Einer trage des anderen Last...
DEFA-Film des Monats im Oktober 2021.
Kurzinhalt
Ein Lungensanatorium Anfang der 1950er-Jahre in der DDR. Zwei an Tuberkulose erkrankte junge Männer müssen sich ein Zimmer teilen: Josef Heiliger (gespielt von Jörg Pose), Offizier der Volkspolizei, und Hubertus Koschenz (Manfred Möck), evangelischer Vikar. Beiden fällt es nicht leicht, miteinander auszukommen. Der eine liest Marx und Lenin, der andere die Bibel. Der eine singt die Internationale beim Rasieren, der andere hält mit „Ein feste Burg ist unser Gott“ dagegen. Da ein Zimmerwechsel nicht möglich ist, müssen Heiliger und Koschenz lernen miteinander auszukommen und stellen mit der Zeit Gemeinsamkeiten in ihren Positionen fest.
Hintergrund: Kirche und Staat in der DDR
Das Verhältnis von Kirche und Staat in der DDR war seit jeher belastet. In den frühen 1950er-Jahren ging die staatliche Führung hart gegen die Kirche vor. Zur Durchsetzung eines nichtreligiösen Weltbildes in der DDR-Gesellschaft existierte bspw. kein Religionsunterricht in den DDR-Schulen. Es folgten Phasen des Konflikts und der Entspannung im gegenseitigen Verhältnis. Durch den Mauerbau wurde die Arbeit der DDR-Landeskirchen in der gesamtdeutschen Evangelischen Kirche (EKD) erschwert. Aus Protest gegen die Unterdrückung der Kirche durch den Staat zündete sich 1976 der Pfarrer Oskar Brüsewitz öffentlich an und starb wenige Tage später. Die Kirche blieb jedoch zu jeder Zeit ein fester Bestandteil für Teile der Gesellschaft. Wohl auch deshalb und um Ruhe in die angespannte Beziehung zu bringen, empfing Erich Honecker 1978 Kirchenvertreter zu einem Spitzengespräch mit gegenseitigen Zugeständnissen. In den 1980er Jahren wurde die DDR-Kirche politisch aktiver und wichtiger Ort des Austausches und der Diskussion für Oppositionelle sowie Umwelt- und Friedensaktivisten.
Produktionsnotizen
Die Dreharbeiten erfolgten zwischen März und Juni des Jahres 1987. Gedreht wurde u.a. in der Nähe von Anklam. Als Kulisse für das Sanatorium diente die Wasserburg Müggenburg. Premiere feierte EINER TRAGE DES ANDEREN LAST... am 28. Januar 1988 im Berliner Kino International.
Regie: Lothar Warneke
Lothar Warneke (1936–2005) zählt zu den wichtigsten DEFA-Regisseuren. Mit seinem dokumentarisch anmutenden Spielfilm DIE BEUNRUHIGUNG (1981) setzte er Maßstäbe im DDR-Filmschaffen. Vor seiner filmischen Laufbahn studierte Warneke von 1954 bis 1959 Theologie in Leipzig, meldete sich anschließend aufgrund von Zweifeln jedoch nicht beim Predigerseminar. Zu seinen prägendsten Lehrern wurde in der Leipziger-Zeit Emil Fuchs, dem er EINER TRAGE DES ANDEREN LAST... widmete.
EINER TRAGE DES ANDEREN LAST... war Warnekes erfolgreichster Film und zugleich sein letztes Spielfilmprojekt. Mit der Wiedervereinigung wurde er bei der DEFA entlassen. Ihm gelangen anschließend nur noch zwei Dokumentarfilme, die jedoch kein Interesse bei Fernsehanstalten hervorriefen. Als Dozent gab er in den 1990er-Jahren sein Wissen an der Babelsberger Filmhochschule „Konrad Wolf“ weiter.
Ein autobiografisches Sujet mit langem Atem
Das Filmsujet zu EINER TRAGE DES ANDEREN LAST... lag bereits seit 1973 bei der DEFA. Warneke lehnte den Stoff in seiner damaligen Form ab: „In einem solchen Film müssen beide Seiten gleichberechtigt erscheinen, keiner darf abgewertet und keiner darf bevorzugt werden. Für mich war das Lehrbeispiel Don Camillo und Peppone (Julien Duvivier), wo meiner Meinung nach Don Camillo siegt. Und hier bei uns sollte Peppone siegen. Das war eine Sache, die mir nicht lag.“ Iris Gusner war zunächst für die Verfilmung im Gespräch. Warneke war bereit, als Mentor zur Verfügung zu stehen. Eine Realisierung scheiterte jedoch u.a. am Widerstand des Sekretariats für Kirchenfragen. In den 1980er-Jahren war Lothar Warneke für ein geplantes Filmprojekt über Dietrich Bonhoeffer erneut im Gespräch mit dem Sekretariat, dabei kamen die Gespräche auf EINER TRAGE DES ANDEREN LAST... zurück. Die Zeichen für eine Verfilmung standen in den späten 1980er-Jahren günstiger. Das Drehbuch wurde von Warneke und Szenarist Wolfgang Held grundlegend abgeändert. Das Gespann konnte bei der Arbeit gut von den Erfahrungen des jeweils anderen profitieren: Held war in den 1950er-Jahren Volkspolizist gewesen, Warneke evangelischer Vikar. Der Regisseur erinnerte sich später: „So waren wir beide unsere Fachberater und haben natürlich nicht zugelassen, dass falsche Töne in den Film hineinkamen.“
Gleichgewichtigkeit der Filmfiguren
Die weitreichende Anerkennung von EINER TRAGE DES ANDEREN LAST... mag auch darin begründet liegen, dass beide Seiten – Kirche und Staat – gleichgewichtig behandelt werden. Warneke war es wichtig, dass für keine Seite Partei ergriffen wird, dafür war das Verhältnis Staat-Kirche in seinen Augen zu komplex: „Es war nicht nur von Seiten des Staats gegen die Kirche, es war auch von Seiten der Kirche gegen den Staat. Ich bin Theologie-Student gewesen und weiß, was gegen den Staat unternommen wurde.“ So ist im Film keine Seite der Sieger bzw. der Verlierer. Die Produktion räumt beiden Parteien gleichrangige Denkgebäude ein. Bereits im Szenenbild wird deutlich, dass niemand bevorzugt wird: Das gemeinsame Zimmer von Heiliger und Koschenz ist nahezu symmetrisch ausgerichtet. In Wort- und Bildanteil, in Momenten der Freude und der Trauer, in geäußerten Witzen, Vorschlägen und Ansichten setzt sich diese Gleichgewichtigkeit fort.
Kein Gegenwartsfilm aber ein gegenwärtiger Film
Die Handlung des Films spielt in den 1950er-Jahren. Der zeitliche Abstand zwischen Filmhandlung und Gegenwart ermöglichte es den Filmemachern den Stoff mit einer gewissen Leichtigkeit und Tragikomik umzusetzen. Das kontroverse Thema „Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR“ wurde geschickt in eine Parabel übertragen. Zentrale, allgemeingültige Anliegen der Produktion sind das Bekenntnis zum Miteinander und die Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Der Erfolg des Films scheint auch auf das Bedürfnis nach offener Diskussion in der DDR-Bevölkerung zurückzuführen sein. EINER TRAGE DES ANDEREN LAST... sollte ein Zeichen für die künftige Ko-Existenz von Kirche und Staat setzen.
Echo - ein Film zur richtigen Zeit
EINER TRAGE DES ANDEREN LAST... rief eine riesige Publikumsresonanz hervor: Mehr als 1,5 Millionen Besucherinnen und Besucher sahen den Film in den DDR-Kinos. Kein anderer Film der späten DEFA-Jahre zog vergleichbar viele Menschen an. Die Filmkritik äußerte sich nahezu ausnahmslos positiv. Der kürzlich verstorbene Soziologe Urs Jaeggi urteilte 1988 sogar „Wenn es in der DDR im aktuellen Filmschaffen so etwas wie einen Schlüsselfilm gibt, dann ist es ohne Zweifels Lothar Warnekes EINER TRAGE DES ANDEREN LAST...“ Die Produktion war auf einer Reihe internationaler Filmfestivals präsent. Auf den 38. Internationalen Filmfestspielen Berlin 1988 wurden die beiden Hauptdarsteller Manfred Möck und Jörg Pose mit einem Silbernen Bären geehrt.
Hauptdarsteller: Manfred Möck und Jörg Pose
Manfred Möck (* 1959) und Jörg Pose (* 1959) spielten in EINER TRAGE DES ANDEREN LAST... jeweils ihre erste Hauptrolle in einem Kinofilm. Beide schlossen Anfang der 1980er-Jahre ihr Schauspielstudium ab – Möck in Berlin, Pose in Leipzig – und waren anschließend insbesondere am Theater beschäftigt. Möck war zuvor bereits in kleinen Auftritten in den DEFA-Produktionen DAS LUFTSCHIFF (1982) und JE T’AIME CHÉRIE (1986) zu sehen. 1989 folgte eine weitere Hauptrolle in LASST MICH DOCH EINE TAUBE SEIN, einer Co-Produktion mit Sutjeska film in Sarajevo. Für Jörg Pose blieb EINER TRAGE DES ANDEREN LAST... das einzige DEFA-Engagement. Beide Darsteller sind bis heute in Film, Fernsehen und Theater aktiv.
verfasst von Philip Zengel. (Oktober 2021)