Denk bloß nicht, ich heule
Am 17. Februar 2021 feiert Herbert Köfer seinen 100. Geburtstag. Die DEFA-Stiftung gratuliert dem derzeit weltweit ältesten, aktiven Schauspieler von Herzen zu seinem Ehrentag. Bei ICESTORM erschien anlässlich des Jubiläums eine DVD-Edition mit vier DEFA-Filmen, die Herbert Köfer in wichtigen Rollen zeigen. Den Verbotsfilm DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE (1965) stellen wir als DEFA-Film des Monats vor.
Kurzinhalt
Aufgrund diverser Provokationen wird der einstige Musterschüler Peter Naumann (gespielt von Peter Reusse) der Erweiterten Oberschule verwiesen. Nach dem Tod seines Vaters (Harry Hindemith) verfügt Peter zwar über eine größere Menge Geld, ist jedoch ohne Perspektive. Zu seiner wichtigsten Begleiterin wird Mitschülerin Anne (Anne-Kathrein Kretzschmar), mit der er über die Zukunft philosophiert. Anne vermittelt ihm den relevanten Abiturstoff, den er in der Schule verpasst. Beide hoffen, dass Peter die Prüfungen als externer Schüler ablegen darf. Schuldirektor Röhle ( Herbert Köfer) verweigert sich dieser Idee. Peter beschließt Rache zu nehmen…
Produktionsnotizen
DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE entstand in der Künstlerischen Arbeitsgruppe (KAG) „Heinrich Greif“ nach einem Drehbuch des Autorengespanns Manfred Freitag und Joachim Nestler. Zunächst trug das Skript den Titel „Unterwegs zu den Sternen“. Für ihr Buch recherchierten die Autoren u.a. in Jugendwerkhöfen und Lehrlingsheimen. Im August 1964 begannen die Dreharbeiten, die überwiegend in Weimar und Umgebung stattfanden. Regisseur Frank Vogel äußerte sich 1990 in einem Gespräch mit Hannes Schmidt zur Wahl des Drehortes: „Wir siedelten die Handlung in Weimar an, einem Ort, wo deutsche Geschichte geradezu gebündelt vorhanden war.“ Gedreht wurde u.a. auf dem Theaterplatz, im Goethe-Haus, im Hotel „Elephant“ am Marktplatz. Einprägsamster Drehort war die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald.
Herbert Köfer bei der DEFA
Der in Berlin geborene Herbert Köfer (* 1921) erlernte nach einer abgebrochenen Kaufmannsausbildung den Schauspielberuf an der Schauspielschule des Deutschen Theaters. Seinen ersten DEFA-Filmauftritt hatte Köfer in einer kleinen Rolle in Georg C. Klarens DIE SONNENBRUCKS (1951). Seine erste größere Rolle folgte in Curt Bois’ Komödie EIN POLTERABEND (1955) als lispelnder Rittmeister von Blötzow. Dem Publikum blieb er 1962 als SS-Hauptsturmführer Kluttig in der Frank-Beyer-Verfilmung NACKT UNTER WÖLFEN nachhaltig in Erinnerung. 1965 war Köfer an zwei Filmen beteiligt, die im Zuge des 11. Plenums verboten wurden: neben der Darstellung des Rektors Röhle in DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE, spielte Köfer den Ganoven Heuschnupf in Hans-Joachim Kasprziks Gangster-Komödie HÄNDE HOCH ODER ICH SCHIESSE. Bis Mitte der 1980er Jahre blieb Köfer in zahlreichen Nebenrollen bei der DEFA aktiv. Er bediente nahezu alle gängigen Filmgenres: war zu sehen in Kriminal- und Musikfilmen, zahlreichen Komödien, sowie im Märchen- und Indianerfilm.
Das 11. Plenum und die Konsequenzen
DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE wurde in Folge des 11. Plenum des Zentralkomitees der SED nicht zum offiziellen Kinostart zugelassen. Bereits im Vorfeld des Plenums (16. bis 18. Dezember 1965) wurde der Film im Rahmen mehrerer Testvorführungen mit Jugendlichen und Lehrern kritisiert. Einer der Vorwürfe lautete, dass der Film kein realistisches Bild der sozialistischen DDR-Jugend zeichne. Die im Zuge des 11. Plenums festgesetzten Sanktionen am DEFA-Spielfilmstudio wurden noch im Dezember 1965 eingeleitet. Die Regisseure Kurt Maetzig, Günter Stahnke und Frank Vogel, deren Filme bereits im unmittelbaren Umfeld des Forums von Verboten betroffen waren, wurden mit Gehaltskürzungen belegt. Auch Arbeitsverbote und Strafversetzungen wurden diskutiert und im Fall Stahnkes umgesetzt. Bis Oktober 1966 waren zwölf DEFA-Produktionen von einem Verbot betroffen – fast eine gesamte Jahresproduktion. Mehrere hochrangige Personen der Studioleitung wurden entlassen und mit Berufsverboten belegt, darunter Joachim Mückenberger (Direktor) und Klaus Wischnewski (Leiter der KAG „Heinrich Greif“). Das Plenum markierte die größte Zäsur der DDR-Filmgeschichte: Das Filmschaffen wurde um Jahre zurückgeworfen. Der Anschluss an die verschiedenen internationalen, filmkünstlerischen Strömungen der „Neuen Wellen“ war verpasst.
Regie: Frank Vogel
Frank Vogel (1929–1999), der sein Handwerk an der Moskauer Filmhochschule lernte, verwirklichte in den früheren 1960er Jahren einige bedeutsame DEFA-Produktionen, darunter den Science-Fiction-Film DER MANN MIT DEM OBJEKTIV (1961) und die im Umfeld des Mauerbaus spielende Produktion ...UND DEINE LIEBE AUCH (1962). Die Erlebnisse rund um das Verbot von DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE trafen den Regisseur hart. Durch eine schriftliche, erniedrigende Abbitte bei der Parteileitung des DEFA-Spielfilmstudios entging er einem Berufsverbot: „Ich bin überzeugt, daß schon im Ansatz eine Gefahr vorhanden war, die von uns nicht erkannt wurde, und die schließlich durch eine Reihe von Umständen zu einem schädlichen Ergebnis führte (...) nur die ehrliche Analyse unser Fehler befähigt uns, Ähnliches in Zukunft zu vermeiden.“ Mit DAS SIEBENTE JAHR (1968) gelang Vogel nochmals ein vielbeachteter DEFA-Gegenwartsfilm. Die zeitlichen Abstände zwischen seinen Filmprojekten wurden jedoch zunehmend größer. Acht Jahre vergingen nach Vogels vorletztem DEFA-Film EINE HANDVOLL HOFFNUNG (1977), bevor er sein letztes Filmprojekt, die Komödie DIE GÄNSE VON BÜTZOW (1985), realisierte. Danach drehte Vogel keine Filme mehr. 1990 stand er im Zuge der Premiere der restaurierten Fassung von DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE ein letztes Mal in der Öffentlichkeit. Anschließend zog er sich aufgrund einer schweren Erkrankung ins Privatleben zurück.
Rekonstruktion 1990
DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE wurde unmittelbar nach dem Mauerfall rekonstruiert. Dass das Vorhaben in kürzester Zeit umgesetzt und der Film bereits im Januar 1990 in einer Vorpremiere in der Akademie der Künste präsentiert werden konnte, war insbesondere Kameramann Günter Ost zu verdanken. Ost, der auch für den Verbotsfilm KARLA die Kamera verantwortete, hatte bereits seit Sommer 1989 Kenntnis über den Erhalt des Filmmaterials. Die Tochter des Autors Joachim Nestler erhielt zu dieser Zeit die Erlaubnis DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE für eine Studienarbeit zu sichten. Ost selbst sah den Film auf Einladung Christel Gräfs erstmals im Oktober 1989. In der eigentlich bereits fertiggestellten Produktion fehlten Einstellungen und Töne, die aus Rettungsversuchen im Zuge des geplanten Verbots resultierten. Als im November 1989 in einer Konferenz mit Filmminister Horst Pehnert und den beteiligten Filmschaffenden diskutiert wurde, wie es mit den Filmen weitergehen soll, wurde klar, dass weder KARLA-Regisseur Herrmann Zschoche (aufgrund von Drehterminen) noch Frank Vogel (aufgrund seiner Erkrankung) für eine Rekonstruktion zur Verfügung stehen. Mit viel Einsatz und geringen Ressourcen gelang es Günter Ost, der nach dem 11. Plenum, nie wieder als Spielfilm-Kameramann bei der DEFA tätig war, in kürzester Zeit beide Produktionen fertigzustellen.
Echo im Jahr 1990
Die erste Vorführung von DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE in der Akademie der Künste im Januar 1990 fand unter großer medialer Beachtung statt. Kameramann Günter Ost erinnerte sich in einem Gespräch mit Peter Badel zurück: „Am Abend der Vorführung glich die Akademie einem Heerlager: Scharen von Foto- und Filmjournalisten verstopften die Gänge (...) Unsere Darsteller freuten sich über den Zulauf, so sie denn anwesend waren. Anne-Kathrein Kretzschmar, unsere jugendliche Hauptdarstellerin, war extra aus Dresden angereist. Sie hatte den Film bisher nie sehen können.“ Zur anschließenden Diskussion waren auch Schülerinnen und Schüler der Ossietzky-Oberschule in Pankow eingeladen, jener Schule, an deren Schülern 1988 im Zuge der Ossietzky-Affäre ein Exempel statuiert wurde. Der Film mute überhaupt nicht historisch an, hielt eine Zuschauerin im Laufe der Diskussion ihre Eindrücke fest. Vom 9. bis 20. Februar 1990 lief DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE zusammen mit fünf weiteren DEFA-Verbotsfilmen auf Einladung von Erika und Ulrich Gregor in der Sektion Forum der Berlinale.
verfasst von Philip Zengel (Februar 2021)