahen hingegen in dieser Komplexität der Erfahrung eine „Schule der Lethargie“ am Werk, was offenbar auf einer Verkennung des Gegenstandes und der ästhetischen Mühe seiner Bewältigung basierte. Am Nullpunkt der modernen Zivilisation, die der Faschismus darstellt, ist einzig das vernunftgeleitete Gegenbild aus der Perspektive seiner Gegner und Opfer das berechtigte.
GOYA – ODER DER ARGE WEG DER ERKENNTNIS (1971)
Der zweiteilige Film nach dem gleichnamigen Roman von Lion Feuchtwanger (1884-1958) hatte eine lange Produktionsvorgeschichte, die bis Anfang der 1960er Jahre zurückreichte. Für ein derartiges Großprojekt waren viele Hemmnisse zu beseitigen, nicht nur rechtliche und finanzielle, sondern auch logistische. Nachdem sich Überlegungen zum Dreh an spanischen Originalschauplätzen zerschlagen hatten, konnte mit sowjetischen Partnern eine Koproduktion realisiert werden.
Der königliche Hofmaler Francisco de Goya (Donatas Banionis) gerät während der napoleonischen Besatzung Spaniens zunächst in kreative Zweifel an seiner Tätigkeit, die sich dann schrittweise durch die politischen Umstände und das Schicksal von Mitbürgern zu einer existentiellen Krise ausweiten. Der „arge Weg der Erkenntnis“ führt ihn weg von der institutionalisierten Tyrannei des Hofstaates, hin zur Tonlage des einfachen Volkes, den Rat des Revolutionärs Jovellanus (Ernst Busch) befolgend, wonach kein Künstler der Politik fernbleiben kann. Die berühmten Bilder und Zeichnungen Goyas aus dessen später Schaffensperiode über die Erschießung der Aufständischen und die vielen Dämonen, die Spanien quälen, bilanzieren sich zu gleichen Teilen in Goyas Ausspruch, dass die Ungeheuer immer dort geboren werden, wo die Vernunft schläft, und in der Entscheidung der Inquisition, dass dieses Gedankengut mit Goyas Werk dem „ewigen Vergessen“ übereignet werden muss.
Zweifellos ist dieser Film im Gewand der historischen Parabel vor allem eine Selbstverständigung des Künstlers Konrad Wolf. Er dürfte jedoch weniger als unmittelbarer Schlüsselfilm auf eine defizitäre Praxis des Sozialismus zu verstehen sein, denn er zielt viel allgemeiner auf das generell nötige Erkenntnisinteresse ästhetischer Arbeit im Verhältnis zu außerkünstlerischen Belangen, womit sämtlichen Anwandlungen eines „neutralen“ überzeitlichen Kunstbegriffes ohne politische Bedeutung oder Funktion eine Absage erteilt wird. Sicher ist dies nicht ohne Rückbezug auf Wolfs eigenen Lebenskontext einzuordnen, es zeigt sich indes, dass die behandelten Probleme aus Roman und Film keine strikte Opposition zwischen Staat und Künstler/Intellektuellen aufmachen, sondern die Problematik erörtern, welche Staatsform bzw. welche Existenzgrundlagen für eine vernunftgemäße Ästhetik notwendig und hinreichend sind. Hier schwingt, deutlicher als in anderen Filmen von Konrad Wolf, die Überzeugung mit, dass Kunst ohne politische Verantwortung für die Veränderung der Welt keine ist.
DER NACKTE MANN AUF DEM SPORTPLATZ (1973)
Konkreter zum Verhältnis von Kunst, Alltag und Arbeit in der DDR ist kein anderer Film, dem es damit gleichzeitig gelingt, so etwas wie den Atem dieses Landes in ruhigen Zügen und mit ausreichend Zeit einzufangen. Die erste Zusammenarbeit mit dem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase (geb. 1931) führt die Zuschauer in den Arbeits- und Lebensrhythmus des Bildhauers Kemmel (Kurt Böwe), der beauftragt wird, für den ortsansässigen Sportverein eine Skulptur anzufertigen. Vorbild für die Figur Kemmels ist der Bildhauer Werner Stötzer, der im Film den Bürgermeister verkörpert. In Parallelgeschichten werden Episodenstränge der Aktivitäten von Kemmel beleuchtet, die von den Beziehungen zu seiner Frau Gisi (Ursula Karusseit) und seinem Sohn, vom öffentlichen Umgang mit seiner Kunst, dem privaten Kunstgeschmack der Nachbarn sowie historischen Reflexionen berichten. Dabei kommen geschichtlich und politisch relevante Fixpunkte der DDR-Realität in den Blick, die sich zu einem dokumentarischen Mosaik verdichten: Kemmels Relief „Bodenreform“ steht im Feuerwehrturm der LPG, statt ausgestellt zu werden, weil ihm angeblich Optimismus fehlt. Gleichzeitig fordert diese Kunst zur Stellungnahme heraus. Gisis Übersetzungsarbeiten über das System der Konzentrationslager und Vernichtungsstätten des deutschen Faschismus lassen Kemmel nicht los, er bleibt aber mit dieser Beschäftigung ziemlich allein. Schließlich wird auch der Modellkopf des ausgesuchten Brigadiers (Martin Trettau) für die Sportlerskulptur gar nicht verwendet, obwohl er vorher als ideale Vorlage erschienen ist. Im Gespräch zwischen Kemmel und dem Brigadier gegen Ende des Films über die Bedeutung der Kunst, auch der vormals unverstandenen, wird der Prozesscharakter ästhetischer Wahrnehmung letztlich positiv bewertet: „Mit der Zeit sieht man doch hin.“
Im Gegensatz zu seiner nicht hoch genug einzuschätzenden Spätwirkung über Einsichten und Durchsichten sozialistischer Normalität und den Bedingungen ihrer Diskussionskultur, die eine Vielfalt von Meinungen und Werten bezeugen, welche weitab von retrospektiv behaupteten monolithischen Abqualifizierungen der DDR liegen, erreichte der Film nach seiner Uraufführung nur wenige Kinobesucher. Ein Grund dafür dürfte aus heutiger Sicht die eigentümliche Selbstverständlichkeit der Problembehandlung gewesen sein, die dem damaligen Publikum möglicherweise zu allgegenwärtig und banal erschienen sein mochte, weil es um Dinge ging, die jeder aus seinem persönlichen Umfeld kannte. Die Kunstbetrachtungen sind aber auch ein Katalysator: Kemmel ist sozusagen die progressive Anwendung Goyas für den Sozialismus.
MAMA, ICH LEBE (1976)
Es sind Dinge, die natürlich an „Ich war neunzehn“ anschließen, nur diesmal zeitlich und örtlich zurückversetzt, in den Krieg, in die Gefangenschaft, für eine deutsche Umkehr im „Nationalkomitee Freies Deutschland“ und damit als erneutes Gespräch über die Schwierigkeiten des Umerziehungsanspruches vom Nazi zum bewusst denkenden Sozialisten. Von den vier Wehrmachtsangehörigen Becker (Peter Prager), Pankonin (Uwe Zerbe), Koralewski (Eberhard Kirchberg) und Kuschke (Detlef Gieß), die den Antifa-Kurs im sowjetischen Kriegsgefangenenlager absolviert haben und nun auf den Einsatz gegen die deutsche Kriegsmaschine vorbereitet werden, überlebt am Ende nur einer. Auf der Reise in ihr zugewiesenes Verwendungsgebiet entwickeln sich Diskussionen, Auseinandersetzungen und Betrachtungen über Erlebtes und Zukünftiges, flankiert von Einlassungen des sowjetischen Führungspersonals. Da wundert sich mancher über spontane Bekundungen der Deutschen zur Zukunft des eigenen Landes im Sozialismus, und andere in der Roten Armee differenzieren nunmehr (1944) zwischen zwei Arten von Deutschen, Faschisten und Antifaschisten, was im Zuge der deutschen Aggression in den Jahren davor noch undenkbar erschien.
In keinem anderen Film, abgesehen vielleicht von „Sonnensucher“, hat Konrad Wolf hier versucht, sowjetische und deutsche Argumentationslinien miteinander zu versöhnen. Jener Verständigungsaspekt des Textaufbaus steht absolut im Zentrum der filmischen Durchdringung des Themas, so dass diesem Anspruch die formalen Gestaltungskriterien deutlich untergeordnet werden. Die Konventionalität der Machart springt ins Auge, auch wenn Anleihen bei der sowjetischen Filmpoesie (Tarkowski, Schukschin, German) auffindbar sind. Die Rücknahme ästhetischer Eigenwilligkeiten dürfte gewollt gewesen sein, damit das Publikum auch keine der gesprochenen Aussagen verpasst oder überhört. Man merkt diesen Anspruch im Nachhinein noch zusätzlich, wenn man sich parallel dazu Gitta Nickels Konrad-Wolf-Porträt von 1977 ansieht, das von der Produktion und den Filmclubgesprächen berichtet. Dort ist auch angedeutet, dass das, was eigentlich einen Abschluss des Nachdenkens über den schwierigen deutsch-sowjetischen Brückenschlag bilden sollte, zu einem noch intensiveren Weiterdenken Anlass gab.
SOLO SUNNY (1980)
„Fräulein“ Ingrid Sommer, Künstlername Sunny (Renate Krößner), ist Sängerin und wird es bleiben. Autor und Co-Regisseur Wolfgang Kohlhaase hat für den Anfang des Films den wohl prägnantesten Dialog der DEFA-Geschichte geschrieben: Sunny im Bademantel, morgens, Blick Richtung Bett,
Sunny: „Is‘ ohne Frühstück.“
Mann (Michael Christian): „Wat soll denn det? Deinetwejen bin ick extra nich‘ arbeiten jejangen.“
Sunny: „Ist ja auch ohne Diskussion.“
Mann: „Det find‘ ick aber ausjesprochen unfreundlich.“ (Pause) „Warum hast’n mich denn mitjenommen?“ (Pause, inzwischen aufgestanden) „Wo issen det Klo?“
Sunny: „‘Ne halbe Treppe tiefer, da ist der Schlüssel.“ (Pause) „Möchst’n Kaffe?“
Mann: „Wat soll ick mit Kaffe?“ (geht ab, Kaffeewasser pfeift im Kessel)
Mehr kann man auf diesem knappen Raum über die mentalen Belange der DDR nicht ausdrücken. Sunny ist kein Hotel, die Leistung der zusammen verbrachten Nacht hat beidseitig zu stimmen, die Arbeitsabstinenz des Mannes ist ohne gravierende Sanktion möglich (wenn sich auch Diskussionen über Arbeitsmoral anschließen müssten, die den Sozialismus weit mehr treffen als den Kapitalismus), es gibt Informationen über die Wohnraumstruktur, und schließlich ist Kaffee am Morgen offenbar auch nicht jedermanns Sache. Ins Analytische gewendet heißt das aber: Frauen in der DDR ließen sich weder alles gefallen, noch waren sie unselbständig. Die dazugehörigen Männer konnten schon damals verunsichert werden. Das Fernbleiben vom Arbeitsplatz ließ sich verkraften (ein Unding unter kapitalistischen Verhältnissen, zumindest im Wiederholungsfalle). Eine Außentoilette war im Altbau nichts Ungewöhnliches, weshalb die bald als „Platte“ verrufenen Neubauwohnungen von vielen auch so begehrt wurden. Entscheidend ist aber vor allem der moralische Zugriff auf die Alltagsbeziehungen: Niemand hat behauptet, dass es einfach ist, aber niemand kann behaupten, dass sich hier Personen bewegen, die nicht mit Geist, Haltung und Bewusstsein ausgestattet sind. Der Film entfaltet in seiner Einfachheit und seinem Verständnis für Gefühl und Verstand der Protagonisten ein authentisches Porträt über den Lebenszustand der mittleren DDR-Generation am Beginn der 1980er Jahre. So weit war die Beantwortung der Frage, wie eine Gesellschaft vernünftig nach sozialistischen Kriterien zu organisieren sei, also bei Konrad Wolf schon fortgeschritten.
Der Werkzusammenhang wäre unvollständig, wenn nicht noch auf die sechsteilige Dokumentation „Busch singt – Sechs Filme über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts“ zumindest hingewiesen würde, die 1982 im Auftrag der Akademie der Künste der DDR unter der künstlerischen Oberleitung von Konrad Wolf entstanden ist. Der Regisseur war von 1965 bis zu seinem Tode der immer wiedergewählte Akademiepräsident und verantwortete die Teile 3 „1935 oder das Faß der Pandora“ und 5 „Ein Toter auf Urlaub“ selbst, während er die Entstehung des 6. Teiles „Und weil der Mensch ein Mensch ist“ nicht mehr erlebte. Die Lebens- und Kampfkraft des Revolutionärs, Sängers und Schauspielers Ernst Busch (1900-1980) bekam in dem Filmzyklus ein würdiges Erinnerungsausrufezeichen und bezeugte einmal mehr den Stellenwert der Geschichte im künstlerischen Wirken von Konrad Wolf, die für ihn nie als abgeschlossen galt.
Kurz vor seinem zu frühen Tod im März 1982 formulierte er eine Art geistiges Testament mit folgenden Worten:
„Die politische Eigenverantwortlichkeit kann dem Kommunisten, der Künstler ist, niemand abnehmen. Man kann sie so oder so beeinflussen
- durch lebendige, nicht dogmatisch-scholastische Wissensvermittlung,
- durch gesellschaftspolitische Anregungen, nicht formal-bürokratisches Administrieren,
- durch Kritik, die Denkanstöße gibt, nicht Zensuren verteilt oder bemüht ist, eigenes Denken durch Rezepturen zu ersetzen,
- durch Vertrauen, das fordert und fördert.
Und doch: über allem steht die Eigenverantwortung als unlösbarer Bestandteil der politisch-ideologischen Gesamtverantwortung des großen Kampfbündnisses der deutschen Kommunisten. Diese Verantwortung voll wahrzunehmen, bedeutet Mut und Risikofreudigkeit.
Sie bedeutet auch politische, philosophische Nüchternheit, Klarheit und Realitätsgefühl.
Diese Fähigkeit wünsche ich mir, wünsche ich uns allen für heute, für morgen.“
(4.-15. Juni 2018)