Bockshorn
Frank Beyers Roadmovie BOCKSHORN (1983) ist nach einer digitalen Restaurierung in neuer Bild- und Tonqualität verfügbar. Im Rahmen des Filmkunstfests MV in Schwerin wird die Produktion nach vielen Jahren erstmals wieder im Kino zu sehen sein.
Kurzinhalt
Die jugendlichen Landstreicher Sauly und Mick (gespielt von Jeff Dominiak und Bert Löper), reisen durch ein fiktives Land, das aufgrund der verwendeten Konsumgüter, der Sprache sowie der Skylines der Großstädte stark an die USA erinnert. Eines Abends treffen sie auf einen mysteriösen Mann namens Landolfi (Djoko Rosić). Landolfi behauptet, Saulys Schutzengel an einen Mann mit dem Namen Paul Miller in der Stadt Prince verkauft zu haben. Sauly lässt sich von ihm ins Bockshorn jagen. Mick steht seinem Freund bei und für die beiden Jugendlichen beginnt eine abenteuerliche, hoffnungsvolle Suche nach dem verkauften Schutzengel...
Produktionsnotizen
BOCKSHORN wurde zwischen dem 29. April und dem 26. August 1983 in Co-Produktion der DEFA mit dem westdeutschen Filmproduzenten Manfred Durniok sowie den Spielfilmstudios in Sofia (Bulgarien) und Havanna (Kuba) realisiert. Die Anfangsszenen entstanden in New York, unter anderem sind die Zwillingstürme des World-Trade-Centers zu sehen – Aufnahmen, wie man sie in einem DEFA-Spielfilm nicht erwartet und aus keiner anderen der 750 Produktionen des Studios kennt. Weitere Drehorte lagen auf Kuba und in Bulgarien. Die Innenaufnahmen wurden in Potsdam-Babelsberg gedreht. Premiere feierte der Film am 29. März 1984 im Berliner Kino International.
In Nebenrollen wurden bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler besetzt, darunter Klaus Manchen, Dieter Montag, Walfriede Schmitt und Marie Gruber. Den bulgarischen Darstellern liehen Kurt Böwe und Rolf Ludwig ihre Stimmen. Einen Auftritt hat auch die Ost-Berliner Punkband „planlos“, in der der spätere Schauspieler Bernd-Michael Lade (u.a. KARNIGGELS, 1991) als Schlagzeuger wirkte.
Literaturverfilmung nach Christoph Meckel
Der Film basiert auf der gleichnamigen Romanvorlage des renommierten West-Berliner Schriftstellers Christoph Meckel (1935–2020) aus dem Jahr 1973. BOCKSHORN ist bis heute das einzige Werk Meckels, das verfilmt wurde. Das filmische Szenarium verfasste Ulrich Plenzdorf, der zuvor bereits mehrfach für die DEFA in Erscheinung trat und u.a. das Drehbuch von DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (Heiner Carow, 1972) mitverfasste. Bereits Mitte der 1970er-Jahre war eine Verfilmung von BOCKSHORN als westdeutsch-französische Co-Produktion geplant. Die Regie sollte der beliebte Schauspieler Horst Buchholz (u.a. DIE HALBSTARKEN, 1956) übernehmen, der damit sein Regiedebüt gefeiert hätte. Die Finanzierung des Projekts scheiterte jedoch.
Regie: Frank Beyer
Frank Beyer (1932–2006) zählt zu den renommiertesten deutschen Regisseuren. Sein Werk ist mit Filmen wie FÜNF PATRONENHÜLSEN (1960), KÖNIGSKINDER (1962) oder NACKT UNTER WÖLFEN (1962) vielfach geprägt vom Widerstand gegen den Faschismus. Mit JAKOB DER LÜGNER erhielt er 1974 die einzige Oscar-Nominierung für einen DEFA-Film.
1983 wagte er sich mit BOCKSHORN erstmals an einen Film, der sich primär an ein jugendliches bzw. junges, erwachsenes Publikum richtete. Beyer zollte damit auch der Tatsache Tribut, dass das DDR-Kinopublikum sich zunehmend verjüngte: Der überwiegende Teil der Zuschauerinnen und Zuschauer war in den 1980er-Jahren zwischen 14 und 25 Jahre alt. Beyer lag die Verfilmung von Meckels Roman sehr am Herzen. Auf die Frage, warum er den Stoff verfilmt hätte, gab er in einem Interview mit dem DDR-Filmkritiker Fred Gehler in der Zeitung „Sonntag“ am 18. März 1984 zu Protokoll: „Ich glaube, einen starken emotionalen Zugang zu Geschichten wie ‚Bockshorn’ zu haben. Mich beeindruckte die poetische Kraft des Gleichnisses in Meckels Buch, die Suggestion der Parabel. Ein stark überhöhter Text bei gleichzeitigem Realitätsbezug.“ Zugleich sah er in BOCKSHORN eine Art Umkehrung zu seinem Erfolgsfilm JAKOB DER LÜGNER: „Im ‚Jakob’ hilft eine Lüge leben, hilft zu überleben, in ‚Bockshorn’ zerstört sie, verletzt die menschliche Integrität und erschüttert das Selbstverständnis. Der Schutzengel in ‚Bockshorn’ steht für Glück und Geborgenheit, so wie das Radio in ‚Jakob der Lügner’ für Hoffnung steht.“
Zwei jugendliche Laien in den Hauptrollen
Lange war Frank Beyer auf der Suche nach der idealen Besetzung für die beiden Hauptfiguren des Films. Zunächst gab es Überlegungen, in anderen sozialistischen Ländern zu suchen. Um mögliche sprachliche Barrieren auszuschließen, wurde diese Idee jedoch wieder verworfen. Letztlich fand Beyer seine beiden Landstreicher in den Ostberliner Jugendlichen Bert Löper und Jeff Dominiak. Beide erlebten mit den Dreharbeiten auf Kuba und in den USA das wohl größte Abenteuer ihrer Jugend. Für beide blieb es die einzige Hauptrolle in einem Kinofilm.
Der jüngere der beiden Jugendlichen, Jeff Dominiak, starb 1993 unter tragischen Umständen. Im Alter von 25 Jahren wurde er in Brandenburg von einem Neonazi mit dem Auto überfahren. Die Amadeu-Antonio-Stiftung führt Dominiak in einer Liste der Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland als Verdachtsfall. Trotz Bemühungen des Landes Brandenburg und des Moses-Mendelssohn-Zentrums können die Geschehnisse aufgrund vernichteter polizeilicher Akten nicht mehr vollständig rekonstruiert werden. Dominiaks Schicksal ist immer wieder Gegenstand medialer Berichterstattung.
Ein fast verhinderter Drehstart
Fast wären die Dreharbeiten wenige Tage vor dem geplanten Drehstart in New York am 29. April 1983 gescheitert. Die Staatssicherheit intervenierte gegen die Ausreise der beiden jugendlichen Hauptdarsteller und verhinderte die Ausstellung der notwendigen Visa. Was lag gegen die beiden vor? In seiner Autobiografie „Wenn der Wind sich dreht“ erinnert sich Frank Beyer zurück, dass Bert Löper und Jeff Dominiak zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht über die Dreharbeiten in den USA informiert waren, jedoch hatte sich Löper „während der Probeaufnahmen mit anderen Gleichaltrigen (...) darüber unterhalten, dass Kuba nur wenige Seemeilen von Florida entfernt ist und Schwimmer in Käfigen (...), die von Booten geschleppt wurden, diese Strecke ohne große Mühe überwunden hatten.“ Da bei Dominiak zudem die Scheidung der Eltern bevorstand, befürchtete man bei beiden Jugendlichen, dass sie den Auslandsdreh zur Flucht nutzen könnten und nicht in die DDR zurückkehren würden. Zusammen mit den Müttern der beiden sprach Frank Beyer bei Filmminister Horst Pehnert persönlich vor und konnte die Ausreiseerlaubnis doch noch erwirken.
Roadmovies bei der DEFA?
Für ein Land wie die DDR, deren Landesgrenzen nach Westen geschlossen waren, mögen Roadmovies, die meist ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit vermitteln, kein naheliegendes Filmgenre ein. DEFA-Filme, die man diesem Genre zurechnen kann, bewegen sich eher innerhalb der DDR-Landesgrenzen: Sei es in Richtung Ostsee wie im beliebten Musicalfilm HEISSER SOMMER (Joachim Hasler, 1967) oder in Richtung Sachsen, wie in Hans Kratzerts MEIN VATER ALFONS (1980). Andere Geschichten wie UND NÄCHSTES JAHR AM BALATON (Herrmann Zschoche, 1980) oder JE T’AIME CHÉRIE (Roland Oehme, 1986) führen bis ins sozialistische Ausland. Ein Film wie Beyers BOCKSHORN, der in einer fiktiven USA spielt und Vergleiche mit Dennis Hoppers EASY RIDER (1969) zulässt, findet sich kein zweites Mal im DEFA-Filmbestand.
Mehr über die DEFA-Roadmovies der 1980er-Jahre ist im Vortrag von Mariana Ivanova , Leiterin der DEFA-Film Library in den USA, zu erfahren, den die Wissenschaftlerin auf einem Symposium zum DEFA-Genrekino am 19. Mai 2022 im Berliner Zeughauskino hielt.
Wenig positives Echo
BOCKSHORN bietet in großer Fülle Einblicke in die Konsumgesellschaft der 1980er-Jahre, die in dieser Form einmalig für eine DEFA-Spielfilmproduktion sind. Darin lag möglicherweise ein Hauptgrund, warum der Film nicht den durchschlagenden Erfolg an den DDR-Kinokassen verbuchen konnte: Dem Publikum wurde mit viel Konsum- und Kapitalismuskritik eine Welt präsentiert, die für die meisten Zuschauerinnen und Zuschauern unerreichbar und nicht erlebbar war. Insbesondere von Frank Beyer, der im Laufe seiner filmischen Karriere in der DDR immer wieder mit Restriktionen zu kämpfen hatte und nach dem Verbot von SPUR DER STEINE (1965) über Jahre keinen Kinofilm bei der DEFA realisieren durfte, hatte man einen solchen Film wohl nicht erwartet. Auch international erhielt BOCKSHORN wenig Anerkennung. Bemühungen Manfred Durnioks BOCKSHORN auf der Berlinale und den Filmfestspielen von Cannes zu platzieren, zerschlugen sich. Aus heutiger Perspektive kann BOCKSHORN mit seinen zahlreichen Besonderheiten als eine herausragende Jugendfilmproduktion in der gesamtdeutschen Filmgeschichte gewertet werden.
Verfasst von Philip Zengel. (August 2022)