Mehrere Leben.
Ein Gespräch mit Valeska Grisebach
von Margret Köhler
Im Wettbewerb der diesjährigen „Berlinale“ galt Valeska Grisebachs berührende Dreiecksgeschichte „Sehnsucht“ als die große Überraschung. Still und stark erzählt sie darin mit Laiendarstellern vom wirklichen Leben, von Abschied, Verzicht und tiefen Gefühlen. Ein DEFA-Stipendium ermöglichte ihr eine breit angelegte Recherche. „Sehnsucht“ kommt im Herbst in die Kinos.
Wie kam es zu diesem Projekt?
Grisebach: Manchmal ist es so, dass ich nur eine Art Überschrift im Handgepäck habe, ein Wort oder eine Stimmung, einen Gedanken. In diesem Fall war es der Titel „Sehnsucht“. In meinem letzten Film „Mein Stern“ hatte ich mit Jugendlichen an der Schwelle des Erwachsenenlebens zu tun, ihren Erwartungen und den Versprechungen. Mich interessierte dieser Moment, in dem schon etwas mehr Zeit abgelaufen ist, man mitten im Leben steht und trotzdem noch viele Sehnsüchte bestehen. Außerdem hat es mich angerührt, dass man neben dem Leben, das man führt, immer noch einer Fantasie nachhängt, wie man das Leben leben könnte.
Sie sagten einmal, dass ein Leben zu klein sei. Möchten Sie mehrere Leben auskosten?
Grisebach: Eine spannende Idee. Man kann aber auch versuchen, seinem Leben einfach mal eine kleine Kurve zu geben oder vom Weg abzukommen. Da merkt man an sich selbst, wie man mit Tunnelblick auf einer geraden Straße entlang marschiert und nicht links oder rechts schaut. In meinem Leben hat sich viel durch Umwege ergeben; die halte ich für wichtig.
Sie erhielten von der DEFA-Stiftung ein Recherche-Stipendium?
Grisebach: Ein Jahr lang monatlich 1000 Euro. Ich habe mich beworben, weil die Recherche für mich die Voraussetzung für einen guten Film ist. Für das Schreiben ist es nicht so einfach, eine Förderung zu erhalten. Die DEFA-Stiftung ist auch für Projekte offen, die vielleicht etwas anders als normal funktionieren. Als Bewerbung habe ich einen sehr ausführlichen Text geschrieben – auch mit den Überschriften der Recherche und mit bestimmten Vorstellungen über das mögliche Resultat – und mich sehr gefreut, als alles klappte.
Mussten Sie eine Art Mini-Exposé vorlegen?
Grisebach: Ich habe aufgelistet, mit wem ich sprechen, wen ich interviewen möchte, welche Milieus mich beschäftigen, was ich für Situationen und Szenen suche, welche Informationen ich benötige. Wie ein Pfadfinder, der einen bestimmten Weg vor Augen hat, aber noch nicht genau weiß, wo er am Ende landet. Nach diesem Jahr habe ich ein Treatment für die Geschichte angefertigt und kleine Erfahrungen in Form eines Berichts aufgeschrieben.
Nimmt so ein Stipendium den Stress weg?
Grisebach: Die Zeitspanne von einem Jahr erleichtert einiges. Ich schreibe natürlich so wie jeder andere Drehbuchautor auch, aber ich kann mich nicht allein in ein Zimmerchen setzen, das würde mich auf Dauer unglücklich machen. Das liegt teilweise daran, dass ich vorher Dokumentarfilme gemacht habe. Ich mag Kontakte, aus dem Haus gehen und etwas erleben, erfundene Geschichten mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Deshalb ist für mich sicherlich ein lustvoller Moment dabei, das auch den Druck wegnehmen kann. Am Ende ist der Druck dann doch wieder da, weil man sich irgendwann hinsetzen muss, um zu schreiben.
Wird Recherche bei uns stiefmütterlich behandelt?
Grisebach: Ich bin zu schüchtern, um zu behaupten, dass das so ist. Meine Arbeit an „Sehnsucht“ und „Mein Stern“ wird immer so herausgehoben, aber ich nehme an, dass andere ähnlich arbeiten.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit 3sat und dem Produzenten Peter Rommel?
Grisebach: Als ich mich bei der DEFA-Stiftung beworben habe, war ich schon mit 3sat in Kontakt. Es gab durchaus den Wunsch, erneut zusammenzuarbeiten. Peter Rommel habe ich nach der Fertigstellung des Treatments angesprochen. Ich kannte ihn vorher nicht. Von der ersten Idee bis zum fertigen Film dauerte es dann ungefähr drei Jahre.
„Sehnsucht“ ist Ihr erstes größeres Projekt. Wo lagen die Stolpersteine für eine Newcomerin?
Grisebach: Ich bin auf viel Unterstützung gestoßen, das Projekt ging zügig durch und wurde von 3sat wie auch dem Kleinen Fernsehspiel unheimlich unterstützt. Von Förderseite merkte ich manchmal Irritationen, vielleicht, weil mein Arbeiten nicht dem klassischen Konzept entspricht. Oft herrschen klare Vorstellungen darüber, wie das Prozedere abzulaufen hat. Wenn jemand aus der Reihe tanzt, wird es kompliziert. Das verringert das Vertrauen. Wenn man andere Zeitläufe braucht, oder in den Arbeitsabläufen den zeitlichen Rahmen sprengt oder andere organisatorische Bedürfnisse hat, kann das die Sache erschweren. Das hat aber vielleicht weniger damit zu tun, dass man Newcomer ist. Auf der einen Seite steht die Film-Maschinerie mit ihren Bedürfnissen, auf der anderen die persönliche Situation beim Filmemachen, stehen die Ansprüche. Das miteinander zu verbinden, ist sowieso ein Thema. Ich habe Glück gehabt. Man muss bei sich bleiben und immer wieder darauf achten, was die eigene Fährte ist.
Was war das Schwierigste?
Grisebach: „Mein Stern“ war eine Co-Produktion zwischen der Filmhochschule Wien, der Babelsberger Hochschule und mir und entstand mit sehr viel weniger Geld. Was ich auf eine gewisse Art und Weise leichter empfinde, weil es die Möglichkeit zur unkonventionellen Arbeit eröffnet, einfach was den filmischen Ablauf betrifft. In dem Moment, wo mehr Geld – wir hatten ein Budget von einer Mio. Euro – zur Verfügung steht, muss die Maschinerie laufen, gleichzeitig muss man sich aber auch diesen Platz schaffen und das auch vermitteln. Mit mehr Geld ist ein anderes Risiko verbunden. Das auszuhalten, war schwierig. Die Schnittphase entpuppte sich als harte Nuss.
Wird bei uns genug für den Nachwuchs getan?
Grisebach: Ich frage mich immer, wie es nach dem zweiten Film weitergeht. Manchmal habe ich den Eindruck, es gibt jedes Jahr diesen Heißhunger auf Frischfleisch. Mich beschäftigt die Frage, inwieweit Biografien unterstützt werden oder längere Arbeitsleben. Was passiert, wenn das Kleine Fernsehspiel nach zwei oder drei Filmen nicht mehr mitproduzieren darf? Ich vermute, dass dann die Luft dünner wird oder werden kann.
Wie hat sich die positive Resonanz von der „Berlinale“ ausgewirkt?
Grisebach: Es gab jedenfalls kein neues Angebot. Vielleicht hat man mich auch schon einsortiert. Ich weiß nicht, wie ich die Außenwahrnehmung einschätzen soll. Vor und während der „Berlinale“ hatte ich weiche Knie und dachte, hoffentlich hält der Film das aus. Man kommt plötzlich aus diesem kuscheligen Versteck heraus.
Stehen Sie jetzt unter Erwartungsdruck?
Grisebach: Die „Berlinale“ ist eine Sache. Die Aufnahme im Kino ist die zweite Sache, „Sehnsucht“ startet im Herbst. Ich hoffe, dass der Druck aufhört oder sich zumindest ein wenig legt, je erwachsener man als Filmemacherin wird.
Sie haben für „Sehnsucht“ rund 200 Interviews geführt. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Grisebach: Ich habe immer die gleichen Fragen gestellt. Es war sehr interessant, wie sich das so großflächig miteinander verbindet. Da gab es Allgemeinplatz-Fragen, wo es mir auf die Stimmungen ankam, und dann aber auch ganz persönliche und überraschende Gespräche. Eine allgemeine Frage lautete, ob die Liebe sich im Leben so entwickelt hat, wie man sich das vorgestellt hat; oder ob das Gefühl dominierte, mit dem Rest der Welt in Verbindung zu stehen, Teil eines größeren Zusammenhanges zu sein. Manchmal bezogen sich die Fragen auch auf die Kindheit.
Wie konnten Sie die Leute motivieren?
Grisebach: Ich habe Menschen eines bestimmten Alters eingeladen und mich eine Stunde mit ihnen unterhalten. Es ging nach dem Zufallsprinzip, ganz normale Leute, die vielleicht nicht von vorneherein in einer außergewöhnlichen Lebenssituation steckten. Wir begannen in Berlin, zogen dann einen größeren Kreis und sind aufs Land gefahren. Überraschenderweise war der Unterschied vom Land zur Großstadt nicht so groß.
Warum spielt die Geschichte auf dem Land?
Grisebach: Für mich hatte sie etwas von einem Country-Song, etwas ganz Schlichtes. Ich war auf der Suche nach einer Form von Reduktion. Das Dorf hat mit dem realen Dorf wenig zu tun. Es ist mehr die Vorstellung von dem, was man damit verbindet, was zu einer gewissen Form von Schlichtheit beitragen kann, oder auch von Dingen, die man mit einer altmodischeren und märchenhafteren Sache assoziiert – wie das Dorf, das Haus, die Straße, die Frau, der Mann.
Warum haben Sie mit Laiendarstellern gedreht? Die gelten nicht gerade als einfachste Übung.
Grisebach: Ich habe an „Mein Stern“ angeknüpft, wo ich diese Arbeitsweise schon einmal ausprobierte. Aber ich habe auch Schauspieler gecastet. Irgendwann wusste ich, dass es schön sein könnte, wenn Leute durch diese Geschichte gehen, die auch ein Gruß aus der Wirklichkeit sind, keine Gesichter, die man schon aus anderen Filmen kennt, sondern die dieses Ruppige und Raue aus der Realität mitbringen. Alle Darsteller haben den Casting-Prozess durchlaufen. Es ist ein Missverständnis, anzunehmen, man hole nur ein paar Leute von der Straße, stelle sie vor die Kamera und lasse sie improvisieren. Die Texte waren größtenteils vorgegeben, wobei für mich nicht das Auswendiglernen zählt. Die Protagonisten lernen unbewusst auswendig, nicht unbedingt über das Papier.
Sie haben ein weiteres Projekt bei der DEFA-Stiftung eingereicht.
Grisebach: Ich habe mich wieder für ein Recherche-Stipendium beworben. Mich beschäftigt das Thema Abenteuerfilm.
Was wünschen Sie sich für die nächsten zehn Jahre?
Grisebach: Es wäre schön, wenn ich relativ offen, vielfältig und kontinuierlich arbeiten könnte, in kleineren oder größeren Zusammenhängen. Jedes Projekt baut ja auf den Erfahrungen des vorherigen auf. Gleichzeitig mischen sich mit jedem Projekt auch die Karten neu.
Margret Köhler (filmdienst Sonderheft 10/2006)