Chronik eines Mordes
Anfang Dezember 2024 erschien in der Edition Filmmuseum eine Doppel-DVD, die die Darstellung des Westens in DEFA-Produktionen der 1950er- und 1960er-Jahre beleuchtet. DEFA-Film des Monats ist aus diesem Anlass der auf der DVD enthaltene Spielfilm CHRONIK EINES MORDES (Joachim Hasler, 1964).
Mit einer von den NS-Schrecken traumatisierten, Selbstjustiz übenden, jüdischen Hauptfigur schlug CHRONIK EINES MORDES neue Töne im Kanon der antifaschistischen DEFA-Produktionen an. Zum ersten Mal ist der Film in digital-restaurierter Fassung auf DVD verfügbar.
Kurzinhalt
Der neu gewählte Bürgermeister einer westdeutschen Kleinstadt (gespielt von Martin Flörchinger) wird kurz nach seiner Antrittsrede erschossen. Die tödlichen Schüsse gibt die Jüdin Ruth Bodenheim (Angelica Domröse) ab. Weder leugnet sie die Tat, noch nutzt sie eine Möglichkeit der Flucht. Stück für Stück werden ihre Motive offengelegt: Zahlreiche Jüdinnen und Juden wurden in der NS-Zeit aus ihrer Heimatstadt deportiert und ermordet, darunter ihre Eltern. Sie selbst wurde in ein Wehrmachtsbordell verschleppt. Einer der Hauptverantwortlichen war der von Ruth erschossene Bürgermeister. In der Selbstjustiz sah sie den letzten Ausweg, da sich nach Kriegsende niemand darum bemühte, die Verbrechen an ihrer Familie aufzuklären und die Täter zu bestrafen.
Blick aus dem Osten in den Westen
Ab den 1950er-Jahren blickte die DEFA zwar selten aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit in den Westen und produzierte Filme, deren Handlung im anderen Teil Deutschlands verortet waren – DAS VERURTEILTE DORF (1951), DER PROZESS WIRD VERTAGT (1958), FREISPRUCH MANGELS BEWEISES (1962) und FOR EYES ONLY – STRENG GEHEIM (1963) sind neben CHRONIK EINES MORDES einige Beispiele. In Zeiten des Kalten Krieges blieb der Blick in der Regel eindimensional: „Die Babelsberger Filmemacher [blendeten] alle Mühen um die bürgerliche Demokratie aus und konzentrierten sich vielmehr darauf, das verhängnisvolle Wirken von Alt-Nazis in der westdeutschen Politik, Wirtschaft, Kultur und Justiz an den Pranger zu stellen. Vor allem im Militär. Früheren Nazis, die jetzt im Westen erneut das Sagen hatten, wurden im DEFA-Film keine Wandlungen in demokratische Richtung zugestanden“, hielt der Filmhistoriker Ralf Schenk anlässlich der Filmreihe „Bayern in Babelsberg“ im Jahr 2019 fest. Er ergänzte: „Das im DEFA-Film gepflegte Feindbild wies feste Konturen auf [...] Feinde waren immer diejenigen, die an der Macht saßen. Die entsprechenden Filme waren nie frei von Klischees, Verdrehungen, Verkürzungen, Kolportage-Effekten – im Gegenteil. Und sie hatten eine eindeutige politische Funktion, nämlich beim DDR-Publikum, für das sie vor allem inszeniert worden waren, Zweifel an der Läuterung der westdeutschen Eliten zu wecken und zu bestärken.“
Produktionsnotizen: Gedreht in „Görliwood“
CHRONIK EINES MORDES wurde zwischen dem 13. Februar und 6. Juli 1964 gedreht. Die Außenaufnahmen entstanden u.a. in Görlitz: Der Untermarkt mit dem markanten Rathausturm diente nach großen Umbauten als Kulisse für die westdeutsche Kleinstadt. Bis heute werden in dem Ort, der sich mittlerweile als Filmstadt unter dem Namen „Görliwood“ vermarktet, zahlreiche nationale wie internationale Produktionen gedreht. Premiere feierte CHRONIK EINES MORDES am 25. Februar 1965 – knapp 20 Jahre nach Ende des NS-Regimes – im Leipziger Kino Capitol.
Regie: Joachim Hasler
Die Filmografie keines anderen DEFA-Regisseurs fällt buchstäblich so sehr in zwei Hälften, wie die von Joachim „Jo“ Hasler (1929–1995). Während heutzutage vor allem seine heiteren Filmmusical-Inszenierungen gezeigt werden und beim Publikum beliebt sind – darunter allen voran HEISSER SOMMER (1967) sowie NICHT SCHUMMELN, LIEBLING! (1972) jeweils mit Chris Doerk und Frank Schöbel in den Hauptrollen – inszenierte Hasler in der ersten Phase seiner Regiekarriere insbesondere Thriller- und Kriminalfilme, die sich mit der jüngeren deutschen Geschichte auseinandersetzten, wie bspw. DER TOD HAT EIN GESICHT (1961) und NEBEL (1962). Antagonisten und Täter hatten in diesen Produktionen stets einen westdeutschen Hintergrund. Der West-Berliner Filmkritiker Hans Helmut Prinzler erklärte Hasler daher 1965 zum „Spezialist[en] für antiwestliche Tendenzfilme“ (Prinzler in der Zeitschrift „Film“ 6/1965).
Geschätzt wurde der zunächst in Wolfen als Kopierfacharbeiter ausgebildete Hasler bei der DEFA vor allem für sein handwerkliches Können an der Kamera. Kamera-Größen wie Friedl Behn-Grund oder Bruno Mondi waren seine Lehrmeister. Hasler galt als Experte für das Mitte der 1950er-Jahre in der DDR entwickelte Breitbild-Format „Totalvision“. Die Filmkritik lobte wiederholt den hohen optischen Schauwert, den seine Filme für das Kinopublikum kreierten.
Angelica Domröse als Ruth Bodenheim
Die Darstellung der Ruth Bodenheim durch Angelica Domröse wird in der Rückschau als große Stärke von CHRONIK EINES MORDES wahrgenommen. So schrieb Erika Richter 30 Jahre nach der Uraufführung im Standardwerk zur Geschichte des DEFA-Spielfilms Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg: „Der stark beklemmende und aufrüttelnde Eindruck rührt vor allem von der Hauptgestalt, die von Angelica Domröse mit seltener innerer Intensität und Kraft verkörpert wird“ (Richter, 1994). Domröse selbst, die mit ihrer Darstellung der Siegi in Slatan Dudows VERWIRRUNG DER LIEBE (1959) ein vielbeachtetes Leinwanddebüt feierte, bezeichnete CHRONIK EINES MORDES in einem Zeitzeugeninterview mit Ralf Schenk im Jahr 2001 als ihren zweiten wichtigen Film und betonte, dass die Rolle ihr half, sich weiterzuentwickeln: Weg von der Reduzierung auf das Attribut junge und schöne Nachwuchsschauspielerin, hin zur ernstzunehmenden Charakterdarstellerin auf der Leinwand. Bis zu ihrer Ausreise aus der DDR 1980 war sie im Theater und immer wieder in großen Rollen in DEFA-Produktionen zu sehen, etwa in Heiner Carows Kultfilmen DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (1972) und BIS DASS DER TOD EUCH SCHEIDET (1978) oder in der Theodor-Fontane-Verfilmung UNTERM BIRNBAUM (Ralf Kirsten, 1973).
Drehbuch: Angel Wagenstein
CHRONIK EINES MORDES geht zurück auf den 1947 erschienenen Roman „Die Jünger Jesu“ des Schriftstellers Leonhard Frank (1882–1961), dessen literarische Werke mehrfach für die DEFA adaptiert wurden (DER PROZESS WIRD VERTAGT, 1958; DIE FRAU UND DER FREMDE, 1984). Das Drehbuch für die Verfilmung von „Die Jünger Jesu“ verfasste der bulgarische Autor Angel Wagenstein (1922–2023), der bereits einige Jahre zuvor für Konrad Wolfs preisgekröntes Werk STERNE (1959) mit der DEFA zusammenarbeitete. STERNE war der erste deutsche Spielfilm, der sich historisch genau mit der Deportation von Jüdinnen und Juden ins KZ Auschwitz auseinandersetzte. Wie in CHRONIK EINES MORDES trägt auch in STERNE die jüdische Hauptfigur den Vornamen Ruth. Die Wissenschaftlerin Lisa Schoß setzt in ihrer Dissertation Von verschiedenen Standpunkten. Die Darstellung jüdischer Erfahrung im DDR-Film daher beide Filme in Beziehung: „Man kann [...] Ruth Bodenheims Tat gewissermaßen auch als Vergeltung für Ruths Deportation in STERNE lesen.“ (Schoß, 2023, S. 231)
Parallelen und Unterschiede zu einem westdeutschen Film
Lisa Schoß arbeitet in ihrer Dissertation weiterführend ästhetische und thematische Schnittpunkte zwischen CHRONIK EINES MORDES und dem fast zeitgleich in Westdeutschland produzierten Film ZEUGIN AUS DER HÖLLE (Žika Mitrović, 1965) heraus. Beide Filme teilen laut Schoß „die Themen Erinnerung, Traumatisierung und Zeugenschaft, die Frage nach dem Preis des Überlebens und die nach dem Umgang mit den Opfern in einer geschichtsvergessenen Nachkriegsgesellschaft. Ins Auge fällt, dass in beiden Filmen Jüdinnen im Mittelpunkt der Handlung stehen, Frauen, die sexuelle Gewalt (Zwangsprostitution) erleben mussten“ (Schoß, 2023, S. 235). Unterschiede sieht Schoß in den Produktionsbedingungen beider Filme: Während CHRONIK EINES MORDES mit staatlichen Geldern finanziert wurde und in breiter Fläche in den DDR-Kinos präsentiert wurde, hatte es der deutsch-jüdisch-polnische Produzent Arthur Brauner, der mit seinen Genrefilmen große Erfolge in westdeutschen Kinos feierte, mit ZEUGIN AUS DER HÖLLE deutlich schwerer. Zwei Jahre dauerte es, bis er einen Verleih fand, der den Film zurückhaltend und risikoscheu bewarb. „Das westdeutsche Publikum wie die Kritik lehnten ZEUGIN ab, die Einspielergebnisse blieben gering, ja waren für Brauner wie bei den meisten dieser seiner Filme ein kommerzielles Fiasko“, so Schoß (ebd. S. 237).
Echo: Lob im Osten, Kritik im Westen
Während die DDR-Filmkritik CHRONIK EINES MORDES 1965 mit viel Lob bedachte – „Der Film [...] fügt sich würdig in die Reihe der DEFA-Filme, die nationale Probleme künstlerisch gelungen und ergreifend behandeln und den Zuschauer ohne vordergründige Agitation und belehrende Elemente mitzureißen und zu fesseln vermögen“, hieß es etwa am 28. Februar 1965 im ND – war man im Westen deutlich kritischer. So urteilte bspw. Ulrich Gregor in der Zeitschrift Filmkritik: „Leider bringt der Film seine Geschichte in einem so unglücklichen, melodramatischen, mit Klischees aller Art überhäuften Stil vor, dass sie jede Überzeugungskraft verliert.“ (Ausgabe 3/1965) Dass die westdeutsche Filmkritik sich angegriffen fühlte und entsprechend reagierte, betrachtet Lisa Schoß retrospektiv nicht als verwunderlich: „Permanent wurde über die NS-Vergangenheit geredet, sie scharf verurteilt, aber nur den Westdeutschen wurden Defizite und Unterlassungen nachgetragen, und nicht zu erkennen gegeben, dass es sich oft um gesamtdeutsche Probleme handelte.“ (2023, S. 238) Abschließend hält sie fest: „Die Auslagerung der nationalsozialistischen Vergangenheit in die westdeutsche Gegenwart, die emotionale Lenkung des Publikums, ihr instrumenteller Charakter hat die Filme eindimensionaler gemacht, als sie eigentlich waren. Die besseren von ihnen behielten eine gewisse Offenheit, legten Spuren, die auf die DDR selbst deuteten“ (ebd., S. 239).
Verfasst von Philip Zengel. (Dezember 2024)