Das Luftschiff
Anfang Dezember erhielt Regisseur Rainer Simon den Preis der DEFA-Stiftung für sein filmkünstlerisches Lebenswerk. Die Laudatio verfasste sein Weggefährte Lutz Dammbeck. Beide arbeiteten bei dem experimentellen Spielfilm DAS LUFTSCHIFF zusammen.
Kurzinhalt
DAS LUFTSCHIFF erzählt über einen Zeitraum von gut vier Jahrzehnten die Geschichte des besessenen Erfinders Franz Xaver Stannebein (gespielt von Jörg Gudzuhn), dessen größter Traum die Konzeption eines Windmühlenluftschiffs ist. Stannebein wandert nach Spanien aus, gründet dort eine Familie, macht als Handelsvertreter Karriere. Seinen Träumen nachjagend, verlässt er die Familie, trifft im Berliner Hotel Adlon mit Großindustriellen zusammen, die angeblich sein Luftschiff-Projekt fördern wollen. Er baut in ihrem Auftrag in Spanien eine Landebahn, muss jedoch erkennen, dass er betrogen wurde und die Landebahn den deutschen Truppen im Spanischen Bürgerkrieg dienen soll...
Regie: Rainer Simon
Rainer Simon (* 1941) schuf mit seinen künstlerisch-wertvollen und anspruchsvollen Produktionen bleibende Filme. Vielfach kämpfte der Regisseur im Verlauf seiner Karriere gegen Restriktionen an. Eine Reihe seiner Filmideen wurde nicht realisiert oder von anderen Regisseuren verwirklicht. Mit seinen Werken beabsichtigte Simon nicht nur in die Gefühlswelt des Publikums vorzudringen, sondern auch zum Nachdenken anzuregen. Die Möglichkeiten des Einzelnen, sich in der Gesellschaft zu verwirklichen, wurde dabei zu einem seiner Hauptthemen. Zu den bekanntesten Filmen des Regisseurs zählen die Satire TILL EULENSPIEGEL (1974), die Familienchronik WENGLER & SÖHNE (1986) und der Alexander-von-Humboldt-Film DIE BESTEIGUNG DES CHIMBORAZO (1988/89), der unter schwierigen Umständen in den Bergen Ecuadors gedreht wurde. Seinen größten Erfolg feierte er 1985 mit der Literaturverfilmung DIE FRAU UND DER FREMDE, die im Wettbewerb der 35. Berlinale mit dem Goldenen Bären als Bester Film gewürdigt wurde.
Literaturverfilmung
DAS LUFTSCHIFF basiert auf dem gleichnamigen Roman des in Bilbao geborenen Schriftstellers Fritz Rudolf Fries (1935–2014). Fries erfand die Figur des Stannebeins in Anlehnung an seinen eigenen Großvater. Das Buch erschien erstmals 1974 im Rostocker Hinstorff-Verlag. Später bearbeitete Fries den Stoff für eine Filmerzählung, die über den Dramaturgen Manfred Hocke an Rainer Simon herangetragen wurde. Simon glaubte zunächst nicht an die Umsetzbarkeit des Projekts, dessen Handlung ohne einen positiven Helden auskommt. Doch wurden ihm aus kulturpolitischer Richtung diesmal keine Steine in den Weg gelegt. Die Dreharbeiten fanden zwischen dem 26. Februar und 7. August 1982 unter anderem in Spanien statt.
Zum Teil in Spanien gedreht
Die Buchvorlage des LUFTSCHIFFS spielt überwiegend in Spanien. Für Rainer Simon war klar, dass für ein authentisches Bild zumindest einige Szenen dort entstehen müssen. Da sich das ZDF frühzeitig die westdeutschen Fernsehrechte an der Produktion sicherte, stand genügend Westgeld zur Verfügung, um die Dreharbeiten im westlichen Ausland zu realisieren. Teile des Films entstanden an der baskischen Küste im Norden des Landes, u.a. in Bilbao und San Sebastián. Der im Film enthaltene Stierkampf wurde in der Stadt Santander dokumentarisch festgehalten. Weitere in Spanien spielende Innenaufnahmen wurden auf dem Studiogelände in Babelsberg realisiert. Viele Rollen konnten mit Chilenen besetzt werden, die nach dem Militärputsch 1973 in die DDR emigriert waren. Der chilenische Autor und Schauspieler Victor Carvajal ist hier in seiner größten DEFA-Rolle zu sehen.
Erste Kinohauptrolle für Jörg Gudzuhn
Jörg Gudzuhn spielte mit dem Fantasten und Träumer Franz Xaver Stannebein seine erste Hauptrolle in einer DEFA-Produktion. Zu diesem Zeitpunkt konnte der Schauspieler bereits auf eine langjährige Theaterlaufbahn in Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt), Potsdam und am Berliner Maxim-Gorki-Theater zurückblicken. Dort feierte er 1982 mit seiner Darstellung des McMurphy in einer Inszenierung von „Einer flog über das Kuckucksnest“ einen großen Erfolg. Auch für sein vielseitiges Spiel in DAS LUFTSCHIFF erhielt Gudzuhn positive Resonanz. In den Folgejahren sollten weitere große DEFA-Rollen folgen: In Lothar Warnekes EINE SONDERBARE LIEBE (1984) und in Bernhard Stephans FAHRSCHULE (1985/86) bewies er zwei Mal sein komödiantisches Talent. Nationale und internationale Darstellerpreise erhielt Gudzuhn für seine hochgelobte Interpretation des Hans Fallada in Roland Gräfs FALLADA – LETZTES KAPITEL (1988).
Ohne Rücksicht auf Verluste
Während der Vorbereitungen für DAS LUFTSCHIFF liefen noch die sich über Jahre hinziehenden politischen Diskussionen um Simons vorheriges Filmprojekt JADUP UND BOEL (1980/81). Dem Gegenwartsfilm wurde 1981 die staatliche Zulassung verweigert. Erst 1988 durfte der Film mit wenigen Kopien in der DDR gezeigt werden. Rainer Simon war aufgrund dieser Erfahrungen überrascht, dass er für DAS LUFTSCHIFF im westlichen Ausland drehen durfte. Sogar seine Familie – Tochter Jana übernahm eine kleine Rolle – begleitete ihn nach Spanien. In einem Zeitzeugengespräch erinnert sich Simon: „Man könnte denken, die haben uns dahingeschickt, damit wir abhauen“. Ein Nichtzurückkehren in die DDR kam für den Filmemacher jedoch nicht in Frage. Vielmehr wollte er in Zusammenarbeit mit seinem langjährigen Kameramann Roland Dressel als Reaktion auf das Verbot von JADUP UND BOEL ein künstlerisch-experimentelles Werk vorlegen, dass im DEFA-Spielfilm seinesgleichen sucht – „Ohne Rücksicht auf Verluste“ wie er später feststellte. Dafür sicherte sich Simon u.a. die Dienste des renommierten Komponisten für moderne Musik Friedrich Goldmann und des Animationsfilmers Lutz Dammbeck.
Animation: Lutz Dammbeck
Lutz Dammbeck, der ab Mitte der 1970er-Jahre am Dresdner Studio für Trickfilme mit experimentellen Kurzfilmen Aufmerksamkeit erregte – darunter DER MOND (1975/76), LEBE ! (1976/77) und EINMART (1980/81) – zeichnete in DAS LUFTSCHIFF für einige beachtenswerte Animationssequenzen verantwortlich. In seiner Laudatio für Rainer Simons Lebenswerk-Preis erinnert sich Dammbeck im Dezember 2021 an die Arbeit: „Rainer (stellte sich) vor, dass ich, wie in meinen Experimentalfilmen, mit Non-Camera-Technik, also direkt auf das Filmnegativ oder -positiv innere Vorgänge der Protagonisten zeichnen oder malen sollte. Ich erhielt jeden Tag per Kurier aus dem Kopierwerk die frischgedrehten Muster als Lavendel, sprich Duplikat-Positiv, und bearbeitete die dann Bild für Bild auf meinem Lichttisch mit Feder, Tusche, Radiernadel, Schwamm und Drahtbürste. Das wurde von einem Fahrer am nächsten Tag wieder abgeholt, und ins Kopierwerk gefahren. Am Ende waren einige meiner Non-camera Sequenzen im fertigen Film. Zu wenige, wie ich etwas enttäuscht bei der Abnahmevorführung im wieder vollbesetzten Babelsberger Studiokino fand.“
Echo
Die Filmemacher waren sich bewusst, dass die künstlerisch-anspruchsvolle Verfilmung mit ihren vielen Zeitebenen sowie Vor- und Rückblenden kein Massenpublikum ansprechen wird. Die Besucherresonanz in den DDR-Kinos blieb verhalten. Die SED-Parteizeitung „neues deutschland“ stand dem Film ablehnend gegenüber. „In dem Film werden Zeit und Raum gegeneinandergesetzt, hüpfen und springen die Szenen vor und zurück, bleiben Figuren schemenhaft, erhellen Metaphern nicht die Vorgänge, sondern verdunkeln eher“ heißt es in einer Filmkritik von Horst Knietzsch. Positive Beachtung fand neben den darstellerischen Leistungen die Kameraarbeit von Roland Dressel. Der Film strotzt vor visuellen Einfällen. Dressel wurde auf dem 3. Nationalen DDR-Spielfilmfestival mit dem Preis für die Beste Kamera bedacht. Rainer Simon bemühte sich nach dem Rückzug von Frank Beyers DER AUFENTHALT intensiv darum, DAS LUFTSCHIFF im Wettbewerb der Berlinale zu platzieren. Warum ihm dies nicht gelang, konnte er Jahre später in seinen Stasi-Unterlagen nachlesen: „Durch geeignete Maßnahmen im Zusammenwirken mit leitenden Studiomitarbeitern wurden Voraussetzungen zur Unterbindung dieses Vorhabens geschaffen, um vorbeugend jegliche Publizierung Simons im Westen zu verhindern.“ (vgl. Rainer Simon in „Fernes Land“, S. 210f.)
verfasst von Philip Zengel. (Dezember 2021)