Berlin - Prenzlauer Berg - Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli 1990
Unter dem Titel „Begegnungen“ widmet das „achtung berlin“ Filmfestival vom 21. bis zum 27. April der Regisseurin Petra Tschörtner (1958-2012) eine große Retrospektive. Teil des Programms ist Tschörtners erster dokumentarischer Langfilm BERLIN – PRENZLAUER BERG – BEGEGNUNGEN ZWISCHEN DEM 1. MAI UND DEM 1. JULI 1990.
Kurzinhalt
Frühjahr/Sommer 1990. Die Währungsunion zwischen BRD und DDR steht unmittelbar bevor. Vor den Trümmern der Mauer singt die Ost-Berliner Band Herbst in Peking „We need a Revolution“. Wie blicken die Bewohnerinnen und Bewohner des Prenzlauer Bergs auf die sich verändernde Umwelt? Welche Erwartungen und Befürchtungen haben sie? Im Prater wird weiter getanzt, die älteren Damen in der Kneipe „Hackepeter“ in der Dimitroffstraße lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, im „Wiener Café“ in der Schönhauser Allee wird zum Abschied „Unsere Heimat“ gesungen und Frau Ziervogel vom Kult-Imbiss „Konnopke“ nimmt das erste Westgeld entgegen. Näherinnen erklären, warum sich die gefertigte Mode nicht verkauft und dass die vietnamesischen Arbeiterinnen zuerst entlassen werden müssen. Hausbesetzer träumen von der Anarchie und es kommt zu Konflikten mit rechtsradikalen Jugendlichen.
Produktionsnotizen
Wie der Filmtitel andeutet, erfolgten die Dreharbeiten in den zwei Monaten vor Inkrafttreten der Währungsreform am 1. Juli 1990. Als Co-Autor und Regieassistent stand Petra Tschörtner Jochen Wisotzki zur Seite. Beide blickten zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine langjährige gemeinsame Arbeitsbeziehung zurück. In ihrem Projekt-Treatment legten beide 1989 ihre Motivation für einen Film über den Prenzlauer Berg dar: „Hier wohnen wir und hier wohnen viele unserer Freunde. Hier bleiben Kontakte lebendig, selbst ohne Telefon und ohne Auto. Hier lernt man Leute kennen und Stadt sehen. Altes und Neues, Verfall und Aufbau. Ein Spiegel unseres Landes, in dem wir vor allem das sehen, was uns damit verbindet.“
Mehr zur Arbeit Jochen Wisotzkis für die DEFA erfahren Sie im Essay „Wie ich mit Gorbatschow mein Glück bei der DEFA machte“ (13.95 MB) im DEFA-Stiftungsjournal „Leuchtkraft“.
Echo
Als BERLIN – PRENZLAUER BERG im November 1990 auf der Leipziger Dokumentarfilmwoche zum ersten Mal vorgeführt wurde, existierte die DDR nicht mehr. Am 19. Februar 1991 zeigte die Berlinale die Produktion in der Sektion „Neue Deutsche Filme“. Eine erste TV-Ausstrahlung folgte im November 1991. Trotz positiver Resonanz von Kritik und Publikum drohte, wie vielen anderen Produktionen aus der Wendezeit, auch Tschörtners Film anschließend in Vergessenheit zu geraten. Doch verschiedene Filmfestivals, VHS- und DVD-Veröffentlichungen sowie Fernsehausstrahlungen brachten das Filmwerk immer wieder zum Vorschein. Heute kommt kaum eine DDR-Retrospektive an BERLIN – PRENZLAUER BERG vorbei. Jüngst widmete sich ein Beitrag des Sammelbandes „Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen“ der Produktion. Die Zwischenüberschriften – Hoffnung & Utopie, Die Ahnung der kleinen Leute, Der Sound der Wende, Enttäuschung & Veränderung, Sehnsucht – fassen aus heutiger Sicht die Kernaspekte des Films zusammen und verdeutlichen seine Relevanz als bleibendes Zeitdokument.
Regie: Petra Tschörtner
Petra Tschörtner, deren zu früher Tod sich in diesem Sommer zum zehnten Mal jährt, schuf zwischen 1979 und 1997 rund 25 Filme. Ihr Werk umfasst „einige der schönsten Momente der deutschen Dokumentarfilmgeschichte“, wie Claus Löser in seinem Essay über das Schaffen der Regisseurin (18.00 MB) im Journal der DEFA-Stiftung „Leuchtkraft“ festhält. Bereits mit frühen Arbeiten wie SUSIS SCHICHT (1979) und FEMINI – ROCKBAND AUS BERLIN (1982) schuf Petra Tschörtner während des Studiums an der Babelsberger Filmhochschule überzeugende Zeitdokumente. Ihr Diplomfilm HINTER DEN FENSTERN (1983), ein intimes Porträt über drei junge Paare in einem Potsdamer Neubauviertel, erhielt auf den Oberhausener Kurzfilmtagen gleich zwei Preise. Tschörtner selbst durfte nicht zum Festival reisen und erfuhr von der Würdigung ihres Filmes erst später. Nach dem Studium folgte eine Regie-Assistenz beim Spielfilm für Rolf Losanskys Kinderfilm WEISSE WOLKE CAROLIN (1984), in dessen Zuge ihr kurzer Dokumentarfilm FILMKINDER (1984) entstand. Ab 1985 war die Regisseurin am DEFA-Studio für Dokumentarfilme in der Produktionsgruppe „Kinder- und Jugendfilm“ angestellt. Sie drehte u.a. DER ZIRKUS KOMMT (1985) und UNTERWEGS IN NICARAGUA (1987). Ende der 1980er-Jahre ermöglichte sich für sie eine Auftragsproduktion für das ZDF. Mit UND DIE SEHNSUCHT BLEIBT (1987/88) knüpfte Tschörtner an ihren Diplomfilm an, porträtierte diesmal drei junge Berliner Mütter. Zum Ende der DDR fand Tschörtner ihre Geschichten in Ost-Berlin: Der alternativen Musikszene näherte sie sich in DAS FREIE ORCHESTER (1988). Für SCHNELLES GLÜCK (1989) zog es sie zur Pferderennbahn nach Karlshorst und für UNSERE ALTEN TAGE (1989) in ein Pflegeheim im Prenzlauer Berg. BERLIN – PRENZLAUER BERG wurde zu ihrem ersten abendfüllenden Film. Mit den neuen Produktions- und Filmförderbedingungen nach der Wiedervereinigung wurden Tschörtners filmische Arbeiten seltener. Hervorzuheben sind ihre beiden Langfilme MARMOR, STEIN UND EISEN (1992), für den sie zusammen mit Helke Misselwitz ihre ehemaligen Kommilitonen an der Filmhochschule aufspürte und das Porträt HERR GIWI UND DIE UMGEKEHRTE EMIGRATION (1997) über den Schriftsteller Giwi Margwelaschwili.
Dokumentarfilm-Regisseurinnen bei der DEFA
Neben Petra Tschörtner etablierte sich in der letzten DEFA-Dekade insbesondere Helke Misselwitz als gefragte Regisseurin. Misselwitz‘ Frauenporträt WINTER ADÉ (1988) gilt als Schlüsselwerk des späten DEFA-Dokumentarfilmschaffens. Nach dem Mauerfall war es Sibylle Schönemann, die mit ihrem sehr persönlichen Film VERRIEGELTE ZEIT (1991) über ihren Ausreiseantrag und die folgende Inhaftierung für Aufsehen sorgte. Für Tamara Trampe, die zuvor viele Jahre als Spielfilm-Dramaturgin für die DEFA tätig war, war das Ende der DDR, der Anfang als Regisseurin. In DER SCHWARZE KASTEN (1992) kommt sie mit einem früheren Stasi-Oberleutnant ins Gespräch und versucht seine Motive zu verstehen. Doch auch in den Jahrzehnten vor 1980 schuf eine Fülle von Regisseurinnen dokumentarische Filmwerke, die weit mehr als eine filmhistorische Randnotiz darstellen. Pionierarbeit leistete bereits früh Marion Keller mit ihrer Arbeit als Chefin der Wochenschau „Der Augenzeuge“. Auch Eva Fritzsche, die 1949 mit DIE BRÜCKE VON CAPUTH (1949) ihre erste Regie-Arbeit vorlegte, wusste sich gegen Plattitüden wie „Frauen machen keine Filme!“ zu behaupten. Zu internationaler Beachtung schaffte es Annelie Thorndike gemeinsam mit ihrem Mann Andrew mit ihren aufwendig produzierten und recherchierten aber auch oftmals propagandistischen Filmen. In der Reihe der genannten Regisseurinnen darf auch Gitta Nickel nicht fehlen, die insbesondere mit ihren alltäglichen Beobachtungen und Porträts über ‚einfache‘ Leute in Erinnerung bleibt.
Das Buch „Sie. Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme“ (Hg.: Cornelia Klauß und Ralf Schenk) aus der Schriftenreihe der DEFA-Stiftung bietet Kurzbiografien zu 63 Regisseurinnen, die bei der DEFA tätig waren.
Ein beliebter Drehort: Der Prenzlauer Berg im Spielfilm…
Der Prenzlauer Berg kann auf eine lange Kinogeschichte zurückblicken. Die Filmpioniere Max und Emil Skladanowsky drehten bereits 1892 auf dem Häuserdach der Schönhauser Allee 146 die ersten deutschen Filmaufnahmen. Die gleiche Straßenkreuzung setzte Gerhard Klein 1957 in seinem DEFA-Kultfilm BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER... prominent ins Bild. Nachdem in den frühen Jahren der Filmgeschichte noch bevorzugt in Ateliers gedreht wurde, änderte sich dies ab den 1940er-Jahren zunehmend und der Prenzlauer Berg wurde zur begehrten Filmkulisse. Eine Reihe von DEFA-Spielfilmen entstand zwischen 1946 und 1992 zumindest in Teilen im Prenzlauer Berg. Besonders prägend wurden Gegenwartsfilme, die Menschen und Subkulturen des Szenekiezes in den Blick nahmen. Darunter allen voran Konrad Wolfs SOLO SUNNY (1979), über eine Sängerin aus einfachen Verhältnissen in einer Hinterhofwohnung in der Kopenhagener Straße 13. Weiterhin zu nennen sind Produktionen wie BERLIN UM DIE ECKE (Gerhard Klein, 1965), DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR (Michael Kann, 1987) oder COMING OUT (Heiner Carow, 1989). Hervorzuheben ist nicht zuletzt Jürgen Böttchers neorealistisch anmutender Spielfilm JAHRGANG 45, der u.a. in der Kollwitz-Straße und der Christinenstraße spielt, und erst im Zuge des Mauerfalls, 25 Jahre nach seiner Produktion, gezeigt werden durfte. Aufgrund seiner gut erhaltenen alten Bausubstanz diente der Stadtbezirk immer wieder auch als historische Kulisse – sei es für LISSY (Konrad Wolf, 1957), KÖNIGSKINDER (Frank Beyer, 1962) oder ROTSCHLIPSE (Helmut Dziuba, 1977). Bis heute zieht das Viertel Filmschaffende an: Pierre Sanoussi-Bliss für sein Regie-Debüt ZURÜCK AUF LOS! (2000), Andreas Dresen für seine zum Kultfilm avancierte Produktion SOMMER VORM BALKON (2005) und jüngst Daniel Brühl für seine schwarze Komödie NEBENAN (2021).
… und im Dokumentarfilm
Der Szenekiez bietet seit Jahrzehnten auch für zahlreiche dokumentarische Werke spannende Orte, Menschen und Geschichten: Richard Cohn-Vossen zog es 1972 in den Prenzlauer Berg, um sich mit IN SACHEN H. UND ACHT ANDERER dem Thema der Jugendkriminalität zu widmen. Ein Jahr später besuchte der gleiche Regisseur die NACHTARBEITER des Viertels. Günter Jordan nahm 1982 den Alltag der Jugendlichen am Helmholtzplatz in den Blick – EINMAL IN DER WOCHE SCHREIN erhielt jedoch erst 1989 eine Zulassung. Bereits 1965 fing der Regisseur Heinz Müller die Stimmung des Helmholtzplatzes für SPIELPLATZ ein. 1986 widmete sich ein Regiekollektiv in KOLLWITZ-PLATZ BERLIN der wechselhaften Geschichte des gleichnamigen Platzes. In der „Wendezeit“ entstanden die wahrscheinlich bedeutsamsten dokumentarischen Werke im Viertel. Zu nennen sind neben Petra Tschörtners BERLIN – PRENZLAUER BERG, u.a. Helke Misselwitz’ WER FÜRCHTET SICH VORM SCHWARZEN MANN (1989) über die Kohlemänner und ihre Chefin Renate Uhle in der Gleimstraße 67 sowie der von Jochen Wisotzki und Heinz Brinkmann realisierte Porträtfilm KOMM IN DEN GARTEN (1990) über drei Freunde und ihre Schicksale. Der Film gewann 1990 die letzte Silberne Taube auf der Leipziger Dokumentarfilmwoche für die DEFA und fand 1994 eine Fortsetzung in DER IRRGARTEN. Hervorzuheben ist auch Jörg Foths Langzeitbeobachtung PRENZLAUER BERG WALZER (1990-93), die verschiedene Bewohnerinnen und Bewohner des Viertels in den ersten Jahren der Wiedervereinigung begleitet.
Verfasst von Philip Zengel. (April 2022)