Bürgschaft für ein Jahr
1982 lief BÜRGSCHAFT FÜR EIN JAHR (R: Herrmann Zschoche, 1981) im Wettbewerb der Berlinale und Katrin Sass gewann den Silbernen Bären als beste Darstellerin. Im Rahmen der diesjährigen Heiner-Carow-Preisverleihung am 22. Februar 2024, 16:00 Uhr, im Kino International wird der Film erneut auf dem Festival präsentiert.
Kurzinhalt
Nina Kern (gespielt von Katrin Sass), Ende 20, werden per einstweiliger Verfügung ihre drei Kinder entzogen. Verzweifelt sagt sie auf der Gerichtsverhandlung: „Ich kann ohne meine Kinder nicht leben!“ Seit vier Monaten leben diese bereits im Heim. „Vernachlässigung“ und „asozialer Lebenswandel“ lauten die Vorwürfe gegen die junge Mutter. Das Gericht gewährt Nina eine letzte Chance. Bauingenieur Müller (Jaecki Schwarz) und Musiklehrerin Behrend (Monika Lennartz) aus der Nachbarschaft übernehmen eine Bürgschaft. Wird sich Nina bewähren?
Produktionsnotizen
Die Dreharbeiten erfolgten zwischen dem 17. Oktober 1980 und dem 8. Februar 1981 überwiegend in Ost-Berlin u.a. in der Tucholskystraße, in „Zarskes Gaststätte“ in der Greifswalder Straße und im „Café Nord“ in der Schönhauser Allee. Die Kinderheim-Szenen entstanden in Genshagen. Premiere feierte der Film anlässlich der „9. Tage des sozialistischen Films in der DDR“ am 17. September 1981 im Kulturhaus „7. Oktober“ in Suhl.
Nina Kern – Keine „Vorzeigemutter“
„Jeden Abend vor dem Fernseher zwei Gläser Bier. Auf so ein Leben scheiße ich.“ lässt Nina Kern das Kinopublikum wissen. Sie will mehr vom Leben, hegt einen Wunsch nach dem „Nicht-Normalen“ und will der oft kleinbürgerlichen und spießigen DDR-Lebenswelt entfliehen. Dabei vergisst die lebenslustige, aber oft von Stimmungsschwankungen ausgebremste, dreifache Mutter ihre familiären Pflichten und stellt ihr eigenes Wohl über das ihrer Kinder. Für Martina Spoden zählt die Figur „zu den interessanten Frauengestalten unseres zeitgenössischen Filmschaffens, gewiss auch zu den liebenswerten.“ (Theorie und Praxis des Films, 5/1982, S. 42) Nina Kern steht in der Tradition einer Reihe weiterer junger DEFA-Antihelden, die in den Vorjahren auf der Kinoleinwand zu sehen waren, dazu zählen unter anderem die aus dem Jugendwerkhof entlassene SABINE WULFF (R: Erwin Stranka, 1978), der Waise Peter in Roland Gräfs P.S. (1979) und nicht zuletzt die Sängerin Sunny in Konrad Wolfs SOLO SUNNY (1980). Sie alle eint die Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft.
Szenarium: Gabriele Kotte
BÜRGSCHAFT FÜR EIN JAHR beruht auf Motiven des gleichnamigen, im Herbst 1978 im Berliner Union Verlag erschienenen Romans der Schriftstellerin Tine Schulze-Gerlach. In einem Gespräch mit Wolfgang Trampe für das Buch „Erzählen für den Film“ (DEFA-Stiftung, 2004) berichtete Gabriele Kotte, dass Dramaturgin Tamara Trampe als erste auf den Stoff aufmerksam wurde und gleich zwei DEFA-Szenaristinnen ihr Interesse an einer filmischen Umsetzung bekundeten: Gudrun Deubener und Gabriele Kotte. Kotte setzte sich mit ihrem Exposé, das sich deutlich vom Roman unterschied durch. Das erkannte auch die Filmkritik an: „hier wurden Akzente umverteilt in einem Maß, dass rechtens von einer eigenständigen Leistung gesprochen werden kann.“ (ND, 19./20.9.1981, S. 4) So änderte Kotte die Erzählperspektive und rückte anstelle der Schöffin und späteren Bürgin Irmgard Behrend die junge Mutter Nina Kern in den Mittelpunkt. Zudem nahm sie einen Milieuwechsel vor und wählte anstelle von Dresden ein sanierungsbedürftiges Berliner Altbaugebiet als Handlungsort.
Kottes Sicht auf den Stoff, die Sympathie für die Hauptfigur erkennen lässt, stieß nicht überall auf Gegenliebe. Die Autorin erinnerte sich später, dass der anwesende Generalstaatsanwalt der DDR im Rahmen der Premiere von BÜRGSCHAFT FÜR EIN JAHR zu ihr sagte: „Frau Kotte, das wird der letzte Film gewesen sein, den Sie in diese Richtung gemacht haben!“ (Gabriele Kotte zu Wolfgang Trampe, „Erzählen für den Film“, S. 245) Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich bereits in den Recherchen für ein Projekt mit dem Arbeitstitel „Die Entlassung eines Lebenslänglichen“. Eine Verfilmung kam nicht zustande. Erst acht Jahre später wurde mit BIOLOGIE! (R: Jörg Foth, 1989) wieder ein DEFA-Film nach einem Drehbuch von ihr produziert.
Katrin Sass: „Es hätte mein Leben sein können“
Sowohl Gabriele Kotte als auch Dramaturgin Tamara Trampe zeigten sich von der Besetzung der Hauptfigur mit der 26-jährigen Katrin Sass zunächst wenig begeistert und bemühten sich um ein Veto bei Regisseur Herrmann Zschoche – vergeblich. Später revidierten sie ihr Urteil: „Ich finde, dass es wirklich zu sechzig, siebzig Prozent ihr Verdienst ist, dass sie diesen Film trägt und es gerade dieses ‘Geerdet-Sein’ ist, was sie auszeichnet, also diese Glaubwürdigkeit.“ (Gabriele Kotte zu Wolfgang Trampe, „Erzählen für den Film“, S. 244). Für Katrin Sass, deren Mitwirken in BIS DASS DER TOD EUCH SCHEIDET (R: Heiner Carow, 1978) und DIE VERLOBTE (R: Günther Rücker & Günter Reisch, 1980) bereits viel Beachtung fand, war Nina Kern eine Figur, mit der sie sich identifizieren konnte und die für sie bis heute zu ihren wichtigsten Rollen zählt. „Ich konnte alles nachvollziehen, was sie gemacht hat“, berichtete sie der DEFA-Stiftung 2021 in einem Zeitzeugengespräch. Über die Frauen, die sie in ihrer frühen DEFA-Laufbahn spielte, sagte sie rückblickend: „(Es) sind keine starken Frauen. Es sind gebrochene Frauen, die es irgendwie immer wieder schaffen, Kraft zu entwickeln. Aber von vornherein starke Frauen, das sind andere.“ (Ingrid Poss & Peter Warnecke, Spur der Filme, S. 373)
Wichtige Nebenfiguren: Die Bürgen
Der Filmtitel zeigt bereits an, dass den von Jaecki Schwarz und Monika Lennartz dargestellten Bürgen eine zentrale Rolle zukommt. Beide könnten unterschiedlicher nicht sein: Auf der einen Seite der Bauingenieur mit eigener Familie, dem das Engagement als Bürge schnell zu viel wird und der sich in sein kleinbürgerliches Leben zurückziehen möchte. Andererseits die empathische, der Kirche zugewandte Klavierlehrerin, die keine eigene Familie aber einen genauen Blick für die Menschen in ihrer Umgebung hat. Die Perspektive der Bürgen war der Hauptgrund, warum eine solche Geschichte für das DDR-Kino überhaupt inszeniert werden konnte: „Die beiden Bürgen (...) waren immer – und ich erinnere noch die Formulierung – ein Zeichen für die wachsende Demokratie in unserem Land; sozusagen die Verantwortlichkeit des Nachbarn für den anderen, das war der Ausgangspunkt und eigentlich der Trick, der Konstruktions-Trick, dass man eine Figur wie Nina erzählen konnte.“ (Gabriele Kotte zu Wolfgang Trampe, „Erzählen für den Film“, S. 242). Einige Monate später inszenierte Evelyn Schmidt in ihrem DDR-Gegenwartsfilm DAS FAHRRAD (1982) eine weitere Mutterfigur, die an Arbeit und Familie zu scheitern droht und weitaus weniger gesellschaftliche Hilfe erfährt. Anders als BÜRGSCHAFT FÜR EIN JAHR wird Schmidts Film von der DDR-Filmkritik scharf kritisiert.
Herrmann Zschoche – Nah an den Problemen junger Leute
Regisseur Herrmann Zschoche widmete sich in seinen Filmen vielfach der Lebenswirklichkeit und den Problemen junger Menschen in der DDR. Er bemühte sich dabei um eine realistische Darstellung, die sich dicht an der Wirklichkeit orientierte und gesellschaftlich-soziale Details genau beschrieb. Gabriele Kotte erinnerte sich an gemeinsame Gespräche über die Hauptfigur, in denen Zschoche reflektierte: „Und selbst, wenn es ihr am Ende doch gelingt [sich um alle drei Kinder zu kümmern], was bleibt dann von Nina noch übrig?“ (Kotte zu Wolfgang Trampe, Erzählen für den Film, S. 242) Die DDR-Filmkritik störte sich mitunter an Zschoches emotionaler Nähe zu seinen Hauptfiguren. So merkte Christoph Prochnow bereits nach den populären Vorgängerfilmen LIEBE MIT 16 (1974) und SIEBEN SOMMERSPROSSEN (1977) an: „Die Identifizierung des Regisseurs mit den jugendlichen Helden – natürlich nicht in allen Details – scheint in beiden Filmen am Ende so total, daß auch beim Zuschauer jede kritische Distanz abhanden zu kommen droht.“ (DEFA-Spielfilmregisseure und ihre Kritiker, S. 231) Prochnow kommt zu dem Schluss: „daß die jugendlichen Helden, die hier in ihren psychischen, moralischen, geistigen und sozialen Potenzen immer mittelmäßige und durchschnittliche Menschen sind, bei aller Sympathie, die sie verdienen, nicht mehr an bestimmten Maßstäben gemessen, sondern sozusagen maßstablos poetisiert werden.“ (S. 231f) Zschoches spätere Filmwerke – darunter INSEL DER SCHWÄNE (1982), GRÜNE HOCHZEIT (1988) und DAS MÄDCHEN AUS DEM FAHRSTUHL (1990) – zeugen davon, dass er sich von solcher Kritik nicht beeinflussen oder verunsichern ließ.
Breites internationales Echo
Unmittelbar nach der Premiere in Thüringen bezeichnete Herrmann Zschoche BÜRGSCHAFT FÜR EIN JAHR bescheiden als „Film für den Tagesverbrauch“ und ergänzte „Hier wird nicht so sehr ästhetisch operiert, der Film legt es nicht darauf an, in die Filmgeschichte einzugehen.“ (zitiert nach Neue Zeit, 24.9.1981, S. 4). Das breite Echo, das der Film weit über die Grenzen der DDR hinaus hervorrief, sollte ihn eines Besseren belehren. So lief BÜRGSCHAFT FÜR EIN JAHR nicht nur im Rahmen von DDR-Filmwochen auf der ganzen Welt, u.a. in den USA und in Australien, sondern war auch Teil des Wettbewerbs der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Mit dem Silbernen Bären für Katrin Sass und dem Preis der Internationalen Katholischen Filmorganisation (OCIC) konnte BÜRGSCHAFT FÜR EIN JAHR dort gleich zwei Auszeichnungen gewinnen.
Auch darüber hinaus war 1982 ein für die DEFA erfolgreiches Berlinale-Jahr: Nachdem lange Zeit gar keine DEFA-Produktionen auf dem Festival zu sehen waren, konnte das Publikum nun einen ganzen DEFA-Filmreigen erleben: Mit Ulrich Theins ROMANZE MIT AMÉLIE war ein weiterer DEFA-Film im Wettbewerb vertreten. Von der FIPRESCI-Jury prämiert wurde zudem Winfried Junges Dokumentarfilm LEBENSLÄUFE – DIE GESCHICHTE DER KINDER VON GOLZOW IN EINZELNEN PORTRÄTS. Das Kinderfilmfest präsentierte die Retrospektive „Kinderfilme aus der DDR“.
Verfasst von Philip Zengel. (Februar 2024)