Ein Sonntagskind, das manchmal spinnt
Anfang Juni 2022 erschien Hans Kratzerts DEFA-Kinderfilm EIN SONNTAGSKIND, DAS MANCHMAL SPINNT (1978) nach einer digitalen Restaurierung in neuer Bild- und Tonqualität auf DVD.
Kurzinhalt
Die 10-jährige Kathi Montag (gespielt von Yvonne Dießner) zieht mit ihrem Vater Peter (Hermann Beyer), den sie Petruschka nennt, vom Harz nach Brandenburg. Die Mutter ist bereits verstorben. Kathi ist ein aufgewecktes, offenherziges Mädchen mit großer Fantasie. Von ihren Erlebnissen in Stadt und Schule bringt sie stets viele Geschichten nach Hause. Diese sind so außergewöhnlich, dass sie in der Erwachsenenwelt oft keinen Glauben finden. Auch bei ihren neuen Mitschülern gilt sie als „verdiente Spinnerin des Volkes“. Kathi hat sich zum Ziel gesetzt, ihrem Vater eine neue Freundin zu suchen. Doch auch hier sind Schwierigkeiten vorprogrammiert…
Produktionsnotizen
EIN SONNTAGSKIND, DAS MANCHMAL SPINNT entstand nach dem beliebten DDR-Kinderbuch „Ich bin die Nele“ von Peter Brock. Gedreht wurde zwischen dem 23. August und dem 24. Oktober 1977 überwiegend in Brandenburg an der Havel, zu sehen ist u.a. der Ortskern mit der Roland-Statue am Altstädtischen Rathaus. Weitere Aufnahmen entstanden an der Friedenswarte im Bürgerpark. Premiere feierte die Produktion im Rahmen der 8. DDR-Sommerfilmtage für Kinder am 7. Juli 1978 im „Camping-Kino“ Arendsee, der DDR-Kinostart ist auf den gleichen Tag datiert.
Regie: Hans Kratzert
Hans Kratzert (* 1940) zählt zu den erfolgreichsten Kinderfilmregisseuren der DEFA. Nach seinem Regiestudium in Potsdam-Babelsberg wurde er zunächst Regie-Assistent bei Kurt Maetzig. 1968 legte Kratzert mit dem Krimi MORD AM MONTAG sein Spielfilmdebüt bei der DEFA vor. Da in dem Film auch Kinderdarsteller zu führen waren, kamen die Dramaturginnen Gudrun Deubener und Inge Wüste von der Künstlerischen Arbeitsgruppe „Kinder- und Jugendfilm“ auf Kratzert zu und überzeugten ihn, als nächstes einen Film für Kinder zu drehen. Mit WIR KAUFEN EINE FEUERWEHR (1970) entstand der erfolgreichste DDR-Kinderfilm des Jahres. Im Anschluss inszenierte Kratzert TECUMSEH (1972), einen insbesondere beim jugendlichen Publikum beliebten Film aus der Reihe der „DEFA-Indianerfilme“ mit Gojko Mitić. Ab 1974 widmete sich Kratzert dem Kinderfilm in seiner ganzen Vielfalt: Er drehte mit HANS RÖCKLE UND DER TEUFEL (1974) und DER DRACHE DANIEL (1989) moderne Märchen, verfilmte mit DER WÜSTENKÖNIG VON BRANDENBURG (1973) und DER SCHWUR VON RABENHORST (1986) historische Stoffe und inszenierte mit MEIN VATER ALFONS (1980) ein Kinder-Roadmovie. Wichtig wurden für ihn Stoffe, die in der DDR spielen und in denen sich die jungen Hauptfiguren schwer an ihre Umwelt anpassen können oder wollen. Es entstanden neben EIN SONNTAGSKIND, DAS MANCHMAL SPINNT auch OTTOKAR DER WELTVERBESSERER (1976) und TAUBENJULE (1982). Mit dem Ende der DEFA endete auch Kratzerts filmische Laufbahn als Regisseur, einen weiteren Kinderfilm vermochte er nicht mehr zu drehen.
Wie wurde ein DEFA-Filmkind gecastet?
1988 beschrieb Hans Kratzert, der für die Besetzung seiner jungen Darstellerinnen und Darsteller oft mit viel Lob bedacht wurde, in einem Gespräch mit Dr. Barbara Hejlik, Leiterin der „Filmschule Erfurt“, in „Aus Theorie und Praxis des Films“ (Hrsg. Betriebsschule des DEFA-Spielfilmstudios, Ausgabe 1/88) seine Vorgehensweise beim Kinder-Casting. So wurden, um die Idealbesetzung für eine kindliche Hauptrolle zu finden, durchschnittlich rund 3.000 (!) Kinder gesichtet. Regie-Assistenten und Beschäftigte aus der Kinderbetreuung der DEFA zogen im ersten Schritt durch Schulen der DDR, um nach von der Regie vorgegebenen Merkmalen, Kinder auszuwählen. Basierend auf dieser groben Vorauswahl testete Kratzert die Kinder einzeln und mit einem Zeitlimit von jeweils rund 20 Minuten auf „Spielbegabung, Phantasie, geistige Regsamkeit“. Immerhin noch rund 100 Kinder wurden zu Testaufnahmen unter Studiobedingungen eingeladen. Mit etwas mehr als einem Dutzend Kindern führte er abschließend Proben mit konkreten Spielsituationen vor der Kamera durch, bevor er sich final auf ein Kind festlegte. Laut Kratzert dauerte ein solcher Auswahlprozess im Idealfall sechs bis acht Wochen.
Junge Heldinnen im DEFA-Kinderfilm
Abgesehen von wenigen Ausnahmen, wie NATÜRLICH DIE NELLI! (Konrad Petzold, 1958), CLAUDIA (Walter Beck, 1959) oder CHRISTINE UND DIE STÖRCHE (Jirí Jahn, 1961) waren weibliche Titelhelden bis in die 1970er-Jahre in DEFA-Kinderfilmen rar gesät. Meist dominierten Jungen das Leinwandgeschehen und die Mädchen waren nicht zwingend als Sympathieträgerinnen inszeniert. Erst später gab es zunehmend Versuche, Mädchen als zentrale Figuren in einem Kinderfilm zu etablieren.
Eine Vorreiterin war 1972 die von Anke Schwenn dargestellte Manni in Günter Meyers DIE SQUAW TSCHAPAJEWS, die sich bei einem Abenteuerplanspiel in einer Jungengruppe zu behaupten weiß. Ein Jahr später wurde Monika Wolf von Erwin Stranka als 12-jährige Susanne in dem modernen Märchen SUSANNE UND DER ZAUBERRING besetzt. Das Mädchen erhielt auf den Internationalen Filmfestspielen in Moskau den Preis der Kinderjury als beste Darstellerin. 1979 kürte Regisseur Gunther Scholz Katrin Raukopf in einem DDR-Gegenwartsfilm zu seiner Titelheldin NICKI, die sich nach dem Tod der Mutter zwischen familiären Aufgaben und Schule aufopfert. Noch im gleichen Jahr produzierte die DEFA unter der Regie von Egon Schlegel DAS PFERDEMÄDCHEN nach einem Kinderbuch von Alfred Wellm. Wellms Tochter Märtke übernahm die mit viel Identifikationspotenzial angelegte Hauptrolle der pferdeliebenden Irka.
In den 1980er-Jahren waren regelmäßig Stoffe mit „jungen Heldinnen“ auf dem Produktionsplan des Spielfilmstudios zu finden: 1981 blieben Carmen Sage und Jana Mattukat in Werner Bergmanns DIE DICKE TILLA nachhaltig in Erinnerung. Gleiches galt im Folgejahr für Petra Lämmel in dem international preisgekrönten Werk SABINE KLEIST, 7 JAHRE... von Helmut Dziuba. Auch TAUBENJULE (1982) von Hans Kratzert mit Jördis Hollnagel wurde auf der Berlinale einem internationalen Publikum präsentiert. Sensible Einblicke in die Gefühlswelten eines Flüchtlingsmädchens in einer völlig neuen Umgebung gewährt ISABEL AUF DER TREPPE (Hannelore Unterberg, 1983) mit der Chilenin Irina Gallardo in der Titelrolle. Die im Märchen GRITTA VON RATTENZUHAUSBEIUNS (1984) als Gritta besetzte Nadja Klier blieb auch anschließend dem Filmgeschäft treu. Eine große Portion Witz und Komik gab Nicole Lichtenheldt ihrer Rolle Carola Huflattich in Rolf Losanskys Erfolgsfilm DAS SCHULGESPENST (1986) mit auf den Weg. Für Franziska Alberg ging 1986/87 der Traum tausender DDR-Kinder in Erfüllung – sie durfte mit Jugendidol Gojko Mitić in Jürgen Brauers DAS HERZ DES PIRATEN vor der Kamera stehen. Sehr berührend inszenierte Karl-Heinz Lotz in der Wendezeit seinen Film RÜCKWÄRTSLAUFEN KANN ICH AUCH (1989), über ein 7-jähriges behindertes Mädchen – dargestellt von Peggy Langner –, das in eine reguläre Schule eingeschult wird, dort aber auch mit Problemen zu kämpfen hat.
Beyer, Lubosch, Schmitt uvm. – Bekannte Darstellerinnen und Darsteller
Neben der jungen Heldin wirkten in EIN SONNTAGSKIND, DAS MANCHMAL SPINNT eine ganze Reihe beliebter Darstellerinnen und Darsteller mit. In der Rolle des Vaters ist Hermann Beyer zu sehen, der oft und gern in DEFA-Kinderfilmen größere Rollen übernahm. Sei es als Onkel Jochen in Heiner Carows IKARUS (1975), als Papa Julius in Jürgen Brauers GRITTA VON RATTENZUHAUSBEIUNS (1984) oder als Wolf in Evelyn Schmidts FELIX UND DER WOLF (1987). Neben Beyer bleiben Ute Lubosch als Pionierleiterin, Walfriede Schmitt als Kollegin und Freundin des Vaters und Rita Feldmeier, in einer ihrer frühen Filmrollen, als Frau Dietze im Gedächtnis. Rolf Hoppe gibt einen überzeugenden Lehrer und DEFA-Urgestein Helmut Schreiber mimt in einer kleinen aber wichtigen Szene einen Baggerfahrer.
„Filmfritzen“ im Film
Eine Besonderheit von EIN SONNTAGSKIND, DAS MANCHMAL SPINNT liegt in einer längeren Film-im-Film-Passage, in der Kathi mitten in die Dreharbeiten zu einem historischen DEFA-Film platzt und sogleich in einer kleinen Rolle besetzt wird. Regie führt auch bei diesem fiktiven Film Hans Kratzert, der so zu seinem größten Filmauftritt vor der Kamera kommt. In einer weiteren Traumszene holt Kratzert das Sonntagskind gar per Kleinflugzeug zum Rundflug ab. Auch andere DEFA-Filmschaffende gelangen durch diese Szenen zu einem Cameo-Auftritt – Kameramann Wolfgang Braumann, Kostümbildnerin Barbara Braumann oder Regieassistentin Dorit Albrecht. Lediglich die Rolle des Aufnahmeleiters übernahm mit Günter Schubert ein professioneller Schauspieler. Die Szenen ermöglichten dem jungen Publikum Einblicke hinter die Kulissen eines Filmsets inklusive Drehabläufen und filmspezifischem Vokabular.
Echo
Die Filmkritik beurteilte EIN SONNTAGSKIND, DAS MANCHMAL SPINNT weitestgehend wohlwollend. Positiv hervorgehoben wurde insbesondere das Spiel der Kinderdarstellerin Yvonne Dießner. Ehrentraud Nowotny hob in ihrer Kritik in der Berliner Zeitung vom 10. August 1978 das eingespielte Filmteam um Regisseur Hans Kratzert, Szenaristin Gudrun Deubener, Komponist Günther Fischer und Kameramann Wolfgang Braumann hervor, die allesamt schon für OTTOKAR DER WELTVERBESSERER zusammenarbeiteten. Kathi ist für sie eine „wandlungsfähige Kinderfigur, über die ein Nachdenken sich lohnt.“ EIN SONNTAGSKIND, DAS MANCHMAL SPINNT erreichte im ersten Kinojahr rund 300.000 Besucher in den DDR-Kinos. 1978 wurde der Film auch in die UdSSR, die ČSSR, nach Rumänien, Bulgarien und Kuba sowie an das ungarische Fernsehen verkauft. 1979 war das „Sonntagskind“ auch in Belgien und Luxemburg zu sehen.
Verfasst von Philip Zengel. (Juni 2022)