Filmstill zu "Lotte in Weimar"

Kulturelles Gedächtnis.

Das DVD-Label Icestorm

von Jörg Gerle

Mehr als drei Jahrzehnte war der „Tanz der Zuckerfee“ aus Tschaikowskis „Nussknacker“ „die“ Erkennungsmelodie im DDR-Fernsehen, wenn es um Filmklassiker ging. Zu dem mysteriösen Glöckchenklang stieg Willi Schwabe in seine Rumpelkammer im verstaubten Keller, um anhand vergilbter Fotos und Requisiten die Geschichte des Films Revue passieren zu lassen. Für eine Stunde war die Welt ohne Schranken, standen UFA-Klassiker gleichberechtigt neben dem osteuropäischen Unterhaltungsfilm, waren Frank Schöbels Sternstunden der DEFA-Schmiede im Einklang mit Stan & Ollie und Errol Flynn. Etwas von diesem angenehmen „Rumpelkammer-Gefühl“ überträgt sich, wenn man sich die bislang rund 300 Veröffentlichungen von Icestorm Entertainment betrachtet. Wozu auch eine Aussage von Gerhard Sieber passt, dem geschäftsführenden Gesellschafter des Ende 1997 gegründeten Unternehmens: „In unserer Arbeit sehen wir die Chance, das Verständnis zwischen West und Ost zu fördern. Film und Medien spielen seit Generationen eine wichtige Rolle in unserem gesellschaftlichen und politischen Leben. Wir können einander nur dann verstehen, wenn wir die ‚medialen’ Einflüsse, denen der Bürger im Ost- und Westteil Deutschlands und Europas ausgesetzt war, kennen lernen und aus dem heutigen Kontext beleuchten.“

So versteht sich das vor allem Filme aus dem DEFA-Archiv (sowie der ehemaligen UdSSR) vertreibende DVD-Label als Gedächtnis einer Kultur, die heutzutage allzu oft verdrängt wird; ein politisches Sendungsbewusstsein ist also durchaus intendiert, freilich ohne klassenkämpferische Attitüde, dafür mit dezenter Subversivität, wie sie einst Willi Schwabe auf dem umgekehrten Weg praktizierte, als er den Westen ins DDR-Fernsehen schmuggelte und seine Rumpelkammer zur (relativ) wertfreien Plattform einer Art von Gegenkultur avancierte. Icestorm ist freilich weit mehr als eine kulturpolitische Plattform. Das Ziel des Teams um die Geschäftsführer Gerhard Sieber und Brigitte Miesen ist es schlicht und ergreifend, Filmgeschichte am Leben zu erhalten. Icestorm besitzt die weltweiten Video- und DVD-Verwertungsrechte der DEFA-Produktionen. Die bislang 31 veröffentlichten Märchenfilme, darunter etwa „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ (CSSR/DDR 1974) von Václav Vorlicek und Paul Verhoevens „Das kalte Herz“ (1950), sowie die gut 100 Spielfilme, Dokumentar- und Fernsehproduktionen aus DDR-Zeiten markieren gerade mal die Spitze des Eisbergs, dessen Korpus von rund 20.000 Filmen noch viele Entdeckungen ermöglicht.

Dabei sind das Besondere an der Icestorm-Staffel weniger Klassiker wie Beyers „Spur der Steine“, Staudtes „Der Untertan“ oder Konrad Wolfs „Solo Sunny“. Zwar sind gerade diese Filme im Rahmen der bescheidenen finanziellen Mittel der Firma überdurchschnittlich gut auf DVD präsentiert und wurden mit Sekundärmaterial (Porträts, Analysen des entstehungsgeschichtlichen Kontexts) versehen, doch sind es die „Alltagsfilme“, die Nebenwerke und die verdrängten Meisterwerke, die die Bedeutung des Labels ausmachen. So erschien zum aktuellen DEFA-Jubiläum eine Box mit vier exemplarischen Musikfilmen des Publikumslieblings Frank Schöbel, die in den 1960er- und 1970er-Jahren zum Inbegriff des DDR-Unterhaltungsfilms avancierten. Die aufwändig erstellte Box enthält als Bonus eine CD mit Schöbels bekanntesten Schlagern, darunter aus dem (bislang unveröffentlichten) Soundtrack zu „Hochzeitsnacht im Regen“ oder dem Hitparaden-Stürmer „Heißer Sommer“. Die bislang ambitionierteste DVD wurde zu Ernesto Remanis Gesellschaftsdrama „Die Schönste“ (1958) herausgegeben (vgl. fd 15/02): Die Doppel-DVD enthält nicht nur die rekonstruierte 81-minütige Fassung aus dem Jahr 1957 sowie die auf 68 Minuten gekürzte, teils neu gedrehte, dann ebenfalls verbotene Fassung von Walter Beck (1959), sondern auch umfangreiches Wort- und Bildmaterial, das die Odyssee des Films analysiert. Peu à peu zum Verkaufsschlager avancierte die DVD zu Frank Beyers KZ-Tragödie „Nackt unter Wölfen“. Der 43 Jahre alte Film wurde bemerkenswert gut digital transferiert und durch seltene Wochenschauberichte über die Darsteller (Erwin Geschonneck, Armin Mueller-Stahl) ergänzt. Zudem erhält die DVD durch eine eigens produzierte Kurzdokumentation über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsfilm ein wissenschaftliches Fundament. Mit solchem Engagement hat Icestorm den reinen Vermarktungsaspekt längst hinter sich gelassen und ist zum wichtigen Vermittler jener deutschen Filmkultur avanciert, deren Lobby nicht die stärkste ist.

Jörg Gerle (filmdienst Sonderheft 10/2006)

Im Internet: www.icestorm.de

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