Rotkäppchen
Die 1962 unter der Regie des Opernregisseurs Götz Friedrich entstandene DEFA-Märchenverfilmung ROTKÄPPCHEN ist seit dem 4. August 2023 erstmals auf Blu-ray in der Edition Filmjuwelen verfügbar. Wir stellen den Film zu diesem Anlass als DEFA-Film des Monats vor.
Die Neuerscheinung markiert den Auftakt für zahlreiche Veröffentlichungen von DEFA-Märchen sowie bei der DEFA synchronisierten osteuropäischen Märchenverfilmungen. Sämtliche Editionen verfügen über umfangreiches Bonusmaterial, so enthält die ROTKÄPPCHEN-Ausgabe die gleichnamige Verfilmung des DEFA-Studios für Trickfilme von Otto Sacher von 1976/77 sowie Ausschnitte aus einem Zeitzeugengespräch mit Rotkäppchen-Darstellerin Blanche Kommerell und ein filmhistorisches Booklet von Rolf Giesen.
Kurzinhalt
Am Rand eines großen Waldes lebt ein Mädchen mit seiner Familie. Aufgrund seiner roten Kappe wird es von allen nur Rotkäppchen genannt. Die Großmutter des Mädchens wohnt auf der anderen Seite des Waldes. Bei ihren Spaziergängen zur Großmutter freundet sich Rotkäppchen mit den Tieren des Waldes an. Ihr engster Freund wird ein kleines Häschen. Auch zu einem tollpatschigen Bären hat Rotkäppchen eine enge Bindung. Doch nicht alle Tiere sind dem Mädchen freundlich gesinnt: Wolf und Fuchs schmieden Pläne, wie sie Rotkäppchen und Häschen in einen Hinterhalt locken können. Bevor Rotkäppchen sich auf den Weg zur Großmutter macht, gibt die Mutter ihrem Kind nicht ohne Grund den Rat, dass es nicht vom rechten Wege abkommen solle...
Produktionsnotizen
Sämtliche Kulissen des ausschließlich im Atelier gedrehten Märchenfilms standen in der Mittelhalle des DEFA-Studios für Spielfilme in Potsdam-Babelsberg. Die Dreharbeiten erfolgten zwischen dem 5. Juli und dem 15. Dezember 1961. Das ursprünglich geplante Ende der Dreharbeiten am 4. Oktober verzögerte sich aufgrund von beruflichen Verpflichtungen des Regisseurs am Theater, einer Mumps-Erkrankung der Hauptdarstellerin sowie einer Kontingentierung des Stroms in den Sommermonaten. Die Premiere fand am 13. Juli 1962 im Rahmen des internationalen Kinderzeltlagers „Kim Ir Sen“ in Prerow auf dem Darß in Anwesenheit der Darstellerinnen und Darsteller statt.
Drehbuch vom stellvertretenden DDR-Kulturminister
Das Drehbuch verfasste der frühere Hauptdirektor des DEFA-Spielfilmstudios Hans Rodenberg (1895–1978), der zum Zeitpunkt der Stoffentwicklung und Dreharbeiten stellvertretender DDR-Kulturminister und Mitglied im ZK der SED war. Für die Verfilmung von ROTKÄPPCHEN führte Rodenberg Aspekte aus verschiedenen Überlieferungen des Märchens zusammen und berief sich neben der Fassung der Brüder Grimm auch auf den sowjetischen Schriftsteller Jewgeni Schwarz. Bereits Mitte der 1950er-Jahre war Rodenberg als Intendant des „Theaters der Freundschaft“ in Berlin-Lichtenberg für eine Inszenierung von Schwarz’ Rotkäppchen-Erzählung verantwortlich gewesen.
Dem filmischen Drehbuch legte Rodenberg unter der Überschrift „Beschreibung eines Films“ ein mehrseitiges Konzept bei, indem er u.a. sein aus Grau- und Brauntönen konzipiertes Farbschema beschrieb: „Die Farben der Natur werden assoziativ, jedoch nicht naturalistisch gewählt und eingesetzt. Jeder Schauplatz hat einen vorherrschenden Grundton, sodass sich im Ablauf des Films ein bestimmter Farbrhythmus ergibt, indem er Inhalt und Stimmung verdeutlicht, zugleich den dramaturgischen und ästhetischen Sinn von Farbe empfinden und sehen lehrt.“ Dieses Farbkonzept findet sich in den im Filmmuseum Potsdam überlieferten Szenenbildentwürfen von Georg Wratsch wieder, wurde im Film aber nicht in der gleichen Konsequenz umgesetzt.
Mehr über die Szenografie in den DEFA-Märchenfilmen erfahren Sie im Buch Von wahren Kunstwelten der Autorin Corinna Alexandra Rader.
Ein Kinderstar: Blanche Kommerell
Für die Rolle des Rotkäppchens sprachen mehr als 300 Kinder vor. Besetzt wurde letztlich Blanche Kommerell (* 1950), deren Mutter Ruth (1923–1986) bereits eine bekannte Schauspielerin war. Schon im Kleinkindalter stand Blanche Kommerell auf der Theaterbühne und spielte am Maxim-Gorki-Theater und am Deutschen Theater in Berlin. Das ROTKÄPPCHEN war ihre erste Hauptrolle beim Film. Bis heute denkt die Schauspielerin gerne an die Dreharbeiten zurück – die jedoch auch sehr anstrengend für die Elfjährige waren. In einem im Auftrag der DEFA-Stiftung geführten Zeitzeugengespräch berichtet Kommerell, dass die actionreichen Szenen, wie beispielsweise der Kampf mit dem Wolf, ihre liebsten gewesen seien.
Über ihre gesamte weitere Schulzeit war Blanche Kommerell in Film und Fernsehen präsent – eine Seltenheit unter den DDR-Filmkindern. Besonders in Erinnerung geblieben sind ihr die Fernsehinszenierungen MARIANA PINEDA (R: Wolf-Dieter Panse, 1963) mit Gisela Rimpler und ROSE BERND (R: Fred Mahr, 1964) mit Ursula Karusseit sowie ihre Nebenrolle im ersten „DEFA-Indianerfilm“ DIE SÖHNE DER GROSSEN BÄRIN (R: Josef Mach, 1965) an der Seite ihrer Mutter Ruth. Nach dem Abitur kehrte Blanche Kommerell der Schauspielerei zunächst den Rücken zu und studierte an der Humboldt-Universität in Berlin. Ab Mitte der 1970er-Jahre spielte sie an verschiedenen Theaterbühnen. Ihre bekannteste Filmrolle war die Jüdin Rosa Frankfurter in Frank Beyers oscarnominierten Spielfilm JAKOB DER LÜGNER (1974).
Götz Friedrich: Ein musikalischer Regisseur
Die Regie für das ROTKÄPPCHEN lag in den Händen des Opernregisseurs Götz Friedrich (1930–2000), der damit den einzigen Film in seiner beruflichen Laufbahn inszenierte. Friedrich war Schüler von Walter Felsenstein und führte über viele Jahre an der Komischen Oper in Berlin Regie. In den 1960er-Jahren war er für zahlreichen Inszenierungen im Ausland – auch in der BRD – verantwortlich. Von einem Gastspiel in Stockholm kehrte er 1972 nicht mehr in die DDR zurück. Später war er langjähriger Intendant der Deutschen Oper in Berlin.
Mit der Wahl des Regisseurs spielte die Musik in der ROTKÄPPCHEN-Verfilmung eine wichtige Rolle. Ähnlich zu Sergej Prokofjews musikalischem Märchen „Peter und der Wolf“ erhielt jedes Tier ein musikalisches Thema. Eingespielt wurde die Musik vom DEFA-Sinfonieorchester unter der Leitung von Karl-Ernst Sasse. Das von Rotkäppchen und ihrem treuen Begleiter ‚Häschen’ mehrfach angestimmte Lied wurde von Heidi Nickel und Achim Hennecke eingesungen. Im Inszenierungsstil und in der Wahl gestalterischer Mittel, wie der Pantomime, blieb Friedrich bei seinem einmaligen Ausflug zum Film, dem Theater treu.
Schauspieler in Tierkostümen
Gleich mehrere gestandene Schauspieler lassen sich in ROTKÄPPCHEN nur durch einen Blick in die Besetzungsliste identifizieren. In die Rolle des Wolfes war Werner Dissel zu sehen, Ernst-Georg Schwill schlüpfte ins Bärenkostüm und Harald Engelmann verkörperte den listigen Fuchs. Den Hasen mimte das Filmkind Jochen Bley. Für die Schauspieler waren die Dreharbeiten mit einigen Anstrengungen verbunden. Das Anlegen der für den Film konzipierten Tierkostüme und die Maske nahm mehrere Stunden in Anspruch. Auch die hohen sommerlichen Temperaturen bei zusätzlicher Scheinwerfereinstrahlung im Studio stellten eine Belastung dar. In den Pausen ernährten sich die Darsteller mit Flüssignahrung, da die Kostüme nicht abgelegt werden durften. Zwei Mal musste Ernst-Georg Schwill aufgrund von Überanstrengung einen Arzt aufsuchen. Deutlich einfacher hatten es Friedel Nowack, Helga Raumer und Horst Kube in ihren menschlichen Rollen als Rotkäppchens Familie.
Echo: Zu grausam?
„Ein Märchen für kleine und große Leute“ heißt es zu Beginn des Filmvorspanns – Eine Einschätzung, der nicht alle Pädagogen, die den Film 1962 sahen, folgen wollten. Auch Hauptdarstellerin Blanche Kommerell erinnert sich im Zeitzeugengespräch an zum Teil verängstigte Kinder bei einer Filmvorführung. Bereits im Zuge der staatlichen Abnahme des Films wurde dem Studio empfohlen, jene Szene, in der der Wolf das Rotkäppchen und seine Großmutter frisst sowie die Einstellung, in der die Mutter den Bauch des Wolfes aufschneidet, zu kürzen. Die Kritikpunkte der Pädagogen richteten sich ferner gegen die grausame Darstellung des Wolfes aber auch auf die fehlende Vorbildfunktion des Rotkäppchens. Regisseur Götz Friedrich sah sich gezwungen zu den Vorwürfen in der Zeitschrift „Deutsche Filmkunst“ Stellung zu beziehen: „Mindert man das Grausame (als Gradmesser für die Gefährlichkeit des Bösen) so verharmlost man die Gefahr und macht sie unkenntlich, schwächt die Widerstandskraft des Guten und mindert man die Bedeutung des Sieges über das Böse.“ (1962, S. 346) Hellmuth Häntzsche, Nestor der DDR-Kinderfilmforschung, bat Friedrich für die Sektion Jugend und Film der Deutschen Zentralstelle für Filmforschung zum ergänzenden Interview. Darin verteidigt sich Friedrich: „Ich wüßte – bei aller Selbstkritik gegenüber verschiedenen Mängeln der Regie – im Prinzip keine andere Gestaltungsmöglichkeit als die, die wir versucht haben. Außerdem hat mich die Tatsache, wie in Berlin die Kinder den Film erlebten, positiv überrascht. Ich konnte die genannten Beobachtungen nur vereinzelt, und zwar bei Kindern unter sieben (!) Jahren machen.“ (Filmwissenschaftliche Mitteilungen, Sonderheft 1962, S. 145) Der Debatte zum Trotz zog der Film ein Millionenpublikum in die Kinos.
Verfasst von Philip Zengel. (Juli 2023)