Die Beunruhigung
Am 1. Februar 2024 feiert Christine Schorn ihren 80. Geburtstag. Anlässlich des Jubiläums ist der DEFA-Spielfilm DIE BEUNRUHIGUNG (R: Lothar Warneke, 1981) unser DEFA-Film des Monats. Am 5. Februar 2024, 19:00 Uhr, präsentiert die DEFA-Stiftung den Film im Berliner Kino Arsenal in Anwesenheit der Schauspielerin.
Kurzinhalt
Die Psychologin Inge Herold (gespielt von Christine Schorn) ist Mitte dreißig, geschieden, hat einen 15-jährigen Sohn und ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann. Als sie erfährt, dass sie möglicherweise einen bösartigen Tumor in ihrer Brust hat und sich am nächsten Tag zur Operation ins Krankenhaus begeben muss, beginnt für Inge Herold eine Lebenskrise. Hat sie ihr Leben vertan? Die sonst so unerschütterliche Frau, die gern die Kontrolle innehat, beginnt zu zweifeln und hinterfragt. Ihr Lebenspartner ist ihr in dieser schwierigen Situation keine Stütze…
Thematisches Neuland
Im Zuge der ersten öffentlichen Vorführungen der BEUNRUHIGUNG soll das Publikum kaum zu anschließenden Diskussionen bereit gewesen sein (vgl. Regine Sylvester, Kino-DDR 2/1982). Die Germanistin Leonore Krenzlin sprach in der Schriftenreihe des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden der DDR ‚Podium und Werkstatt‘ von „kontroversen Stellungnahmen“ nach der Rezeption des Films, die sie vor allem damit erklärt, dass die Frage „welche Haltung angemessen ist gegenüber Leben und Tod (…) bisher im Film nur als Randproblem aufgetaucht (ist)“ – als wenige Beispiele aus dem DEFA-Filmschaffen nennt sie Horst Seemanns REIFE KIRSCHEN (1972) und Egon Günthers DIE SCHLÜSSEL (1973). Bei einer solch geringen Vertrautheit des Publikums mit dem Stoff, sei laut Krenzlin „im Allgemeinen die Neigung groß, sich einerseits betroffen zu fühlen, andererseits aus dieser Betroffenheit heraus gewissermaßen weiterdichten zu wollen, Wunschbilder eines anderen, möglichen Films zu produzieren und so auch ein wenig an dem vorbeizusehen, was der vorliegende Film zu bieten vermag.“
Ein Low-Budget-Film
Die Produktionsgeschichte von DIE BEUNRUHIGUNG ist für einen DEFA-Spielfilm mehr als ungewöhnlich: Unter der Regie von Lothar Warneke (1936–2005) entstand der Film im Frühjahr 1981 an nur 24 Drehtagen, mit kleinem Filmstab und mit Produktionskosten von weniger als einer Million Mark. „Etwas Vergleichbares ist danach [bei der DEFA] nicht mehr versucht worden“ so Produktionsleiter Horst Hartwig rückblickend. DIE BEUNRUHIGUNG wird daher häufig als die einzige Low-Budget-Produktion des DEFA-Spielfilmstudios bezeichnet.
Lothar Warneke: „Ganz nah an der Wirklichkeit“
Die 1964 von Lothar Warneke an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg verfasste Diplomarbeit trägt den Titel „Der Dokumentare Spielfilm“. Früh war der Filmemacher vom italienischen Neorealismus fasziniert und verspürte den Impuls, seine Filme außerhalb der Künstlichkeit eines Filmstudios zu realisieren. So war die Berliner Privatwohnung der Autorin Helga Schubert einer der Hauptdrehorte der BEUNRUHIGUNG. Weitere Originalschauplätze waren u.a. der Theaterkeller des Berliner Ensembles und das Gerichtsgebäude in Berlin-Mitte.
Zudem besetzte Warneke viele kleine Rollen mit Laien. Zahlreiche Dialoge wurden von den Schauspielenden improvisiert. Dadurch komme „eine Menge von echten Verhaltensweisen, an Gestik und Intonation [...] plötzlich hinein“ so Warneke im Gespräch mit Leonore Krenzlin und Dieter Schiller für die Zeitschrift ‚Film und Fernsehen’ (1/1982). Für die Kameraarbeit holte er Thomas Plenert vom Dokumentarfilmstudio ins Team. Plenert drehte ausschließlich mit Schwarz-Weiß-Filmmaterial, um die Tendenz des „freundlich unwahrhaftigen“ eines Farbfilms zu umgehen und – um die Situation für die Laien so natürlich wie möglich zu halten – mit wenig zusätzlichen Lichtquellen.
Szenarium: Helga Schubert
In das Filmszenarium brachte Helga Schubert (* 1940) viele persönliche und berufliche Erfahrungen ein. Das Thema Krebs begleitete sie bereits seit langer Zeit: Mit 16 pflegte sie ihre an Brustkrebs erkrankte Großmutter. „Ich war allein mit ihr, als sie starb“ berichtete Schubert der Journalistin Constanze Pollatschek anlässlich eines Interviews zum Filmstart dem Progress-Pressebulletin. Die Tagebuchaufzeichnungen der früh verstorbenen Autorin Maxie Wander (1933–1977) hinterließen bei Schubert ebenfalls einen bleibenden Eindruck. Bis 1977 arbeitete Helga Schubert hauptberuflich als Psychologin und begann parallel mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit. Auch als Autorin arbeitete sie weiterhin zehn Stunden wöchentlich in einer Familienberatungsstelle. Sie sei jedoch ein ganz anderer Mensch als ihre Filmheldin Inge Herold: „Vor allem, weil ich in meinem Leben nie solche harten Entschlüsse gefällt habe, weil ich mehr zu Kompromissen neige. Bei anderen bewundere ich konsequente Haltungen und habe sie darum meiner Heldin mitgegeben.“ (Kino-DDR, 2/1982)
Mit dem Medium Film kam Schubert erstmals über ein Angebot der Babelsberger Filmhochschule in Berührung. 1975 schrieb sie das Szenarium für die Diplomarbeit von Peter Wekwerth. Zudem realisierte der Regisseur Dietmar Hochmuth seinen Diplomfilm HEUTE ABEND UND MORGEN FRÜH (1979) nach zwei Erzählungen Schuberts und mit Christine Schorn in der Hauptrolle. Helga Schubert war von der Schauspielerin so begeistert, dass sie sie, als die DEFA-Dramaturgin Erika Richter sie zum Szenarium von DIE BEUNRUHIGUNG ermutigte, bereits in der Hauptrolle vor Augen hatte.
Hauptrolle: Christine Schorn
Die 1944 in Prag geborene Schauspielerin Christine Schorn zählt zu den bedeutendsten deutschen Schauspielerinnen. 1965 debütierte sie am Deutschen Theater und erregte in Friedo Solters und Hans-Diether Meves’ „Unterwegs“ nach Wiktor Rosow sogleich Aufmerksamkeit. Dem Theater blieb sie über Jahrzehnte verbunden und feierte dort zahlreiche Erfolge. Trotzdem war sie im Vergleich zu Kolleginnen lange Zeit „weniger berühmt, weniger erkannt, weniger gefragt“ wie die Journalistin Regine Sylvester in einem Porträt über die Schauspielerin 1982 feststellte. Ab den 1980er-Jahren ist Christine Schorn regelmäßiger auf der Leinwand zu sehen, steigert damit ihre Bekanntheit und bleibt auch nach der deutschen Wiedervereinigung eine gefragte Schauspielerin. Zuletzt war sie in Kinoproduktionen von Edward Berger, Emily Atef und Annika Pinske zu sehen. 2019 erhielt sie den Deutschen Schauspielpreis für ihr Lebenswerk.
Schorn und Warneke – ein eingespieltes Team
Im Vergleich zu anderen bekannten Schauspielerinnen aus der DDR drehte Christine Schorn nur wenig bei der DEFA. Bemerkenswert oft arbeitete sie mit Lothar Warneke: Gleich fünf ihrer DEFA-Filmarbeiten entstanden unter seiner Regie. Eine erste Zusammenarbeit ergab sich 1978 für die Georg-Büchner-Biografie ADDIO, PICCOLA MIA. 1980 wirkte Schorn in Warnekes Verfilmung des Brigitte Reimann Romans „Franziska Linkerhand“ UNSER KURZES LEBEN mit. Nach der positiven Resonanz auf DIE BEUNRUHIGUNG versuchte das Gespann den Erfolg mit EINE SONDERBARE LIEBE (1984) zu wiederholen. Eine Nebenrolle übernahm Schorn 1987 in Warnekes Literaturverfilmung BLONDER TANGO nach einem Roman des chilenischen Schriftstellers Omar Saavedra Santis. Anerkennend sagte Lothar Warneke einmal über Christine Schorn: „Sie hat etwas Normales an sich. Sie passt noch zwischen die Leute auf der Straße, ohne dass sie auffällt (...) Als Schauspielerin versteht sie, mit ihren hervorragenden Mitteln bescheiden umzugehen. Das halte ich für eine besondere Kunst des filmischen Schauspielens, das kann nicht jeder.“ (Lothar Warneke im Gespräch mit Regine Sylvester, Kino-DDR 2/1982)
Positives Kritikerecho und internationale Würdigung
DIE BEUNRUHIGUNG stieß in der DDR-Filmkritik auf Begeisterung. Helmut Ulrich lobte den Film als „sehr drängend, sehr lebensecht, ohne gewollte und gewaltsame dramatische Konstruktionen, ohne das Außergewöhnliche, ohne extreme Besonderheiten und Zustände“ (Neue Zeit, 19.2.1982). Auch Günter Sobe zeigte sich in seiner Besprechung tief beeindruckt: „Ich bin Menschen begegnet, denen ich glaube. Ich glaube ihnen ihre Angst und ihre Hoffnung, ich glaube ihnen, wie sie denken und was sie sagen, glaube ihnen ihre Gelassenheit und die Beunruhigung“ (Berliner Zeitung, 23.2.1982). Nicht zuletzt aufgrund der positiven Besprechungen erreichte der Film schnell hohe Besucherzahlen in den DDR-Kinos. Der DEFA-Außenhandel verkaufte den Film zudem nach Polen, Bulgarien, Ungarn, Rumänien und in die ČSSR. Auf dem zweiten Nationalen Spielfilmfestival der DDR wurde DIE BEUNRUHIGUNG mit Preisen überhäuft. Auszeichnungen gab es neben der Regiearbeit von Lothar Warneke und dem Spiel von Christine Schorn auch für Autorin Helga Schubert, Kameramann Thomas Plenert, Schnittmeisterin Erika Lehmphul und Schauspielerin Walfriede Schmitt für die beste Nebenrolle. Am 3. September 1982 lief DIE BERUNRUHIGUNG in Anwesenheit von Lothar Warneke und Helga Schubert im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele in Venedig. Das Neue Deutschland zitierte anlässlich der Vorführung den renommierten italienischen Filmkritiker Morando Morandini mit den Worten „sehr beeindruckend und wichtig als Spiegelbild der gewachsenen Rolle der Frau“ (Neues Deutschland, 4.9.1982).
Verfasst von Philip Zengel. (Januar 2024)