Sterne
Er war Emigrant und Partisan, saß in einer Todeszelle und studierte in Moskau, arbeitete als Drehbuchautor und Regisseur in Ost- wie in Westeuropa. Daneben hat er Romane verfasst. Der bulgarische Schriftsteller und Drehbuchautor Angel Wagenstein wird am 17. Oktober 100 Jahre alt. Zu diesem Anlass stellen wir STERNE (Konrad Wolf), einen der wichtigsten antifaschistischen Spielfilme der DEFA als Film des Monats vor.
Am 17. Oktober, 18:00 Uhr, findet anlässlich des Jubiläums im Berliner Kino Toni eine Sonderausgabe des nd-Filmclubs statt. Präsentiert wird der Dokumentarfilm ANGEL WAGENSTEIN: ART IS A WEAPON (R: Andrea Simon, 2017).
Kurzinhalt
Bulgarien 1943. Wehrmachts-Unteroffizier Walter (gespielt von Jürgen Frohriep) ist in einer Kleinstadt stationiert und beaufsichtigt zivile, bulgarische Arbeiter einer Kfz-Werkstatt. Unweit entfernt werden griechische Juden für wenige Tage in einem Lager untergebracht. Sie sollen nach Auschwitz deportiert werden. Walter lernt die Jüdin Ruth (Sascha Kruscharska) kennen, die ihn durch den Stacheldraht um Hilfe für eine Schwangere bittet. Walter, der von seinem Freund Leutnant Kurt (Erik S. Klein) aufgrund seiner Leidenschaft für die Malerei spöttisch „Rembrandt“ genannt wird, nähert sich Ruth an, führt mit ihr Gespräche über Hoffnungen und Menschlichkeit und entwickelt Gefühle für sie...
Produktionsnotizen
Konrad Wolfs fünfter DEFA-Spielfilm STERNE entstand zwischen dem 24. Juli und dem 1. Dezember 1958 als Co-Produktion der DEFA und dem Spielfilmstudio im bulgarischen Sofia. Gedreht wurde im Südwesten Bulgariens in der Kleinstadt Bansko. Premiere feierte das Werk am 27. März 1959 im „Haus der Berliner Jugend“ in der Klosterstraße sowie im Berliner Kino „Babylon“.
Drehbuch: Angel Wagenstein
Angel Wagenstein (* 1922 in Plowdiw) schuf im Laufe seiner filmkünstlerischen Karriere Drehbücher für bulgarische, tschechische und deutsche Filmproduktionen. In seinem Heimatland übernahm er für zahlreiche TV-Dokumentarfilme die Regie. Für die DEFA schrieb Wagenstein Drehbücher für CHRONIK EINES MORDES (Joachim Hasler, 1964) und EOLOMEA (Herrmann Zschoche, 1972). Mehrfach arbeitete Wagenstein mit Regisseur Konrad Wolf: STERNE (1959) war die erste Zusammenarbeit der beiden Filmschaffenden, die sich bereits während ihrer Studienzeit in Moskau begegnet waren. Der Stoff geht auf ein autobiografisches Ereignis aus Wagensteins Leben zurück. Mit DER KLEINE PRINZ (1966) und GOYA (1971) folgten zwei weitere Projekte, die von einer intensiven und gewinnbringenden Arbeitsgemeinschaft zeugen. Konrad Wolf und Angel Wagenstein blieben bis zu Wolfs Tod eng befreundet. In einem Nachruf in der Zeitschrift „Film und Fernsehen“ äußerte sich Wagenstein über seinen 1982 verstorbenen Freund: „(...) ich werde Dir dankbar bleiben für zwei wichtige Lektionen, die ich von dir erhielt: Lektion in Treue und in Toleranz. Du bist der treueste Mensch, den ich kenne, dabei meine ich sowohl die ‚große’ als auch die ‚kleine’ Treue, die Treue für ein ganzes Leben und für jeden Tag, für jede Stunde des Tages. Ich meine eine Toleranz, die sowohl ästhetische Bereiche wie kleine menschliche Neigungen betrifft.“
2017 feierte der von der US-amerikanischen Regisseurin Andrea Simon realisierte und von der DEFA-Stiftung geförderte, dokumentarische Porträtfilm ANGEL WAGENSTEIN: ART IS A WEAPON Premiere. Im Jahr seines 100. Geburtstags wurde Wagenstein auf dem Internationalen Filmfestival im bulgarischen Sofia für sein Lebenswerk ausgezeichnet.
Regie: Konrad Wolf
Konrad Wolf (1925–1982) zählt zu den wichtigsten Regisseuren der gesamtdeutschen Filmgeschichte. Zwischen 1955 und 1980 schuf er 14 Spielfilme für die DEFA und brachte deutsche Geschichte und Gegenwart auf die Kinoleinwände. Eine 2019 von Antje Vollmer und Hans-Eckardt Wenzel herausgegebene Wolf-Biografie trägt den Titel „Chronist im Jahrhundert der Extreme“. Mehrfach setzte sich Wolf in seinem Werk mit dem antifaschistischen Widerstand, der Judenverfolgung und der Frage nach der ‚deutschen Schuld’ auseinander. Es entstanden die Frühwerke GENESUNG (1956) und LISSY (1957) sowie STERNE (1959), ICH WAR NEUNZEHN (1967) und MAMA, ICH LEBE (1976). STERNE war die erste deutsche Filmproduktion, die sich mit der Verantwortung der Deutschen im Holocaust befasste und zugleich aufzeigte, dass nicht alle Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus jedwede Menschlichkeit verloren hatten. Wolf hielt im November 1958 in einem Interview mit Alexander Tichow für „Iskusstwo kino“ über STERNE fest: „Für mich sind das [Anm. des Autors: Ruth und Walter] die zeitgenössischen Romeo und Julia, Menschen, die der Zukunft angehören, es sind menschlich tragische Gestalten (…) Ich möchte mit diesem Film dem Zuschauer sagen, daß es heute, da sich unsere Feinde unglaubliche Mühe geben, die Völker auseinanderzubringen, ihnen Haß und Abscheu gegeneinander einzuflößen, nicht genügt nur abstrakt-humane Positionen (…) zu beziehen. Durch die Gestalt des Unteroffiziers Walter Gericke wollen der Autor und wir, das Drehkollektiv, versuchen, den Zuschauer davon zu überzeugen, daß es notwendig ist, fest und entschieden eine konkrete und klare Position im Kampf des Neuen gegen das Alte zu beziehen.“
Kraftvolle Bildsprache
Konrad Wolf realisierte nahezu alle seine DEFA-Filme mit dem Kameramann Werner Bergmann (1921–1990). STERNE war bereits die fünfte Zusammenarbeit, für die das Gespann mittels eines optischen Drehbuchs erstmals alle Kameraeinstellungen im Vorfeld plante. Bergmann und Wolf griffen auf ungewöhnliche Perspektiven und Kamerafahrten sowie Überblendungen und weitere formale Experimente zurück. Die DDR-Presse maß Bergmanns Kameraarbeit einen wesentlichen Anteil am Erfolg des Films bei. In der Berliner Zeitung vom 2. April 1959 heißt es würdigend: „daß sich aus der Kameraführung Werner Bergmanns mit der suggestiven Konzentration ihrer optischen Lösungen (...) eine selten erreichte Dichte der Stimmung ergibt.“ Mit mehr als vier Jahrzehnten Abstand sprach der Geschichts- und Kulturwissenschaftler Frank Stern dem Film im Jahr 2002 retrospektiv eine „revolutionäre Bildsprache“ zu.
Drei Sprachen
Als für die damalige Zeit bemerkenswert kann die Tatsache gewertet werden, dass die Filmschöpfer sich gegen eine vollständig deutsche Sprachfassung entschieden. So wechselt der Film zwischen drei Sprachen: Die deutschen Soldaten sowie Ruth und Walter kommunizieren in deutscher Sprache miteinander. Die Juden sprechen untereinander spaniolisch und die Bulgaren bulgarisch. Auch Walter kommuniziert mit den Bulgaren in gebrochenem bulgarisch. Zur Verständlichkeit der Passagen wurden Untertitel gesetzt. Die Vielsprachigkeit sollte laut Konrad Wolf „die Atmosphäre jener Zeit“ widerspiegeln.
Eine Notlösung wird zum Star: Sascha Kruscharska
Sascha Kruscharska war nicht die erste Wahl als Darstellerin der Jüdin Ruth. Favorisiert wurden zunächst Star-Schauspielerinnen wie Haya Harareet, mit der bereits Probeaufnahmen angefertigt wurden und Tatiana Samoilova, die in Michail Kalatosows DIE KRANICHE ZIEHEN (1957) einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Beide standen aufgrund von anderen Rollenangeboten bzw. Krankheit nicht zur Verfügung. Rangel Waltschanow, ein Freund Wagensteins, der als Regieassistent an STERNE mitwirkte, schlug den verzweifelt nach einer passenden Schauspielerin suchenden Filmschaffenden seine damalige Ehefrau, die Schauspielstudentin Sascha Kruscharska vor. Kruscharska wusste bei den Probeaufnahmen zu überzeugen und wurde für ihre Darstellung international gefeiert. Anschließend folgten für sie kaum nennenswerte Filmauftritte. Die Liebe zu einem italienischen Musiker führte sie nach Italien und nach London, wo sie u.a. als Antiquitätenhändlerin arbeitete und ihre filmische Karriere rasch beendete.
Große Bühne in Cannes… für einen bulgarischen Film
STERNE lief 1959 im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele in Cannes. Nachdem zwei Jahre zuvor der DEFA-Spielfilm BETROGEN BIS ZUM JÜNGSTEN TAG (Kurt Jung-Alsen, 1957) nicht in Cannes laufen durfte, führte die Hallstein-Doktrin diesmal dazu, dass STERNE nur als bulgarische Produktion ohne DEFA-Beteiligung ausgewiesen werden durfte. Davon ungeachtet gewann STERNE unter großer internationaler Beachtung den Sonderpreis der Jury. Das Magazin „Der Spiegel“ unterstellte daraufhin in seiner Ausgabe vom 26. Mai 1959 „Manipulation“ und monierte die Zusammensetzung der Jury, die dazu geführt hätte, „daß Westdeutschland in der Diskussion, in der die Preisverteilung buchstäblich ausgehandelt wird, wieder einmal nicht mitreden konnte und es den Interessenvertretern der Ostblockländer möglich war, eine Stimmenmehrheit für den kaschierten DDR-Film zu sammeln.“
Weiteres internationales Echo
Auf vielen internationalen Filmfestivals lief STERNE erfolgreich. In Edinburgh erhielt der Film eine Anerkennungsurkunde, in Wien wurde die Produktion mit einer Goldmedaille bedacht. In insgesamt rund 70 Ländern war STERNE zu sehen. In Bulgarien wollte man STERNE zunächst nicht zeigen. Angel Wagenstein erinnert sich in einem 2003 mit der Autorin Elke Schieber geführten und im Jahrbuch der DEFA-Stiftung 2005 erschienenen Interview zurück, dass „die Verantwortlichen für das bulgarische Kino (...) einen kämpferischen Film (wollten) mit Schießereien, Partisanen, Widerstand, Juden, die sich auflehnten.“ Erst im Jahresverlauf und nach den großen Erfolgen des Films entschied man sich, den Film in Bulgarien zuzulassen. Ab 1960 war der Film auch in der BRD im Kinoeinsatz, wenn auch ohne Schlussszene.
Verfasst von Philip Zengel. (Oktober 2022)