Filmstill zu "Winter adé"

Winter adé

Am 18. Juli 2022 feierte die Dokumentarfilmerin Helke Misselwitz ihren 75. Geburtstag. In Kooperation mit der DEFA-Stiftung bringt absolut MEDIEN zu diesem Anlass in der Reihe „Die großen Dokumentaristinnen“ die DVD-Edition „WINTER ADÉ und andere Klassiker von Helke Misselwitz“ heraus. Veröffentlichungstermin ist der 26. August. WINTER ADÉ, ein offenes Porträt über Frauen in der DDR, ist unser DEFA-Film des Monats.

Kurzinhalt

Filmplakat zu "Winter adé"

WINTER ADÉ

(R: Helke Misselwitz, 1988)

Regisseurin Helke Misselwitz begibt sich für WINTER ADÉ auf eine filmische Fahrt durch die DDR: vom sächsischen Zwickau bis nach Sassnitz auf der Insel Rügen. Auf ihrer Reise lernt die Filmemacherin eine Reihe verschiedener Frauenpersönlichkeiten kennen: die erfolgreiche Werbeökonomin Hiltrud, die alleinerziehende und in einer Brikettfabrik arbeitende Christine, die Punkmädchen Kerstin und Anja, die 85-jährige Margarete, die mit ihrem Mann Diamantene Hochzeit feiert sowie die stellvertretende Bürgermeisterin von Niehagen, Erika Banhardt, die hauptberuflich ein Kinderheim leitet. Sie alle berichten aus ihrem Leben, über Ehe und Familie, die Arbeit, Schicksalsschläge und Perspektiven für die Zukunft.

 Hier finden Sie die kompletten Filmdaten.

Regie: Helke Misselwitz

Die im kleinen Städtchen Planitz vor den Toren Zwickaus aufgewachsene Helke Misselwitz (* 1947) kam über einige Umwege zum Filmemachen. Erst mit Anfang 30 erhielt sie, delegiert von der publizistischen Abteilung des DDR-Jugendfernsehens, einen der begehrten Studienplätze für Regie an der Hochschule für Film- und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg und lernte dort bis 1982. Eine Rückkehr zum Fernsehen kam für Misselwitz aufgrund fehlender künstlerischer Freiheiten nicht in Frage. Sie machte sich selbstständig und finanzierte ihren Lebensunterhalt zunächst mit Gelegenheitsjobs. In der Produktionsgruppe „kinobox“ beim DEFA-Studio für Dokumentarfilme ergaben sich für sie erste Regieaufgaben. Es entstanden Werke wie AKTFOTOGRAFIE – Z.B. GUNDULA SCHULZE (1983), 35 FOTOS (1985) oder TANGOTRAUM (1985). Mit WINTER ADÉ realisierte die Dokumentaristin ihren ersten Langfilm. In der Wendezeit folgten weitere dokumentarische Werke bei der DEFA: In WER FÜRCHTET SICH VORM SCHWARZEN MANN (1989) porträtiert sie Kohlemänner im Prenzlauer Berg; für SPERRMÜLL (1990) begleitete Misselwitz junge Musiker in Ost-Berlin, die mit ausrangierten Gegenständen Musik machen. In den 1990er-Jahren realisiert sie mit HERZSPRUNG (1992) und ENGELCHEN (1996) auch Spielfilme. Intensiv setzte sich die Regisseurin gegen die Zerschlagung des DEFA-Filmbestands und für die Gründung einer DEFA-Stiftung ein. Von 1997 bis 2014 war Misselwitz Professorin für Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg.

Filmstill zu "Winter adé"

Reisebeginn am Zwickauer Bahnhof in WINTER ADÉ (R: Helke Misselwitz, 1988) Fotograf: Thomas Plenert

Filmstill zu "Winter adé"

Ankunft auf Rügen in WINTER ADÉ (R: Helke Misselwitz, 1988) Fotograf: Thomas Plenert

Einblick in die Produktionsgeschichte

Abendfüllende Dokumentarfilme sind im DEFA-Filmbestand eher eine Seltenheit. Die meisten Produktionen des Studios wurden als Kurzfilme produziert, die im Kino vor einem Spielfilm gezeigt werden konnten. In der Regel stand pro Filmjahr nur Budget für zwei dokumentarische Langfilme zur Verfügung. „Ich selbst hätte mich niemals getraut, einen Antrag dafür zu stellen“ erinnert sich Helke Misselwitz später im Gespräch mit Elke Schieber in der Zeitschrift „Film und Fernsehen“. Doch die Studiodirektion forderte Misselwitz nach einer kontroversen Abnahme ihres Kurzfilms 35 FOTOS über das Leben einer Frau, die von ihrem Mann mit zwei Kindern sitzen gelassen wurde, zu einem längeren Film über Frauen in der DDR auf. Das Exposé zu WINTER ADÉ musste die Regisseurin mehrfach auf Wunsch leitender Entscheidungsträger nach deren Vorstellungen überarbeiten. Seine thematische Brisanz erhielt der Film erst im Zuge des Drehprozesses durch die offenen Antworten der verschiedenen Frauen. Beim Dreh war das Filmteam nicht an das vorab formulierte und zur Produktion freigegebene Exposé gebunden. Die sich über den Zeitraum von einem halben Jahr erstreckenden Dreharbeiten erfolgten nach Misselwitz‘ Erinnerungen unter „piratenhaften Bedingungen“, technische Gerätschaften und Fahrzeuge wurden der nicht unter Fertigstellungsdruck stehenden Produktion oftmals erst kurzfristig zugebilligt. Ihre Protagonistinnen lernte die Regisseurin auf unterschiedlichste Weise kennen. Bis heute erinnert sich Helke Misselwitz gern an das erste Aufeinandertreffen mit Margarete Busse zurück, das anderthalb Jahre vor Drehbeginn bei einem Gespräch über den Gartenzaun während eines Urlaubs erfolgte. Bereits damals lud Margarete zur Diamantenen Hochzeit ein.

Original-Kinotrailer zu WINTER ADÉ (R: Helke Misselwitz, 1988)

„Frauen in Berlin“ – ein nicht fertiggestelltes Vorbild?

Ein paar Jahre zuvor hätte in der Babelsberger Filmhochschule ein Dokumentarfilm entstehen können, der WINTER ADÉ möglicherweise geähnelt hätte. Die aus Indien stammende, angehende Filmemacherin Chetna Vora plante 1982 ein Porträt verschiedener Frauen in Berlin, die offen aus ihrem Leben erzählen sollten. Die Hochschulleitung verbot jedoch die Fertigstellung. Das bereits gedrehte Material wurde vernichtet. Den beteiligten Studierenden gelang es unter wagemutigem Einsatz das Material zuvor mit einer VHS-Kamera abzufilmen. Die Überlieferungen konnten 2015 erstmals im Filmmuseum Potsdam vorgeführt werden.

 

 

Filmstill zu "Winter adé"

Margarete Busse berichtet von ihrer Ehe in WINTER ADÉ (R: Helke Misselwitz, 1988) Fotograf: Thomas Plenert

Filmstill zu "Winter adé"

Werbeökonomin Hillu erzählt in WINTER ADÉ (R: Helke Misselwitz, 1988) Fotograf: Thomas Plenert

Frauen im DEFA-Dokfilm der 1980er-Jahre

In der letzten Phase des DDR-Filmschaffens entstand eine Reihe aufschlussreicher Frauenporträts beim DEFA-Dokumentarfilmstudio. Zusammengenommen zeichnen sie ein vielschichtiges Bild über das Leben von Frauen und den Stand der Emanzipation in der DDR. Volker Koepps LEBEN IN WITTSTOCK (1984) zählt zu den erinnerungswürdigsten Produktionen dieser Reihe. Bereits in den 1970er-Jahren begann Koepp die Arbeiterinnen einer Wittstocker Obertrikotagenfabrik über ihr Leben zu befragen und ihre Probleme im Werk zu beleuchten. Mit dem sogenannten Wittstock-Zyklus entstand eine der spannendsten Langzeitdokumentationen der deutschen Filmgeschichte. Frauen, ihr Alltag und ihre unterschiedlichen beruflichen Tätigkeiten waren auch für andere Regisseure ein relevantes Thema: Jürgen Böttcher nahm in DIE KÜCHE (1987) die Köchinnen der Rostocker Neptun-Werft in den Blick, Lew Hohmann porträtierte in ASCHERMITTWOCH (1989) die Kassiererin einer Kaufhalle, Uwe Belz in POSTEN NEUN. NEUMANN. SCHRANKEN GESCHLOSSEN (1980) eine Streckenwärterin am Hafen von Sassnitz, Karl Farber widmete sich in IN DER STRÖMUNG (1982) einer Fährfrau am Flüsschen Mulde, Rainer Ackermann nahm in LIEBE KOLLEGINNEN... (1981) die Arbeiterinnen einer Dresdner Schokoladenfabrik in den Blick. Georg Kilian beleuchtete in IM TUNNEL B (1987) Erfurter Arbeiterinnen in der Mikrochip-Produktion.

Seltener waren es Regisseurinnen, die Frauen porträtierten. Zu den Ausnahmen zählen Petra Tschörtners SCHNELLES GLÜCK (1986), der sich einer Rentnerin widmet, die ihren Lebensunterhalt als Kassiererin auf der Rennbahn in Karlshorst aufbessert. Mit DIE VORZEIGEFRAU (1986) zeigte Róza Berger-Fiedler auf nicht unironische Weise das Leben von Helga Hörz, Leiterin des Bereichs Ethik an der Humboldt-Universität zu Berlin und Vertreterin der DDR in der UNO-Kommission für den Rechtsstatus der Frau. Gitta Nickels Produktion GUNDULA – JAHRGANG 58 (1982), über eine singende Krankenschwester, die mehr vom Leben erwartet als Arbeit und Familie, wurdemehrfach preisgekrönt. Leonija Wuss-Mundeciema schuf mit DIE ÄLTESTE – VERMÄCHTNIS EINER 108-JÄHRIGEN (1987) ein Kurzporträt über die älteste Frau in der DDR – ein Jahrhundertleben.

Filmstill zu "Winter adé"

Arbeiterin Christine in WINTER ADÉ (R: Helke Misselwitz, 1988) Fotograf: Thomas Plenert

Filmstill zu "Winter adé"

Die Punkerinnen Kerstin und Anja in WINTER ADÉ (R: Helke Misselwitz, 1988) Fotograf: Thomas Plenert

An der Kamera: Thomas Plenert

Für die Kamera in WINTER ADÉ zeichnete Thomas Plenert (* 1951). Die Zusammenarbeit zwischen Plenert und Misselwitz für WINTER ADÈ markierte den Beginn einer langjährigen Arbeitsgemeinschaft. Plenert, der seine künstlerischen Vorbilder insbesondere in osteuropäischen Kameramännern wie Sergei Urussewski, Sławomir Idziak, Lajos Koltai oder Vilmos Zsigmond fand, konnte seinen ersten DEFA-Film als Kameramann mit dem angesehenen Regisseur Jürgen Böttcher realisieren – ein früher „Ritterschlag“, wie er später selbst feststellte. Im Laufe seines Schaffens arbeitete er mit zahlreichen weiteren renommierten Regisseuren zusammen – darunter Volker Koepp und Eduard Schreiber. Bereits in Studienzeiten hegte er enge Arbeitsbeziehungen zu Jörg Foth und Rainer Ackermann. Plenert filmte neben zahlreichen dokumentarischen Werken auch mehrere Spielfilme – eine Besonderheit in der Riege der DEFA-Kameramänner. Spielfilmregisseure wie Lothar Warneke schätzten den dokumentarischen Stil, den Plenert mitbrachte.

Filmstill zu "Winter adé"

Rebellion der Jugend in WINTER ADÉ (R: Helke Misselwitz, 1988) Fotograf: Thomas Plenert

Filmstill zu "Winter adé"

Erika in WINTER ADÉ (R: Helke Misselwitz, 1988) Fotograf: Thomas Plenert

Echo

Im Zuge der Filmpremiere im Rahmen der 31. Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche 1988 vor rund 1.000 Gästen im Leipziger Capitol erhielt WINTER ADÉ Szenenapplaus. Der in seiner Offenheit für die Obrigkeiten unbequeme Stoff, sorgte für Aufregung. Publikumsgespräche wurden abgesagt. Ausgezeichnet mit der „Silbernen Taube“ trat der Film anschließend seinen Siegeszug durch die Kinos an. Die Berliner Premiere fand am 2. Februar 1989 im Kino Toni statt. Bereits im Herbst 1989 konnte die Regisseurin zusammen mit Thomas Plenert und Schnittmeisterin Gudrun Steinbrück-Plenert den Film in den USA im Rahmen einer vierwöchigen Tournee einem interessierten Publikum präsentieren. In den Staaten wurden die Filmschaffenden vom Mauerfall überrascht. Über ein eilig gekauftes Radio informierten sie sich über die Geschehnisse in der Heimat und reisten auf schnellstem Wege zurück. Im DDR-Fernsehen war WINTER ADÉ erstmals wenige Tage später am 15. November 1989 zu sehen. 2009 fanden sich ein Großteil der porträtierten Frauen anlässlich einer Wiederaufführung in einer Berlinale-Retrospektive in Berlin zusammen.

Verfasst von Philip Zengel. (Juli 2022)

DVD-Neuheit bei absolut MEDIEN

DVD: Winter adé und andere Klassiker von Helke Misselwitz

Die DVD-Edition enthält eine Vielzahl an hochwertig digitalisierten Werken der Filmemacherin. Neben WINTER ADÉ (1988) ist u.a. WER FÜRCHTET SICH VORM SCHWARZEN MANN (1989) enthalten.

Zur DVD bei absolut MEDIEN
menu arrow-external arrow-internal camera tv print arrow-down arrow-left arrow-right arrow-top arrow-link sound display date facebook facebook-full range framing download filmrole cleaning Person retouching scan search audio cancel youtube instagram