Hälfte des Lebens
Am 20. März 1770 – vor 250 Jahren – wurde der Dichter Friedrich Hölderlin geboren. Anlässlich dieses Jubiläums stellt die DEFA-Stiftung Herrmann Zschoches Hölderlin-Verfilmung HÄLFTE DES LEBENS (1984) in der Rubrik DEFA-Film des Monats vor.
Kurzinhalt
1796 erhält der junge Lyriker Friedrich Hölderlin (gespielt von Ulrich Mühe) eine Anstellung als Hauslehrer im Haus der Frankfurter Bankiersfamilie Gontard. Er unterrichtet die vier Kinder von Jakob Gontard (Michael Gwisdek) und seiner Frau Susette (Jenny Gröllmann). Hölderlin und Susette beginnen eine Affäre. Susette wird zu seiner Diotima, der er in seinem Briefroman Hyperion ein Denkmal setzt. Als Jakob Gontard von der Beziehung erfährt, verweist er Hölderlin des Hauses. Unter der tragisch scheiternden Liebe leiden die Verliebten sehr. HÄLFTE DES LEBENS zeichnet Hölderlins Lebensweg bis ins Jahr 1806 nach.
Hintergrund
HÄLFTE DES LEBENS wurde vom 31. März bis 17. August 1984 überwiegend in Thüringen gedreht. Drehorte waren Wiesenburg bei Eisenach, Rudolstadt, Creuzburg, Ilmenau, Erfurt und die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar. Das DEFA-Sinfonieorchester sorgte unter Leitung Manfred Rosenbergs für die musikalische Gestaltung des Films. Für die historischen Gewänder zeichnete die Kostümbildnerin Anne Hoffmann verantwortlich.
Filmtitel
Der Filmtitel HÄLFTE DES LEBENS bezieht sich auf ein gleichnamiges Gedicht Hölderlins, das zu seinen berühmtesten zählt und erstmals 1804 in der Publikation Taschenbuch für das Jahr des Verlegers Friedrich Wilmans erschien. Der Titel verweist auch auf Hölderlins Biografie: Mit 36 Jahren wird er in eine Nervenklinik eingewiesen. Die zweite Hälfte seines Lebens verbringt er größtenteils in der Turmstube eines Tischlerhaushalts in Tübingen. Die produktive Phase seines Schaffens ist beendet. Der Turm trägt heute den Namen Hölderlinturm, ist Sitz der Hölderlin-Gesellschaft und beherbergt zusammen mit dem angrenzenden Haus eine Hölderlin-Dauerausstellung. Heinz Kersten ergänzt in seinem Artikel Halber Hölderlin in der Frankfurter Rundschau am 6. August 1985: „Symbolisch gemeint ist damit auch, daß sich Hölderlin als Poet, Liebender und Revolutionär immer nur mit Halbem begnügen musste.“
Ein erfolgreiches Doppel: Herrmann Zschoche und Christa Kozik
Autorin Christa Kozik (* 1941) und Regisseur Herrmann Zschoche (* 1934) realisierten zusammen mehrere erfolgreiche Filmprojekte für die DEFA. Beide lernten sich 1970 kennen, als Kozik noch Studentin an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg war. Ihr erstes gemeinsames Projekt wurde der Kinderfilm PHILIPP, DER KLEINE (1976). Bereits ein Jahr später folgte der zum Kultfilm avancierte Jugendfilm SIEBEN SOMMERSPROSSEN. HÄLFTE DES LEBENS wurde 1984 der dritte gemeinsame Film. Kozik verließ dafür den von ihr bevorzugten Kinder- und Jugendfilm. In dem Band Spur der Filme hält sie fest: „Es war für mich natürlich ein Wagnis. Aber da ich immer ein gründlicher Mensch war, habe ich sieben Jahre Hölderlin studiert, ehe ich gewagt habe, das erste Filmexposé zu schreiben.“ Auch Zschoche begegnete Hölderlin mit Respekt und Unsicherheit. Anna Luise Kiss zitiert den Regisseur in ihrem Buch Jede Menge Perspektiven bezugnehmend auf ein persönliches Gespräch im Jahr 2013 mit den Worten: „Gelingt dir das denn? Bist du bescheuert? Musst doch nicht ganz bei Trost sein, dich da ranzuwagen.“ Der letzte gemeinsame DEFA-Film des Gespanns wird 1988 der Jugendfilm GRÜNE HOCHZEIT.
Die Darsteller: Ulrich Mühe und Jenny Gröllmann
Ulrich Mühe (1953–2007) verleiht Friedrich Hölderlin in HÄLFTE DES LEBENS ein sensibles, melancholisches Gesicht. Nachdem Mühe, der primär am Deutschen Theater in Ost-Berlin spielte, bereits in OLLE HENRY (Ulrich Weiß, 1983) und DIE FRAU UND DER FREMDE (Rainer Simon, 1984) kleinere Filmauftritte hatte, war die Rolle des Hölderlin sein erstes großes DEFA-Engagement. 1989 folgte eine weitere Hauptrolle an der Seite von Ulrike Krumbiegel in Jürgen Brauers SEHNSUCHT. Auch Jenny Gröllmann (1947–2006) wirkte in der DDR primär am Theater. 26 Jahre lang war sie bis 1992 am Berliner Maxim-Gorki-Theater engagiert. Parallel sieht man sie ab 1967 in kleineren und größeren Rollen bei der DEFA, u. a. in ICH WAR NEUNZEHN (Konrad Wolf, 1967), KENNEN SIE URBAN? (Ingrid Reschke, 1970), DIE FLUCHT (Roland Gräf, 1977) und ISABEL AUF DER TREPPE (Hannelore Unterberg, 1983). HÄLFTE DES LEBENS bleibt ihre letzte DEFA-Rolle.
Echo
Presse und Publikum urteilten überaus positiv über HÄLFTE DES LEBENS. Im Rahmen des 4. Nationalen Spielfilmfestivals der DDR 1986 in Karl-Marx-Stadt wird der Film mit dem Publikumspreis „Großer Steiger“ für den wirkungsvollsten Film bedacht. Ulrich Mühe erhält im gleichen Jahr den Kritikerpreis „Die große Klappe“ für die beste männliche Darstellerleistung in einer Filmproduktion der DDR. Ebenfalls 1986 läuft Zschoches Film in der Sektion Panorama der Internationalen Filmfestspiele in West-Berlin. 2014 werden Christa Kozik und Herrmann Zschoche für ihre Leistung mit dem Hölderlin-Ring ausgezeichnet.
Verfasst von Philip Zengel (März 2020)